Die Tage kamen und gingen. Die Wochen begannen und hörten auf und die Stunden zogen sich wie Kaugummi. Nach der Schule ging ich meistens in den Musikraum, um dort noch ein bisschen Klavier zu spielen. An der Schule war ich für meine Neukompositionen ein bisschen bekannt und habe einen Schlüssel für den Raum bekommen.
Am Klavier gab ich meine Lieblingslieder zum Besten und bei „Part of your World“ sang ich mir die Seele aus dem Leib. Dieses Lied spiegelte mein ganzes Leben wieder und als ich so vor mich hinsang, überkamen mich so viele Gefühle. Und so viele Wünsche, die sich wohl nie erfüllen würden.
Arielle, Jasmin, Belle, Aurora… und noch viele andere. Der Wunsch, von ihnen jemals durch ihr Reich geführt zu werden. Der Wunsch auf ein Abenteuer mit Aladdin, Tarzan, Peter Pan oder den Unglaublichen zu gehen. Der Wunsch, mir von Genie ein paar Taschenspielertricks beibringen zu lassen… Der Wunsch, mit Nemo, Dorie und Marlin durch das Great Barrier Reef zu schwimmen.
„Glaubst du nicht auch, ich hätt‘ viel, ich hätt‘ viel schon erreicht?“
Das denken viele Leute von mir. Ich hätte durch gute Noten und Eltern, die beide im Amt arbeiten viel erreicht.
„Ich möchte fort, bei den Menschen sein“.
Bei den Menschen, zu denen ich gehöre. Wo ich mich nicht verstellen muss.
„Dort ist man frei.
Dort ist man froh!
Dort scheint das Licht, der Mond,
Dort lebt man anders als hier. Drum wünsch ich mir,
Ein Mensch zu sein.“
Als das Lied verstummte, lief mir eine Träne über die Wange. Aber gleichzeitig schmückte mich auch ein Lächeln. Oft überkamen mich meine Gefühle beim Musizieren und ich fühlte mich so frei, wie ich es wohl nie sein werde.
Mein Leben war schon vorprogrammiert. Nach meinem Abitur werde ich Deutsch und Geschichte studieren, ich würde in einer Schule anfangen und eine gute Lehrerin werden. So, wie es meine Eltern haben wollen würden. Jedoch ist mein Ziel im Leben ein ganz anderes. Ich will Filmmusikkomponistin werden. Ich will Filme zum Leben erwecken mit meiner Musik. Ich will Horizonte erweitern. Als in Klassenräumen zu sitzen und verzogenen Jugendlichen etwas beibringen zu wollen, die Kaugummis auf deinen Stuhl klebten und dich mit ihren Problemen vollquatschten. Wenn man genug eigene Probleme mit sich herumtragen musste, brauchte man nicht auch noch die der anderen zu erfahren.
„Roya?“
Erschrocken drehte ich mich um und sah meine Klassenlehrerin im Türrahmen stehen. Erst jetzt bemerkte ich, dass es dunkler im Raum ist. War wirklich schon Sonnenuntergang? „Was machst du denn noch hier? Es ist fast fünf Uhr nachmittags“, fragte sie und kam auf mich zu. Ich zuckte mit den Schultern und sah wieder auf die Tasten des Klaviers. Von mir aus könnte ich noch länger hierbleiben, zu Hause würde mich nur eine nervende Familie erwarten und ein Berg an Hausarbeiten. „Jedenfalls ist die Schule in einer halben Stunde geschlossen. Bis dahin solltest du dich auf den Weg machen“, hörte ich sie sagen und dann ging sie auf ihren hohen Schuhen hinaus. Ich sah ihr missbillig hinterher. Die Frau war Mitte vierzig und schminkte sich wie zwanzig, zog sich schwarze, durchsichtige Strumpfhosen mit kurzem Rock und einem Tanktop an und Schuhe, die Absätze bis zum Mond hatten. Normalerweise würde ich einfach auf dem Klavierhocker sitzen bleiben, aber ich hatte auch nicht sonderlich Lust, in der Schule festzusitzen. Ich packte meine Notenblätter in meine Tasche, schloss den Musikraum ab und ging aus der Schule in Richtung meines zu Hauses.
„Und Roya? Wie war dein Tag?“ fragte mein Vater. Ich schaute von meinem Teller hoch, der schon seit fünf Minuten leer war. Meine Eltern legten Wert auf Tischmanieren. Ich sah ihn kurz an, zuckte dann mit den Schultern und starrte dann wieder die Krümel auf meinem Teller an. „Gut. Wie immer“, antwortete ich knapp. So wie immer. Er widmete sich wieder seinem Essen, während er nickte. Hauptsache, keine Komplikationen oder Probleme. Steph neben mir schaute immer wieder in ihren Handspiegel. Nicht, dass sich ihr Lipgloss beim Essen zu sehr verwischte. Ich schüttelte den Kopf und sah dann zu meiner Mutter. Ihre Haare waren, wie meine, Rot und leicht gelockt, aber das war auch die einzige Gemeinsamkeit, die wir hatten. Sie war kein kreativer Mensch. Sie leitete keine Firma oder so, aber hielt sich strikt an jede Regel, die man ihr, oder die sie selber aufstellte. Alle Abweichungen sind inakzeptabel. Sie könnten zu Missgeschicken führen. Meiner Meinung nach sind Regeln dazu da, um sie zu brechen. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, dass versucht sie mir immer einzutrichtern, aber selber ist sie wohl die Person, die es nie in Erwägung ziehen würde, etwas Neues auszuprobieren.
Schließlich wurde es mir zu blöd, meiner Familie beim Essen zuzusehen. „kann ich dann aufstehen?“ fragte ich. Mein Vater sah auf und nickte nur leicht, meine Mutter sah mich mahnend an, stimmte dann aber auch nickend zu. Ich schob den Stuhl zurück und hörte auf der Treppe Steph maulen: „Aber dann darf ich auch aufstehen!“ Kopfschüttelnd lief ich die Treppe hoch und schnell in mein Zimmer. Das Mädchen war gerade mal vierzehn und schon eine richtige Hexe.
Ich hockte mich vor meinen Fernseher und zog eine große, rote Kiste von der Seite hervor. Ich nahm den Deckel herunter und betrachtete meine Schätze. Sämtliche Disneyfilme, egal ob Classics oder Reallife waren dort drinnen. Ich sammelte seit gut einem Jahr und könnte nicht stolzer auf mich sein, schon so viele zusammen zu haben. Entschlossen zog ich den Film „101 Dalmatiner“ heraus, legte ihn ein und nahm mir aus meinem Schrank eine Chipstüte, die ich versteckt hatte. Dann warf ich mich in meinen langen Pyjama, schmiss mich aufs Bett und drückte auf Play. Das war genau das, was ich jetzt brauchte.
Nach der Hälfte hörte ich, wie jemand polternd die Treppe hochkam. Bestimmt Mum oder Steph. Ich schaute weiter auf den Bildschirm, als meine Tür aufging und meine Mutter im Türrahmen stand. „Süße, ich habe hier noch etwas Obst für dich“, sagte sie, mit einem Teller Birnen, Weintrauben und Mandarinen in der Hand. Ich pausierte den Film, ging zu ihr, nahm ihr ohne weiteres den Teller ab und schmiss mich damit aufs Bett. In Erwartung, dass sie wieder ging, schaltete ich den Film wieder ein. Doch sie setzte sich zu mir auf Bett und sah auf den Bildschirm. „Schon wieder?“ fragte sie. Ich nickte nur schulterzuckend, sah weiter zum Fernseher. Gerade kam die Stelle, wo Sergeant Tips versuchte, die Welpen vor Jasper und Horris zu verstecken.
„Roya, ich finde, dass du es langsam übertreibst mit diesen Filmen. Die sind doch nur was für Kinder.“
Entgeistert sah ich meine Mutter an. Ich hasste diesen Satz, wie die Pest. „Disney ist nur für Kinder.“ Von wegen.
„Eben nicht, Disney und Disney-Pixar sind für alle Altersgruppen.“
„Trotzdem solltest du dich auch mal mit etwas Anderen befassen. Ich kann diese Filme allmählich nicht mehr sehen.“
„Du musst sie ja auch nicht gucken.“
„Und du solltest dir Alternativen zu Zeichentrick und Computeranimationen suchen. Stephanie hat ein paar, die wirklich cool sind.“
Mit einem „Ernsthaft“ Blick sah ich sie an. „Diese Komödien, wo die dauernd perverse Witze machen und Hollywoodklischees? Nein danke, ich bleibe bei Zeichentick. Die machen wenigstens nicht das Hirn weich und man hat am Ende immer eine Moral, die man gelernt haben sollte.“
„Komm schon Roya. Wenn das so weitergeht, wird du noch besessen oder so.“
„Freue dich doch mal, dass ich etwas habe, was mich inspiriert! Ich meine, ich könnte auch einfach planlos in meinem Zimmer liegen und nichts tun, so, wie Steph auch. Aber ich spiele Klavier, ich komponiere um und befasse mich mit allen Neuheiten, von eines der weltbewegsensten Filmstudios, der Welt! Was soll ich deiner Meinung nach stattdessen tun?“
„Wie wäre es mit Nachhilfeunterricht? Oder Klavierstunden geben? Irgendwas, dass deine Zukunft mehr sichern würde?“
Meine Zukunft, hör mir auf. Mittlerweile war ich leicht aufgebracht und sah meine Mutter trotzdem emotionslos an. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal vor meinen Eltern meine wahren Gefühle gezeigt habe. Sie mussten nicht mehr wissen, wie mein seelischer Zustand aussah, solange ich von außen ein halbwegs glückliches Mädchen war, war für sie alles gut. So kam es mir jedenfalls vor.
„Nein, nie und nimmer. Ich bleibe bei dem, was ich jetzt mache.“
„Aber was glaubst du, wie gut es in deiner Bewerbung herüberkommen würde, wenn dort ein Jahr lang Nachhilfeunterricht gegeben stehen würde?“
„Ist mir doch egal! Ich habe noch knapp eineinhalb Jahre Zeit, also mache nicht so einen Stress!“
„Roya, ich finde du solltest dich so langsam von Disney verabschieden, es lenkt dich nur vom richtigen Leben ab“, sagte sie schließlich, stand dann einfach auf und stapfte zur Tür. Ich sah ihr hinterher, gab ihr aber auf diese Aussage keine Antwort. Nie und nimmer würde das passieren und ich bin mir ziemlich sicher, dass das genauso gut wusste, wie ich.
Meine Mutter hatte mir die Laune nun gründlich versaut, also schaltete ich den Fernseher aus, legte die DVD wieder in die Hülle und in den Kasten zurück und warf mich aufs Bett. Am liebsten würde ich schreien. So richtig laut und schrill. Die Worte meiner Mutter hatten mich so aufgeregt und der Fakt, dass mein Vater das gleich gesagt hätte, machte es nicht besser. Disney war meine Leidenschaft, wenn sie das nicht verstehen konnten, dann war das ihr Pech. Sie glaubten, dadurch würde ich den Bezug zur Realität verlieren. Wenn hier jemand Traum und Realität unterscheiden konnte, dann ich. Da sollten die beiden lieber ein Auge auf Steph werfen.
Komplett fertig atmete ich einmal tief durch und schloss die Augen. Es war eh schon nach zehn Uhr abends, also konnte ich auch gut und gerne schlafen gehen.
Morgen würde es der gleiche Tagesablauf werden. Als wäre mein Leben eine Spieluhr, die jedes Mal aufs Neue aufgezogen wurde und die gleiche Melodie von sich gab. Nur einmal würde ich diese Melodie ändern wollen. Koste es, was es wolle.