Als die Sonne aufging und ihre Strahlen der düsteren Welt wieder neue Farben verliehen, fand auch Lucy ihren Weg zurück zum Lager. Müde stolperte sie durch den Rind aus Wasser und auf die trockenere Insel.
Das Feuer brannte bereits, wie jeden Morgen, wenn sie frühstückten. Henry und Galileo bewachten einen Spieß, an dem mehrere Brocken Fleisch brieten. Offenbar hatte ihr Hunger die Müdigkeit besiegt.
Kassia hatte sich mit dem Rücken an einem Baumstamm gelehnt und die Augen geschlossen, obwohl sie nicht zu schlafen schien. Ihr Fuß war verbunden. Nokori saß neben Kassia auf den Fersen und gähnte immer wieder. Dann war noch Ashley da, die im Eingang der nun offenen Hütte stand und unschlüssig nach draußen spähte, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie etwas essen wollte oder schlafen.
Foxy war immer noch nicht zurück. Außerdem stand die Hütte offen – Mikail war offenbar geflohen. Und Thanatos fehlte noch in ihrer kleinen Runde.
Lucy ging zum Feuer und ließ sich davor in den Staub fallen. Galileo warf ihr einen pikierten Blick zu.
„Was?“, fragte Lucy gereizt.
„Du hättest gerne auf mich warten können, statt einfach abzuhauen!“, zischte Galileo. „Ich habe den Weg zurück kaum gefunden!“
Aha, daher wehte der Wind also. Lucy hatte ausnahmsweise mal keine Lust, sich zu streiten. „Ich bin sofort umgedreht, als ich gemerkt habe, dass du nicht da warst. Ich hab dich überall gesucht, aber nicht gefunden!“
Galileo sah aus, als wollte er etwas erwidern, aber Henry legte dem Größeren eine Hand auf die Schulter. „Ich habe mich auch sofort verirrt und niemanden mehr wieder gefunden! Wir sind zu viert losgezogen, Kassia, Nokori, Ashley und ich. Ich kann froh sein, dass ich zurückgefunden habe.“
Galileo schluckte seine Erwiderung herunter und nickte Lucy zu – ein Friedensangebot. „Das Fleisch sollte gleich fertig sein.“
Auf diese Worte hin erhob sich überall im Lager verstohlene Bewegung. Wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe kamen alle zum Feuer hin. Nokori wollte Kassia stützten, aber mit den Worten „Es geht schon wieder“ humpelte Kassia von selbst zum Feuer.
Auch Ashley kam herangeschlichen und setzte sich ein wenig außerhalb ihres Kreises hin.
„Naja, alle hab ich nicht sofort verloren“, fuhr Henry mit seinem Bericht fort. „Wie sich herausstellte, war Ashley die ganze Zeit in der Nähe, sie hat nur keinen Ton gesagt.“
Ein paar in der Gruppe lächelten müde. Ashley sah aus, als würde sie gerne im Boden versinken und starrte auf ihre Handgelenke.
Obwohl das Fleisch noch nicht ganz durch war, teilt Galileo es aus. Lucy entdeckte ein paar rohe Brocken Fleisch, die hinter ihm lagen. Eilig verschlang sie ihr eigenes Essen, dann gab sie sich einen Ruck und fütterte auch ihre Haustiere.
Alle in der Gruppe gähnten jetzt, aber niemand legte sich schlafen.
„Wo bleibt denn nur Thanatos?“, fragte Nokori schließlich.
„Keine Ahnung“, antwortete Henry. „Mich wundert eher, warum Mikail weg ist.“
Nokori deutete auf Kassia. „Sie hat ihn befreit, und er ist abgehauen.“
Falls die Kriegerin empörte Ausrufe oder etwas in der Art erwartet hatte, wurde sie enttäuscht.
„War'n guter Kerl“, meinte Henry.
Wenig später raschelte es im Gebüsch. Die Gruppe sprang auf, doch aus dem Wald trat nur eine einzige, dürre Gestalt.
„Foxy!“, rief Kassia als Erste, während das blonde Mädchen den Abstand zur Insel überquerte und sie zögerlich angrinste.
„Habt ihr mich etwa vermisst?“
„Wir haben dich die ganze Nacht gesucht!“, sagte Lucy ein wenig entgeistert.
Foxy strich sich die Haare hinter die Ohren. „Ich habe mich verirrt.“
Sie stellte einen großen Korb ab, den sie über die Schulter getragen hatte. „Dafür habe ich eine Menge Beeren gefunden.“
„Sehr gut“, lobte Henry. „Das heißt, wir können uns gleich hinlegen und müssen nicht jagen, damit wir für das Mittagessen was haben!“
„Wir können uns nicht hinlegen!“, schimpfte Kassia. „Thanatos und Mikail sind noch unterwegs! Wir müssen sehen, dass es ihnen gut geht!“
„Um Mikail würde ich mir keine Sorgen machen“, sagte Nokori eisig. „Der ist über alle Berge.“
„Red nicht so!“, rief Kassia protestierend. „Mikail kommt wieder!“
„Das glaubst du doch selber nicht!“, fauchte Nokori.
Kassia ballte die Fäuste, aber ihre Antwort war leise. „Ich kann's ihm nicht verdenken. Nachdem ihr ihn als Gefangenen gehalten habt!“
Nokori warf Kassia einen bösen Blick zu, entschied dann offenbar, dass es die Mühe nicht wert sei. „Ist noch was zu essen da? Ich habe Hunger.“
„Eigentlich haben wir das für Thanatos aufbewahrt“, meinte Henry zögerlich und reichte ihr ein Stück Fleisch. Dann muss er halt Beeren essen, wenn er kommt.“
„Falls er kommt“, hörte Lucy sich sagen. Alle starrten sie an.
„Falls er kommt“, wiederholte das Mädchen, „und nicht gefressen wurde oder sonstwas.“
„Was den frisst, spuckt ihn am nächsten Tag wieder aus“, meinte Galileo.
„Aber es gab erschreckend viele Gruben im Wald“, erinnerte sich Kassia und Lucy erfuhr endlich, wie sie sich den Fuß verletzt hatte. „Fast schon, als wären das Fallen. Wenn Thanatos in einer davon sitzt …“
„Heißt das, jetzt müssen wir Thanatos suchen?“, fragte Foxy.
„Warten wir ab“, schlug Lucy vor. „Aber ich meine nur, es wäre möglich, dass Thanatos nicht wieder zurück kommt.“
Die Blicke, die durch das Lager huschten, wirkten verunsichert. Lucy stand auf und streckte sich. „Machen wir so weiter wie bisher.“
Der Vorschlag wurde stillschweigend angenommen.