Stundenlang lag ich zusammengekugelt auf dem kühlen Steinboden. Die Sonne war inzwischen untergegangen, es wurde dunkel. Im Traum zu träumen kam mir verrückt vor, aber als ich meine Augen öffnete, war ich in meinem Zimmer und der Schmerz in meinem Rücken pochte noch intensiver als zuvor. Vielleicht hatte ich einen Zauberwürfel oder ein Legosteinchen im Bett gelassen, dachte ich. Nur besaß ich keinen Zauberwürfel und mit Legosteinen hatte ich seit Jahren nicht mehr gespielt.
Ich setzte mich auf, der Schmerz ließ auch so nicht nach. Eine Hand legte ich auf die Stirn, in der Hoffnung, dass ich Fieber hatte und mir alles nur einbildete. Als ich dann die andere Hand auf die Matratze legte um mich zu stützen, verankerte ich schlagartig im Sitz und ein Grauen wanderte über meinen Körper. Die Matratze war an der Stelle meines Rückens völlig durchnässt. Ich drehte mich langsam um. Im Dunkeln konnte ich die Farben nicht erkennen. Also war doch nicht alles nur ein Traum...
Den Schmerz ignorierend begab ich mich zum Lichtschalter und machte das Licht an. Panisch entdeckte ich die große Menge Blut auf dem Bett. Das Kissen und die Mitte der Matratze waren dunkelrot. Ich griff unwillkürlich in die Haare. Meine dunkelbraunen Strähnen waren vom Blut verklumpt und als ich weiter tastete, spürte ich auch das nasse Pyjamaoberteil. Ich trat vor den großen Spiegel meines Zimmers und drehte mich um. Mein ganzer Rücken war blutrot... Ich konnte mir nicht vorstellen, was geschehen war. Vorsichtig schlüpfte ich aus dem Oberteil. Und dann erblickte ich das, was mein ganzes vorheriges Leben verändern würde: aus meinem Rücken ragten zwei kleine, tiefrote Flügel heraus. Das Blut tropfte auf den Boden, mein ganzer Pyjama war durchnässt.
Lange Minuten stand ich erstarrt vor dem Spiegel und versuchte es zu verstehen. Wie war es möglich? Es musste ein böser Traum sein... Ja, es war ein böser Traum, da war ich mir sicher. Warum fühlte sich dann alles so realistisch an? So sehr ich mich auch davon überzeugen wollte, ich musste mir eingestehen, dass ich mich nicht mehr in einem Traum befand. Es war die Realität, die Wirklichkeit. Trotzdem... Die Tatsache, dass ich Flügel besaß, war unglaublich. Nachdem ich im Klarem über die Herkunft der Schmerzen war, interessierte mich das blutige Pyjama und die Matratze nicht mehr. Verharrt starrte ich die zerknüllten, blutigen Flügel an und war fassungslos, als ich bemerkte, dass ich sie bewegen konnte. Das Gefühl war vollkommen anders als im Traum – ich konnte sie spüren. Es waren meine Flügel, mit winzigen, dicht stehenden Flaumfedern.
Der Schockzustand dauerte lang, doch mit der Zeit bekam ich einen kühlen Kopf und es gelang mir wieder, normal zu denken. Meine Überlebensinstinkte schrien alarmierend. Sofort begriff ich, dass ich meine Flügel vor der Welt verstecken muss. Niemand darf sie jemals zu Gesicht bekommen. Ab sofort befand ich mich in ständiger Gefahr. Ich rannte zur Zimmertür und schloss sie ab. Es war in der Früh, ungefähr halb vier. Ich nahm die Bettwäsche von der Matratze und dem Kissen und schmiss alle blutigen Sachen auf einen Haufen. Mit der Matratze hatte ich Glück, das Bettlaken hatte nichts durchgelassen. Ich fischte ein großes Badetuch aus dem Schrank, wickelte es um mich, eilte mit der Bettwäsche in der Hand ins Badezimmer der Etage und schloss die Tür ab. Niemand darf es erfahren – dieser Satz hallte in meinen Gedanken wider. Immer wieder.
Ich versuchte, das Blut mit kaltem Wasser aus dem Stoff zu reiben. Danach legte ich alles in den Wäschebehälter, den ich runter zur Waschmaschine schleppte. Mit rasendem Herz warf ich alles in die Maschine und startete sie. Meine Hände zitterten. Jede Spur musste vernichtet werden. So schnell wie möglich. Ich rannte die Treppe hinauf und schloss mich wieder in das Badezimmer ein. Jetzt war ich dran, das eingetrocknete Blut musste von meinem Leib gewaschen werden.
Das Wasser irritierte meine Haut und mein Rücken begann erneut zu Schmerzen. Ich biss die Zähne zusammen. Wenn ich schon den Traum überlebt habe, werde ich auch die Dusche überleben. Ich benutzte keinerlei Shampoo oder Duschgel, klares Wasser floss über meinen zitternden Körper während ich mich bemühte, die Klumpen aus meinen Haaren zu waschen. Nach dem Duschen verbarg ich mich im Badetuch und trat aus der Kabine. Mein Rücken blutete nicht mehr. Die Flügel hielt ich hängend, so taten sie am wenigsten weh. Ich war nicht in der Lage, das Badezimmer zu verlassen.
Zu dieser Uhrzeit hätte ich damit rechnen sollen, dass ich jemanden aufwecke, doch der Zustand, in dem ich mich befand, hinderte mich daran, klar zu denken. Als ich das Klopfen an der Tür hörte, verdreifachte sich mein Puls. Vom Schreck erstarrt konnte ich mich nicht rühren. Ich war der Ohnmacht nahe.
»Blanka, duschst du so früh?« nahm ich Lucas' Stimme von der anderen Seite der Tür wahr.
Mein Magen bebte wild, kein Ton kam aus meiner Kehle. Was, wenn er es bemerkt?
»Blanka, ist alles in Ordnung?« hörte ich.
Es gelang mir, ein schwaches "Ja" herauszurücken. Mit höllischer Angst wartete ich auf seinen nächsten Satz.
»Du hast in der Nacht geschrien. Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?« fragte er.
Tief einatmen. Tief ausatmen. Warum war mein Gehirn so lahm? Ich konzentrierte mich.
»Ja. Schlechte Träume« ich legte die Antwort aus einigen Wörtern zusammen, die mir gerade einfielen.
»Ich lege mich hin. Bitte mach keinen großen Lärm, ok?«
»Ok« sagte ich.
Lucas war weg. Ich lehnte mich gegen die Wandfliesen und sank auf den Boden. Mein Blick war nebelig und auf einen bedeutungslosen Punkt des Badezimmers gerichtet. Gefahr vorbei... Wenn der eigene Bruder zur Gefahr wird... Was für ein Blödsinn... Wie lächerlich...
Ich hatte keine Ahnung, ob ich mich jemals an die Flügel gewöhnen werde, aber der nächste Tag brachte die ersehnte Ernüchterung. Ich hatte wieder Kraft und der Schmerz ließ auch langsam nach. Die Erinnerungen an die letzte Nacht waren verschwommen, sie kamen mir wie ein Traum vor. Ich konnte mich daran erinnern, sie abgetrocknet zu haben, ehe ich neue Wäsche auf das Bett legte und einschlief. Am Morgen machte mich Lucas wieder darauf aufmerksam, wie laut ich in der Nacht geschrien hatte und dass er dachte, ich würde sterben. Er kam in mein Zimmer, machte das Licht an, doch ich schlief friedlich und tief... Konnte ich es dem Glück verdanken, dass er nichts gesehen hatte?
Seit dieser qualvollen Nacht meines vierzehnten Lebensjahres habe ich gelernt, mit meinen Flügeln umzugehen. Sie zu verbergen, mich von der Gesellschaft zu isolieren und auf gewisse Dinge zu verzichten. Die zwei Letzteren waren Grundvoraussetzungen, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Während der nächsten Monate lernte ich, meine Flügel koordiniert zu bewegen. Ich merkte, wie sie wuchsen und fing mit dem Training an. Neugier und die Sehnsucht nach Neuem führten mich zum ersten Flugversuch. Mittlerweile kann ich schon ohne große Anstrengung in einer Nacht das halbe Land überqueren. Für knappe Situationen stehen mir immer einige maßgeschneiderte Ausreden zur Verfügung und für jede Lage, in der sich herausstellen würde, was ich bin, gibt es eine Notlösung. Basierend auf drei Jahre langer Erfahrung habe ich eine Strategie entwickelt, mit der sich das Leben unauffällig meistern lässt.