»Möchtest du nicht runterkommen?« Alex riss mich nach langen Minuten mit seiner Frage aus meinen Gedanken. »Es ist kühl, du wirst dich erkälten.«
Sein Satz brachte mich zum Schaudern, es war mittlerweile tatsächlich kühl geworden. Ich sprang vorsichtig vom Baum, fing den Sturz mit einem Flügelschlag auf. Der Sprung gelang mir so präzise, dass ich nur wenige Zentimeter vor Alex aufkam. Seine Arme umschlungen mich sofort, er zog mich zu sich. Ich umarmte ihn ebenfalls mit meinen Flügeln und bildete mit ihnen eine Wand, die uns von der Außenwelt trennte.
Alex zog mir mein Shirt und den Pullover wieder an. Er nahm meine Hand und führte mich zum Campingtisch, der neben einer Lagerfeuerstelle stand. Wir setzten uns hin, wickelten die Decken um uns und redeten stundenlang. Irgendwann überrumpelte mich die Müdigkeit. Ich kuschelte mich zu ihm und träumte vom Fliegen.
»Wach auf, mein kleiner Vogel« Alex’ sanfte Worte weckten mich. Seine Arme umarmten und wärmten mich noch genauso wie vor dem Einschlafen. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, worüber wir zuletzt geredet hatten.
»Wie lange hab ich geschlafen?« fragte ich müde und schlüpfte aus seiner Umarmung, um mich aufzurichten.
»Es dämmert« antwortete er. Seine Hand streichelte über meine Wange.
Am östlichen Himmel färbten sich die Wolken schon orange. Sie kamen mir vertraut vor und erinnerten mich an die Tage, an denen ich zu spät von meiner Tour zurückkam.
»Hast du auch geschlafen?«
»Nein, ich nicht. Jemand musste auf dich aufpassen« Alex drückte mir einen Kuss auf die Wange.
»Was hast du die ganze Zeit gemacht?« Hoffentlich hat er sich nicht gelangweilt, während ich geschlafen habe…
»Ich habe über vieles nachgedacht« sagte er kopfschüttelnd.
Ich hätte gerne erfahren, worüber er nachgedacht hatte, doch sein Schweigen verriet mir, dass er es mit mir nicht teilen würde. Außerdem sehnte ich mich nach meinem weichen Bett – mit oder ohne Alex’ Umarmung. Am liebsten mit, aber das war nur ein reizender Gedanke, die Umsetzung konnte ich mir derzeit nicht vorstellen. Es machte mich traurig, dass er heute verreisen musste.
Es war früh, zu dieser Uhrzeit kam ich normalerweise von meinen Ausflügen an. Zu dieser Uhrzeit weckte ich Lucas auf, weil es schon zu hell war, um durch das Fenster in mein Zimmer zu gelangen. Mit diesen Gedanken stand ich auf und rollte gemeinsam mit Alex die Decken zusammen. Wir machten uns auf den Weg ins Warme.
»Wie kommst du ins Haus?« fragte er, als wir bei mir ankamen. Er dachte sicher an das Fenster.
»Durch die Tür.« Ich suchte den Schlüssel aus der Pullovertasche und hielt ihn in die Höhe, als wäre er der wichtigste Gegenstand im ganzen Universum. »Diesmal habe ich ihn nicht vergessen.«
»Ich dachte, du fliegst durchs Fenster« Alex klang enttäuscht.
»Es ist schon zu hell« erklärte ich und gähnte. »Ich möchte nicht, dass die Tante Emma im Nachbarhaus einen Herzinfarkt bekommt.«
»Natürlich nicht« lachte er. Sein schwarzer Pulli bot einen guten Kontrast zu seinen aufgestellten blonden Haaren. Ich fühlte mich schlecht, weil ich seine Frisur im Laufe der Nacht zerzaust hatte. Seine grünen Augen waren von der kalten Luft und der Müdigkeit rötlich, aber dennoch unverändert schön. Wie ich wohl ausschaute, darüber wollte ich mir keine Gedanken machen.
»Blanka?«
»Ja?«
»Die Nacht war schön mit dir« sagte er. »Schade, dass sie schon zu Ende ist.«
»Ja, das war sie« nickte ich und ließ mich von ihm umarmen.
Am liebsten hätte ich ihn gebeten, mit mir ins Haus zu kommen, doch das ging nicht. Er schlug vor, dass ich die Nacht nach der Jahresendefeier, die in zwei Wochen stattfand, bei ihm verbringen könnte. Offiziell würde ich bei Stella übernachten und mit ihr gemeinsam am nächsten Tag ins Klassenlager fahren. Nach kurzem Überlegen überzeugte mich seine Idee und prompt wurde ich von der Vorfreude munterer. Ich konnte es mir nicht verkneifen, mich noch fester an Alex zu schmiegen.
»Ruh dich aus« sagte er. »Viel Spaß in deiner letzten Woche.«
»Danke. Dir auch viel Spaß in Wien« ich legte meine Wange auf seine Brust und atmete den Duft seines Parfüms ein.
Unsere Lippen berührten sich kurz. Zu kurz.
»Du wirst mir fehlen. Du musst wissen, dass du in Gefahr bist, Blanka. Ich hab dich lieb, bitte pass auf dich auf, okay?« Alex küsste mich wieder.
Dass ich mich ständig in Gefahr befand, war eine offensichtliche Tatsache. Ich wollte nicht, dass er sich deswegen Sorgen macht. Schließlich konnte ich auf mich gut aufpassen und jetzt hatte ich auch ihn – zwei weitere Arme, die mich beschützen würden. Mir konnte nicht viel zustoßen, ich fühlte mich sicherer denn je.
»Das tu ich doch immer« sagte ich zitternd. Mir war aus unerklärlichen Gründen auf einmal kalt. »Ich muss jetzt gehen, sonst frier ich oder meine Eltern erwischen uns.« Ich trat einen Schritt zurück.
»Wart noch« Alex griff nach meiner Hand und zog mich zurück.
»Alex…« Ich blickte in seine müde Augen und sah Bedrücktheit.
»Ich ruf dich an« sagte er nach einer langen Pause. »Bis nächste Woche.«
»Bis nächste Woche« wiederholte ich seine Worte und schob den Schlüssel ins Schloss.
Ich schlich mich mit der Geschwindigkeit einer Geheimagentin ins Haus und atmete auf, als ich die warme Luft an meinen Wangen spürte.
Niemand hatte meine Abwesenheit bemerkt. Ich eilte zum Fenster meines Zimmers, um Alex noch ein letztes Mal zu sehen, bevor er verschwand, doch er war nur noch ein kleiner Punkt am Straßenende.
Die letzte Schulwoche verging schnell. Da wir im Unterricht nicht mehr viel zu tun hatten, nutzte ich die Zeit, um die vernachlässigte Freundschaft zu Stella wieder aufzubauen. Nachmittags schauten wir bei ihr Filme an, einmal begleitete sie mich sogar beim Laufen. Ich erzählte ihr viel von Alex, sie hörte mir neugierig zu. Sie freute sich, war dennoch skeptisch. Als sie erfuhr, dass ich vor ihm geflogen bin, geriet sie außer sich und bezeichnete mich als verantwortungslosen Dummkopf. Ich war ihr deswegen nicht böse, schließlich konnte sie meine Denkweise nicht nachvollziehen. Zwar kannte ich Alex erst seit einigen Wochen, dennoch hatte ich Vertrauen zu ihm. Und irgendwann in meinem Leben wäre der Moment der Wahrheit sowieso gekommen. Ob früher oder später, es spielte keine Rolle.
Alex schickte mir ab und zu eine Nachricht, rief mich aber nicht an. Ich hatte so viel Zeit, dass ich das Wochenende auch mit Stella verbrachte. Ihre Eltern waren verreist, die Wohnung gehörte uns. Wir organisierten einen Schönheitstag und probierten alle Pflegeprodukte aus, die sie hatte. Mit Gurkenscheiben auf den Augen legten wir uns in die Sonne, während wir aus unserem selbst gemachten, erfrischenden Fruchtsalat löffelten. Ich half ihr den Koffer für das Klassenlager zu packen und sie gab mir Ratschläge, wie ich in der Woche meine Flügel am besten verstecken könnte. Im Lager musste ich besonders aufpassen, da wir Gemeinschaftsduschen hatten. Und das Korsett würde ich auch rund um die Uhr tragen müssen. Dass es anstrengend wird, war mir durchaus bewusst. Aber Stella wird mir helfen, die Woche zu bewältigen, ohne sie würde ich nicht mitfahren. Ich war froh, so eine tolle Freundin zu haben.
Die Zeit verging schnell mit ihr. Sie lenkte mich von Alex ab, dennoch konnte ich es kaum erwarten, ihn bald wieder zu sehen. Am Sonntag teilte er mir mit, dass er erst am Dienstag zurückfahren würde. Ein Tag mehr oder weniger, dachte ich mir, macht keinen Unterschied. Hauptsache, er kommt bald zurück, weil ich ihn schon unglaublich vermisste.
Der Montag wurde damit auch frei – ein weiterer Tag, den ich mit Stella verbringen konnte. Als ich am Nachmittag bei ihr anklopfte und sie die Tür öffnete, starrte sie mich lange mit ihrem sarkastischen Blick an.
»Gibt’s keinen Alex, bin ich auch gut, hm?« scherzte sie und ließ mich rein.
»Ich weiß, ich habe dich in letzter Zeit ein bisschen vernachlässigt…« gestand ich.
»Ein bisschen« betonte sie.
»Tut mir echt leid. Kommt nie wieder vor…«
»Ach Blanka, du bist über beide Ohren verliebt« Stella umarmte mich. Wie recht sie doch hatte.
Wir setzten uns auf ihr Bett und bestellten die ungesundeste Pizza, die es gab. Um die Zeit totzuschlagen, bis die Pizza ankam, drehten wir wilde Rockmusik auf und tanzten singend dazu. Als Mikrofon verwendeten wir zwei Duschgelflaschen. Wir waren so laut, dass wir das Klingeln des Pizzalieferanten fast überhörten. Vom wilden Hüpfen erschöpft rannte ich zur Tür, zahlte und schmiss die Packung auf Stellas Bett. Wir legten uns hin und warteten, bis wir wieder ordentlich Atmen konnten.
»Was ist nun mit euch?« fragte sie mit vollem Mund.
»Was meinst du?«
»Habt ihr schon…?«
Ich spukte fast die Pizza aus.
»Stella« lachte ich. »Natürlich nicht. Noch nicht.«
»Habt ihr es vor…?« Ihre musternden Augen irritierten mich, hoffentlich kam ich ohne Erröten davon.
»Vielleicht… Ich weiß es nicht. Er küsst mich so leidenschaftlich wie kein anderer es jemals getan hat, doch mehr ist es derzeit nicht« gab ich zu. Ich wollte nicht wissen, was sie sich schon alles ausgemalt hatte.
Stella nahm ein weiteres Stück Pizza aus der Papierschachtel. Ein Stück mit ganz viel Salami. Sie schien über irgendwas zu grübeln.
»Du schläfst am Freitag bei ihm« sagte sie.
Es war ein unangenehmes Gefühl, wenn ich daran dachte, dass Stella an uns dachte. Ich hatte keine Pläne für Freitag und wollte mir auch nichts vornehmen. Alex würde mich nie zu etwas drängen, was mir nicht gefällt, demnach vertraute ich ihm und würde mich mit meinen Gefühlen treiben lassen.
»Ja und?« ich versuchte meine innere Unruhe zu verstecken.
»Ihr werdet doch wenigstens die ganze Nacht kuscheln?« wollte sie wissen.
»Wahrscheinlich. Frag mich am Samstag wieder.«
Themenwechsel. Themenwechsel. Themenwechsel. Ich war rot wie eine Tomate.
»Ich bin schon gespannt« Stella nahm meine Hände und grinste mich an. Ich lächelte zurück, mein Mund zuckte leicht.
»Was ist mit dir? Wo verbringst du die Nacht?«
»Genau hier« sagte sie unbegeistert. »Außer ich lerne einen süßen Jungen kennen…«
Stella war abenteuerlustig und ich traute ihr zu, dass sie die Nacht woanders verbringt.
»Erzähl mal« sagte ich und ließ mich von Freitagnacht ablenken.
Stella erzählte mir über ihre Vorstellungen von einer Beziehung und schilderte mir, wie schön es doch wäre, auf der Feier einen netten Typen kennenzulernen. Irgendwann kam uns die ultimative Idee, ins Kino zu gehen und uns eine Liebeskomödie anzuschauen. Wir machten uns sofort auf den Weg und improvisierten. Am Ende entschieden wir uns für eine süße 3D-Animation mit zwei Tüten Popcorn. Nach der Vorstellung ließen wir die 3D-Brillen aus Spaß an und spazierten so wieder zu ihr nach Hause. Um auch etwas Gesundes zu essen, verarbeiteten wir die restlichen Früchte wieder zu einem Fruchtsalat.
Daheim hatte ich nichts zu tun, da die Schule aus war. Zu einem Training war mein Bauch zu voll. Ich erledigte den Abwasch, staubsaugte das ganze Haus und reinigte die Fliesen in der Küche und in den Badezimmern. Als meine Mutter ankam, glänzte jeder Quadratzentimeter. Sie strahlte vor Freude mit dem Haus um die Wette und wollte nicht glauben, dass ich diese makellose Arbeit entrichtet hatte. Die Vorfreude und die Hausarbeit fraßen meine Energie weg. Am Abend war ich in einem Zustand, den ich normalerweise nur nach einem langen Training erreichte. Alex’ Ankunft rückte langsam näher, ich konnte vor Freude keine anspruchsvolleren geistigen Tätigkeiten ausführen. Wenn sich Alex seiner Auswirkung auf meine Gefühle bewusst wäre… Ich startete eine Playlist und fing an wild zu tanzen, diesmal ohne Stella.