Ich war erschöpft. Ich wollte mich hinlegen und schlafen. Ich wollte nach Hause in mein gemütliches Bett. Nach Hause in mein buntes Zimmer, das mir so sehr fehlte. Ich war schon kurz davor, aufzugeben, als vor meiner Nase eine Bürotür aufging und ich erschrocken zur Seite sprang. Drei Männer traten aus dem Raum, sahen mich an und wollten wissen, was ich hier zu suchen hatte. Instinktiv blickte ich nach hinten und sah die bewaffneten Männer aus dem Lift steigen. Sie kamen. Ich stieß die Männer um und flüchtete ins Büro. Sie waren auf meine Reaktion nicht vorbereitet, deshalb leisteten sie auch keinen Widerstand. Ich schlug die Tür zu. Der Schlüssel war im Schloss, ich drehte ihn zweimal um die Achse.
Das Büro war menschenleer. In der Mitte des Raumes stand ein riesiger, runder Konferenztisch. Ich griff zu einem Stuhl und klemmte ihn unter die Türklinke ein, dann lief ich zum Fenster. Das nächste Gebäude schien nicht weit weg zu sein. Ich riss den Pullover von meinem Leib und zog meine blutigen Flügel schmerzhaft auseinander. Mit dem nächst liegenden Stuhl schlug ich solange gegen das Fenster, bis das Glas endlich nachgab und zersplitterte. Ich steckte all die Wut und Angst in die Zerstörung, die sich im Institut in mir angesammelt hatte.
Ohne zu zögern stieg ich zwischen den Glasscherben ins Fenster und blickte nach unten. Das Schwindelgefühl überrumpelte mich, aber es blieb nichts anderes übrig. Die Türklinke bewegte sich unaufhörlich, ich musste es tun. Ich musste springen. Doch wie ich nach unten schaute, wurde es mir schwindlig. Worauf wartete ich noch? Ich hatte das schon unzählige Male getan. Aber nicht mit einem verletzten Flügel, hörte ich die innere Stimme.
Ein Schuss ertönte. Noch einer. Ich war schon derart nervös, dass die Knalle mich nicht einmal erschreckten. Nach einem weiteren Schuss ging die Tür auf und die Männer drangen in den Raum.
Spring endlich, ermutigte ich mich. Ich traute mir das Fliegen nicht ganz zu, doch wenn ich es nicht tat, würden sie mich fangen und mich wieder in das sterile Zimmer sperren. Meine Hände schwitzten und rutschten fast vom Fensterrahmen. Wie ich den Blick erhob, sah ich das Meer vor mir.
Ich sprang und hoffte, das ich auf dem Dach des Hochhauses gegenüber ankommen würde. Die Landung warf mich zu Boden, es dauerte einige Sekunden, bis ich mein Gleichgewicht wieder fand. Ich hörte weitere Schüsse hinter mir und konnte nicht entscheiden, ob sie mich lebend oder tot haben wollten. Ich ignorierte den Schmerz in meinem Flügel, lief über das Dach und sprang wieder.
Das nächste Gebäude war wieder nicht weit weg, aber ich hatte die Distanz überschätzt und meine Flügel ließen mich auch in Stich. Statt auf dem Dach zu landen, stürzte ich in die Tiefe und näherte mich mit hoher Geschwindigkeit dem Asphalt. Mein Körper verbog sich komisch, als ich versuchte, mit den Flügeln zu schlagen. Der Schlag des linken Flügels reichte nicht aus, um den Sturz auffangen zu können.
Ich durfte noch nicht sterben, ein ganzes Leben wartete auf mich. Ich hatte Träume und Ziele und es war noch zu früh, um diese Welt zu verlassen. Mit meinen letzten Kraftreserven fing ich den Sturz auf, knallte aber trotzdem mit beiden Händen und Knien hart gegen den Boden. Der Asphalt schlitzte meine Haut auf, doch der Schmerz blieb aus, mein Bewusstsein reagierte nicht darauf. Die Umgebung drehte sich vor meinen Augen.
Ich hörte ein tiefes Brummen, kurz später erschien ein schwarzer Fleck am Himmel. Es war ein Hubschrauber, der die Gasse durchstöberte. Mein einziges Glück war, dass es in der Gasse dunkel war und sie mich aus dem Hubschrauber nicht sehen konnten.
Ich wollte mich aufrichten und rennen, fiel aber bei jedem Versuch wieder hin. Statt wegzurennen, verkroch ich mich deshalb zwischen den schwarzen Müllsäcken neben einer Mülltonne und hoffte, mich auf diese Weise tarnen zu können. Es war keine angenehme Angelegenheit, doch da ich mich kaum mehr bewegen konnte, war das meine einzige Chance, unterzutauchen.
Der Hubschrauber flog immer wieder vorbei. Ich freundete mich schon mit dem Gedanken der ewigen Gefangenschaft an, als er plötzlich die Richtung wechselte und wegflog. Erschöpft schloss ich meine Augen und hörte dem schnellen Klopfen meines Herzens zu. Das Klopfen war aggressiv und müde zugleich, mein Herz hatte genug, es war ermüdet. Als würde es mir mitteilen, nicht mehr mitmachen zu wollen. Doch in Kürze musste ich auch von hier weg, raus aus dieser Gasse, weg aus dieser Stadt. Würde ich hier verharren, so würden sie mich bald finden und ich hätte nie wieder die Möglichkeit, zu fliehen.
Ich lag minutenlang erschöpft zwischen den Müllsäcken und versuchte mich zu überzeugen, dass der Hubschrauber nicht zurückkommen würde. Mein Überlebensinstinkt schaltete sich wieder ein und mir wurde klar, dass ich der Erschöpfung nicht nachgeben durfte. Es war nur eine Frage von Minuten, bis sie kommen und mich holen würden. Oder warteten sie nur darauf, dass ich die Gasse verließ? Wenn sie bei den zwei Ausgängen der Gasse standen, so wären alle meine Fluchtwege abgeschnitten. Es gäbe somit keinen Ausweg.
Ich kletterte von den Müllsäcken und stellte ungewollt fest, dass ich nach verfaulten Bananen, Toast und Fastfood roch. Der spezielle Anzug war beschmutzt, meine schlaffen Flügel waren dunkel vor Dreck. Meine Augen suchten nach einen möglichen Fluchtweg, der aus dieser Gasse führte. Jede Bewegung fiel mir schwer, doch letztendlich konnte ich aufstehen und die zwei Möglichkeiten, die ich hatte, abwägen.
Sie könnten überall sein. Sie könnten überall auf mich warten. Ich blickte in beide Richtungen. Vor mir war eine breite Straße, hinter mir ein schmaler Weg. Ich zögerte kurz, machte dann ein paar Schritte Richtung kleinere Straße und hoffte, dass sie mir eine höhere Chance bieten würde, zu entkommen. Meine Beine wollten nicht mehr, ich fiel wieder hin und rieb mir die Hände erneut auf. Hinter mir ertönte die Hupe eines Autos und ich wusste sofort, dass es vorbei war.
Sie hatten mich gefunden. Es war zu erwarten. Schließlich war ein blöder Sender in meinem Flügel, mit dessen Hilfe sie mich jederzeit lokalisieren konnten. Es war ein Fehler, zu glauben, ich könnte vor einem Haufen ausgebildeter Soldaten entkommen… Ich blieb am Boden und schloss meine Augen, um mich zu ergeben.
Ich hörte weder Schritte, noch Autos, die auf mich zukamen. Niemand hatte mich berührt oder vom Boden hochgerissen. Stattdessen hupte es wieder und ich riss den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Am Ende der Gasse stand ein großer, schwarzer Wagen mit abgedunkelten Scheiben. Es war wieder das gleiche Auto, mit dem ich transportiert wurde. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, bis sich die Beifahrertür öffnete. Ich wollte aufstehen und wegrennen, stürzte aber wieder auf den Boden, mein Körper unterstützte mich nicht mehr bei der Flucht.