Es fühlte sich an wie in einem Abenteuerfilm. Soeben saß ich mit Alex noch auf den Heuballen, während er mir die Zukunft vorhersagte, und jetzt schüttete es wie aus einem Krug. Es gab nichts in der Nähe, wo wir uns hätten verstecken können, um nicht klitschnass zu werden. Der Himmel war wortwörtlich auf unseren Kopf gefallen, so wie es Alex gesagt hatte. Auch die Angst ließ nicht nach – wenn der Regen nicht bald aufhörte, würde er meine Flügel bemerken… Ich überlegte, ob ich ihn vorfahren lassen, und dann unbemerkt in die andere Richtung verschwinden sollte, doch mein Verstand sagte mir, dass ich unmöglich abhauen könnte. Alex würde es sofort bemerken und mir ganz sicher nachfahren. Im allerschlimmsten Fall würde ich ihm verraten, was ich bin, in der Hoffnung, nie wieder fliehen zu müssen.
Das nächste Dorf schien in dieser Situation unglaublich weit weg zu sein und meine Kleider waren schon durchnässt. Wir rasten wie zwei verrückte Kinder, doch aus unterschiedlichen Gründen. Außer den Regen und das Quietschen des Fahrrads hörte ich nichts, meine Ohren waren vom Adrenalin, das in meinen Adern pochte, beschlagen. Dass ich wieder krank werden könnte, war mein harmlosester Gedanke. Vielmehr war ich um mein Korsett besorgt. War es schon so nass, dass man die Federstruktur erkennen konnte? Falls ja, würde ich Alex’ Blick ablenken können? Meine Hände waren zittrig und eiskalt und ich merkte, wie mein Unterkiefer nervös bebte.
Nach langen Minuten kamen wir im Dorf an und fuhren sofort zur nächsten Bushaltestelle. Wir sprangen von unseren Rädern und ließen sie im Regen zurück, da nur wenig Platz unter dem Dach war. Ich drehte den Rücken so weg, dass Alex mich nur von vorne sehen konnte und bedeckte meinen Bauch mit den Armen, um das Korsett zu verdecken. Ich zitterte noch immer, schob es aber auf die Kälte und die Anstrengung.
Wir schauten dem Regen schweigend zu. Alex’ immer ruhiger werdendes Atmen beruhigte mich. Ich spürte seinen Blick und als ich ihn anschaute, sah ich seine intensiv strahlenden Augen und sein bezauberndes Lächeln. Die hochgestellten Haare klebten mittlerweile in Zapfen auf seiner Stirn. Er machte den Eindruck, als käme er gerade aus dem Bad. Meine nassen Haare wirkten wahrscheinlich nicht so professionell gestylt… Mit dem Regen hatte niemand gerechnet. Er konnte es genießen, für mich war das Gewitter eine potenzielle Gefahr. Alex ist eine potenzielle Gefahr korrigierte mich mein Verstand. Bevor ich wieder nervös wurde, schaltete ich den Gedanken weg und lehnte mich an die hintere Wand des kleinen Wartehäuschens. Unter unseren Füßen sammelten sich große Pfützen. Ich nahm meine Haare und drückte das Regenwasser aus ihnen. Alex schaute mir dabei zu. Mein Blick begleitete misstrauisch seinen Blick, ich war in der Bereitschaft, jeden Augenblick wegzurennen. Doch Alex schien nichts zu bemerken. Ich selbst traute mich nicht, nach unten zu schauen und damit Alex herauszufordern, dasselbe zu tun.
Trotz all meiner Sorgen gefiel es mir, dass Alex den Regen genoss und sich kein bisschen über die Lage aufregte. So etwas erlebt man ja auch nicht jeden Tag… Und solche warmherzige Menschen trifft man auch nicht jeden Tag, hörte ich meine innere Stimme. Ich hatte es schon immer geliebt, vor Dingen zu fliehen, die mich früher oder später sowieso einholen würden. Dieser Regen gehörte auch dazu. Nur, dass Alex dabei war und ich wieder versteift die Arme um das Korsett schlug. Wäre ich nicht in dieser unmöglichen Situation… Ich seufzte. Ich hätte ihn am liebsten umarmt und mit den Fingern in seinen nassen Haaren herumgewühlt. Wie würde er wohl darauf reagieren? Würde er mich nett wegschieben und mir sagen, dass ich es lassen soll? Was interessierte mich das schon? Mehr als Freundschaft kann ich ihm nicht bieten. Dennoch würde ich gerne wissen, wie er darüber denkt, ob er die Umarmung erwidern würde. Ich schaute seine männlichen Züge an und mir wurde warm ums Herz. Mein Magen tanzte wild. Ich habe mich so sehr in ihn verliebt… Und obwohl ich nicht konnte, wollte ich mit ihm zusammen sein.
»Heftiger Regen, nicht wahr?« brach Alex die Stille. Ich war ihm dankbar, dass er mich aus meinen Gedanken riss.
»Oh ja. Hoffentlich werde ich nicht wieder krank« lachte ich verkrampft. Hätte ich nicht die Sorgen um meine Flügel, könnte ich jetzt diese kalte Dusche mit ihm auskosten.
»Das wirst du nicht« flüsterte er und befand sich mit einem Satz vor mir. Meine Finger bohrten sich noch tiefer ins Korsett, wie mein Blick zu ihm rauf huschte.
»Ich brauche unbedingt trockene Kleider« stotterte ich. Meine Nervosität war schlagartig wieder anwesend.
»Wenn wir heute noch in die Stadt zurückkommen« er drehte den Kopf kurz weg und betrachtete den Regen.
Was, wenn es nicht aufhört? Beim Gedanken schauderte ich, meine Arme fühlten sich ganz taub an.
»Deine Lippen sind ganz blau… Geht es dir gut, Blanka? Ist es dir kalt?«
»Ja… Mir geht es gut…« log ich und hob eine Hand, um wieder was zu fühlen. Ich vergrub meine Finger zwischen seinen blonden Strähnen und streichelte sie nach hinten. Alex schloss die Augen.
»Was machst du da?« fragte er flüsternd, aber es schien keine richtige Frage zu sein, eher eine Feststellung.
Es war ein wahrhaft schönes Gefühl, meinen warnenden, schreienden Verstand zu ignorieren.
»Nichts« antwortete ich leise.
»Blanka…« hauchte er.
»Ich richte deine Frisur« unterbrach ich ihn sanft. Als er sich aufrichtete, wischte er ebenfalls eine Strähne aus meinem Gesicht und musterte mich dabei. Seine Nähe verwirrte mich. Ich konnte nicht klar denken. Mein Herz schlug schnell und ich wollte zurückweichen, aber die Wand hinter mir hielt mich auf. Ich betete und hoffte, dass er nicht versuchen würde, mich zu umarmen.
»Weißt du, was ich an dir liebe?« er streichelte mit den Fingern meiner Wange entlang.
Ich konnte nicht antworten, meine Empfindung blockierte den Weg zu sinnvollen Gedanken. Was liebt er an mir? Es konnte alles sein. Hoffentlich waren es nicht meine Flügel… Ich musste mich irgendwie aus diesem schönen Moment reißen um fliehen zu können.
Doch es ging nicht. Meine Glieder waren starr und Alex’ Atem auf meinen Lippen hielt mich fest. Er streichelte meinen Hals und meine nassen Haare und rückte noch näher.
»Deine monumentale Bereitschaft für verrückte Ideen. Andere würden einen hysterischen Anfall erleiden, dass der Regen ihre Schminke ruiniert hat« Alex wischte Wassertropfen von meiner Stirn. »Doch du… Du bist anders. Mit dir ist es immer wieder eine Freude, du vergoldest meinen Tag. Weißt du zufällig, wessen Idee es war, auf die Heuballen zu klettern?«
Er brachte mich total durcheinander. Ich war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen und brachte nur ein leises „Nein“ hervor, doch im nächsten Augenblick war er mir so nahe wie noch nie zuvor. So nahe, dass seine Lippen meine berührten und sie sanft streichelten. Alex’ Kuss versetze mich in eine andere Dimension und ich vergaß in diesem Rausch, wer ich war. Das Einzige, was ich wahrnahm, war er in seiner Vollkommenheit, wie er mich küsste, wie er dabei seine Finger in meine Haare vergrub und mich mit der anderen Hand fest hielt, damit ich sicher auf meinen Beinen stand. Die Schmetterlinge flatterten disziplinlos und wild in meinem Bauch umher.
Noch nie zuvor hatte ich so intensiv für jemanden empfunden wie für Alex. Aus dieser einen Berührung unserer Lippen wurde ein ununterbrochener, langer Kuss. Er liebkoste mit der Zungenspitze meine Lippen und ich schlang meine Arme um seinen Hals, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Vorhin hatte ich noch das rhythmische Aufprallen der Regentropfen gehört, doch dieses Geräusch war nun weg. Aus meinem Rausch riss mich ein Blitz und der darauf folgende Donner. Alex’ Mundwinkel zogen sich in die Höhe und ich musste auch lächeln. Das war der schönste Kuss meines Lebens. Er zog sich langsam zurück, sein Lächeln blieb aber unverändert.
»Das war wunderschön« hörte ich und brauchte eine Weile, bis ich begriff, dass Alex unseren Kuss gemeint hat. Erst jetzt merkte ich, dass sein Atmen so schnell war, als wäre er gerade beim Hundert-Meter-Lauf über die Ziellinie gerannt. Er ließ mein Gesicht los, um sich mit beiden Händen gegen die Wand hinter mir zu lehnen. Hatte er mich die ganze Zeit festgehalten? Vermutlich hätten es meine Beine ohne seine Hilfe nicht geschafft.
Ich wusste nicht, was ich sagen soll. Ich war gleichzeitig überrascht und unglaublich glücklich. Erst senkte ich den Blick, dann richtete ich ihn auf Alex, schaute aber nicht in seine Augen. Das wäre zu viel vom Guten gewesen, ich musste erst meine Sinne beruhigen. Zum Glück wehte gerade der Wind und kühlte meine brennenden Wangen etwas ab. Huch… Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dem. Nicht mit seinem entschlossenen, aber dennoch dermaßen unbeschreiblich zärtlichen Kuss.
»Was für eine Überraschung« brach ich schließlich das immer unangenehmer werdende Schweigen. Alex stand noch immer reglos mit beiden Händen gegen die Wang gelehnt da und musterte mein Gesicht.
»Sagst du mir« flüsterte er mir dann leise zu.
Womit hätte er denn gerechnet? Dass ich panisch davonlaufen würde? Wir waren uns schon in der Disko so nahe… Er ließ mir genug Zeit, mich dagegen zu entscheiden. Aber das tat ich nicht. Ich wollte ihn. Ich wollte seine warmen Lippen auf meinem zittrigen, kühlen Mund spüren. Und ich begriff noch immer nicht, was gerade eben passiert war. Ich wartete darauf, aufzuwachen. Auf ein Zeichen, das mir klar machen würde, die letzten Minuten nur geträumt zu haben.
Aber es war kein Traum. Ich lehnte mich auch gegen die Wand hinter mir und schaute in Alex’ Augen. Ich verlor mich in dem wunderschönen Spiel der Grüntöne. Denn nun durfte ich das, ohne ihn stumm um Erlaubnis bitten zu müssen. Dennoch ließ mich Alex nicht allzu tief seinen Augen versinken. Er trat mir noch einen Schritt näher, umarmte meine Taille und küsste mich. Bevor ich den Kuss erwidern konnte, schoss ein Schrei aus meiner Kehle. Ich befreite mich aus seiner Umarmung und starrte ihn genauso erschrocken an, wie er mich von oben bis unten musterte. Nein… Er hatte es bemerkt. Mein Herz setzte einen Schritt aus und dann hörte ich nur noch seine immer schneller werdenden Schläge.
»Du trägst ein Korsett?!« Alex sah mich fragend an.
Das war’s. Ich verstand nichts mehr. Meine Instinkte trieben mich dazu an, loszulaufen und meine Beine befolgten diese Befehle. Ich rannte raus in den Regen, in irgendeine Richtung und meine Flügel bereiteten sich schon darauf vor, abzuheben – wenn der Regen und das Korsett die Sache nicht unmöglich gemacht hätten.
Ich habe es vermasselt. Gerade als eine tiefe Sehnsucht in Erfüllung ging… Alex hatte mein Korsett bemerkt. Dass darunter zwei Flügel versteckt waren, konnte er nur schwer ahnen, dennoch durfte ich kein Risiko eingehen. Ich musste weg, weg von Alex und ich würde ihn danach nie wieder sehen.
Zwei Arme umschlossen sich um meine Schulter und zwangen mich, stehen zu bleiben. Ich wehrte mich gegen die Kraft, die mich am Laufen hinderte, aber sie war stärker.
»Lauf nicht weg« hörte ich die sanfte Männerstimme. »Bitte, Blanka.«
»Lass mich los« flehte ich Alex an und versuchte, mich zu befreien.
Alex ließ mich nicht los und nach einer Weile gelang es mir, mich zu beruhigen und nachzugeben. Der strömende Regen verwischte die Tränen der Verzweiflung und drang gleichzeitig immer tiefer in unsere Kleider. Das Korsett würde bald meine Flügel preisgeben.
»Und jetzt erzähl mir bitte, wieso du davongerannt bist« bat mich Alex. Seine Stimme war entschlossen. Ohne Unterton, ohne Verachtung. Ohne mich als Geisteskrank einzustufen.
Als ich lange nichts antwortete, ließ er seine Arme locker und wischte mir mit dem Daumen eine Strähne aus dem Gesicht. Ich stand starr vor Angst vor ihm, dennoch nahm ich jede seiner Berührungen intensiv wahr.
Ich könnte ihm erzählen was ich wollte. Ihm die unglaubwürdigsten Erklärungen abliefern. Ihn anlügen. Doch früher oder später würde sich ohnehin herausstellen, was ich wirklich war – nämlich ein Mensch mit zwei Flügeln.
»Blanka. Bitte. Habe ich was falsch gemacht?« wollte Alex wissen.
Ich schüttelte langsam den Kopf. Mit jedem weiteren Wassertropfen erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, dass er die Struktur meiner Flügel entdeckt.
»Komm, gehen wir zurück ins Trockene« seine Hand umarmte meine. Sie war warm und fest; genauso wie ich es mir so oft vor dem Schlafengehen ausgemalt hatte.
Alex führte mich zurück unter das schützende Dach der Bushaltestelle.
»Du bist ja ganz ausgekühlt« stellte er fest als er den Handrücken über mein Gesicht gleiten ließ. Er umarmte mich, seine Hände rieben vorsichtig meinen Rücken, aber nur bis zur Linie des Korsetts. »Ich würde mich sehr freuen, wenn du mir verraten würdest, weshalb du vorhin so stürmisch davongelaufen bist.«
»Ich…« fing ich an, aber ich wusste nicht, wie ich den Satz fortsetzten soll. Denn eines war mir bewusst: ich konnte nicht einfach so davonrennen. Alex würde mich erneut auffangen und festhalten. Festhalten, so wie er es jetzt tat und mich mit seinen feinen Berührungen beruhigte.