Die Zeit verging langsam. Ich wartete auf dem Bett liegend darauf, dass alle schlafen gingen. Eigentlich nur meine Mutter, weil mein Vater nicht da war und meinem Bruder war es egal. Sein Zimmer war neben meinem Zimmer und wenn Licht brannte, konnte man mein Fenster auch erkennen. Ich musste ihn immer bitten, die Lampe kurz auszumachen.
Ich dachte an Alex. Er wollte sich mit mir treffen, sonst hätte er nicht nach meiner Nummer gefragt. Ich konnte kaum erwarten, seine schönen Augen und die ständig lächelnden Lippen wieder zu sehen. Aber die Gedanken an Alex durften mich nicht ablenken. Meine Reise ging nach Tatabánya zur Vogelstatue und wieder zurück, bevor die Sonne aufging.
Mein Wecker ertönte um elf. Ich sprang fit aus dem Bett und knotete meine Haare zusammen, während ich energiegeladen zur Musik meines Weckers tanzte. Mich umgab eine prickelnde Aura von Vorfreude aufs Fliegen, ich fühlte mich unglaublich glücklich. Bei meinem Bruder war es dunkel im Zimmer und meine Mutter schlief auch schon. Es wird eine schöne Nacht. Ich spielte mit dem Gedanken, wie es wohl wäre, meinen Vater in Budapest zu besuchen. Wie würde er reagieren, wenn ich vor seinem Hotelzimmer mit zwei großen Flügeln auftauchen würde? „Hi Dad, sorry, dass ich es bislang noch nicht gesagt habe, aber eigentlich hab ich zwei Flügel und kann fliegen“ – er würde sicher einen Herzinfarkt erleiden. Sein geschäftlicher Aufenthalt wäre dann umsonst. So weit wird es nicht kommen, denn ins Zentrum von Budapest konnte ich nicht fliegen. Dort war es zu hell und zu gefährlich. Ich ging lächelnd in die Küche und nahm die drei Schokoriegel aus dem Kühlschrank – am Nachmittag waren es noch vier. Jemand hatte einen gegessen. Das werde ich Lucas noch heimzahlen. Als Ersatzsnack suchte ich mir einen großen Apfel aus.
Sicherheitshalber kontrollierte ich nochmals, ob alle schliefen. Dann packte ich den Riegel und den Apfel in eine Gürteltasche, in der schon mein MP3-Player und eine Taschenlampe vorbereitet waren. Es war herrlich, beim Fliegen Musik zu hören. Mit Musik in den Ohren fühlte ich mich wie in einem Actionfilm. Das Gute wird von Bösen gejagt, sie kämpfen in der Luft, das eine hat größere Flügel als das andere und nebenbei läuft die epische Filmmusik. Am Ende siegt das Gute, vorausgesetzt, so steht es im Drehbuch. Andersrum würde es den Großteil des Publikums niederschmettern. Ich gehörte zu den HappyEnd-Fans und ließ mich gerne von fantastischen Geschichten mit glücklichem Ende mitreißen.
Ich nahm einen Schokoriegel wieder aus der Gürteltasche und verzehrte ihn, um meine Energiereserven aufzutanken. Dann zog ich Hose und Shirt aus und öffnete auch das Korsett. Ich schlüpfte mit meinen Flügel durch die zwei Spalten am schwarzen Pulli. Es war ein angenehmes Gefühl, sie frei bewegen zu können. Um mich aufzuwärmen, hüpfte ich eine Weile im Zimmer herum und dehnte Beine und Arme. Da der Weg großteils über Wasser verlief, durfte ich keine Verletzung riskieren. Die Donau war kalt und mit nassen Flügeln konnte ich nicht fliegen. Ich würde mich erkälten und müsste zum Arzt…
Ich stellte mich vor den Spiegel und betrachtete meine Flügel. Sie sind in den letzten Wochen gewachsen. Das letzte mal, als ich hier stand, reichten sie fast bis zu den zwei gegenüberstehenden Wänden. Im Winter waren sie beträchtlich kleiner. Wie lang werden sie noch wachsen? Sie waren jetzt schon riesig. Lang, schmal und kräftig beim Fliegen, aber federleicht wie hauchdünne Blätter, wenn ich sie nicht gebrauchte. Das einzige Problem mit ihrem Wachstum war, dass ich mich bald nicht mehr in meinem Zimmer aufwärmen konnte, ohne dabei die Wände zu streifen.
In der untersten Schublade meines Schreibtisches bewahrte ich die Landkarten von Ungarn auf. Die Karte für den heutigen Flug hatte ich letzte Woche gedruckt und den Weg mit einem roten Buntstift eingezeichnet. Ich suchte sie und legte das Blatt Papier auf den Schreibtisch, um nochmals die Richtung zu checken. Wie es ausschauen würde, wenn ich alles auf eine Karte zeichnen würde? Der westliche Teil des Landes wäre vermutlich kreuz und quer mit bunten Strichen verziert. Ich faltete die Karte zusammen und schob sie zur Sicherheit in die Gürteltasche. Man kann nie wissen, wann man sich verirrt. Ich hatte keine Lust, mit dem Zug heimzufahren und mir kreative Erklärungen für meine Abwesenheit einfallen zu lassen. Es war bequemer, durch das Fenster wieder ins Zimmer zu fliegen.
Ich startete die Musik und steckte den MP3-Player in die Tasche des Pullis, das Handy in die Gürteltasche. Zusätzlich befestigte ich eine Sportuhr an meinem Handgelenk. Dann stieg ich ins Fenster, sprang und flatterte hoch. Ich spürte, wie meine Flügel mit den Höhenmetern wuchsen. Oben war die Luft kühl, fast schon kalt, doch je höher ich flog, umso schöner war die Aussicht. Die Lichter der Straße erreichten mich in der Höhe nicht mehr. Hier oben dürfte mich niemand sehen.
Ich war frei. Frei, wie ein Vogel. Trotzdem verließ ich die Stadt so schnell wie möglich. Ich flog zum Flussdamm, hielt eine kurze Pause um mich zu orientieren und flog dann in die richtige Richtung weiter. Solange ich mich in der Stadt befand, flatterte ich langsam über dem Flussdamm, in der Nähe der Bäume. Als alles komplett dunkel wurde, nahm ich die Taschenlampe aus der Gürteltasche und setzte den Weg der Donau entlang weiter.
Nach einer Weile schaltete ich die Taschenlampe wieder aus und flog höher, bis ich den Wind spürte. Die Luft wurde immer kälter. Der Westwind griff unter meine Flügel, ich ließ mich treiben. Ich liebte es, den richtigen Wind zu erwischen. Wenn ich zusätzlich mit meinen Flügeln schlug, konnte ich doppelt so schnell fliegen wie ohne Wind. Ich tat es jedoch nicht, weil ich meine Augen zukneifen musste. Stella schlug einmal vor, meine Geschwindigkeit zu messen, sobald sie den Führerschein hat. Wir würden eine verlassene Gegend suchen, wo ich vor dem Auto fliegen könnte, während sie versucht, mein Tempo zu halten.
Ich glitt mit dem Rückwind durch die Luft. Meine Playlist verschönerte das Fliegen und die Lichter der Dörfer, an denen ich vorbeiflog. Der Fluss glänzte im Mondlicht unter meinen Füßen. Es war ein wundervoller Anblick.
Ich flog die erste Strecke ohne größere Anstrengungen und blieb bis Komárom nicht stehen. Meine erste Ruhestation war in der Nähe der Elisabethbrücke, die Ungarn mit der Slowakei verbindet. Im Fliegen nahm ich einen Schokoriegel hervor und steckte sie in den Beutel am Pulli. Ich befand mich sehr hoch in der Luft, genau über der Grenze. Die Brücke war noch ein Stück entfernt. Mit einem kurzen Sturzflug entwich ich dem Wind und fing den freien Fall knapp über dem Wasser wieder auf.
Die letzte Strecke vor der Pause flog ich im gleichmäßigen Tempo über der Donau. Auf einmal war die Musik aus und die Stöpsel verschwanden aus meinen Ohren. Augenblicke später hörte ich einen Platscher hinter mir. Ich griff in die Vordertasche des Pullis und fand nur den Schokoriegel. Scheiße! Mein MP3-Player… Er ist in den Fluss gefallen! Ich landete sofort am Ufer und richtete meinen Blick auf die Wasseroberfläche. Es war zu dunkel, um Details zu erkennen. Die Lampe würde mir auch nicht weiterhelfen.
Die Wahrscheinlichkeit, meinen MP3-Player aus der Donau zu fischen, war niedriger als der Lebensstandard des Landes. Der Strom trieb ihn in den Abgrund. Selbst wenn ich wüsste, wo das Gerät ins Wasser gefallen ist, würde mir das nichts nützen. Ich ärgerte mich über das Missglück, verfluchte alles Mögliche was mir einfiel. Dann lehnte ich mich gegen einen Baumstamm und beugte mich vor. Das war definitiv nicht mein Tag.
Kein MP3-Player, keine Soundtracks zum Fliegen. Ich spazierte dem Ufer entlang und setzte mich auf das Gras. Die Wolken verzogen sich, es wurde heller. Der Mond leuchtete so grell, dass ich die Zutaten des Schokoriegels hätte ablesen können. Ich aß ihn und stopfte die zerknüllte Verpackung in die Tasche.
Nach der Pause war ich wieder energievoll. Ich nahm Anlauf und erhob mich vom Boden, bevor meine Schuhe nass wurden. Je näher ich der Stadt kam, umso höher flog ich. Bei der Brücke blieb ich nicht wie geplant stehen, sondern setze meinen Weg nach Tatabánya fort. Vorhin hatte ich schon eine Pause eingelegt, und außerdem war Komárom im Mondlicht zu hell. Ich beschleunigte meine Flügelschläge.
Bei Tata bog ich südöstlich ab und flog niedriger. Der Wind unterstütze mich nicht mehr beim Fliegen, ich musste mich anstrengen, um das Tempo zu halten. Meine Rücken- und Flugmuskeln brannten von der Belastung.
Ich flog und flog und genoss es, trotz des Pfeifen des Windes in meinen Ohren. Mein MP3-Player unterhält jetzt nur noch Fische, solange die Batterie nicht ausgeht.