Als ich aufwachte, lag ich alleine in einem großen Doppelbett. Der Raum war angenehm dunkel, ich musste meine Augen nicht zusammenkneifen. Ich versuchte, meine Flügel zu bewegen, aber sie waren schwer und regten sich nicht. Der Versuch, aufzustehen, scheiterte ebenfalls. Meine brennenden Muskeln antworteten nicht auf meine Befehle. Alleine mein Kopf ließ sich mühsam steuern, also schaute ich über die Schulter nach hinten.
Es war nicht deswegen dunkel im Raum, weil es Nacht war, sondern weil jemand die Vorhänge zugezogen hatte. Die Sonnenstrahlen drangen durch einen kleinen Spalt in das Zimmer und zeichneten Muster auf den hellen Teppichboden. Mein rechter Flügel lag komplett eingewickelt neben mir, der linke schmiegte sich, ebenfalls von Verband eingehüllt, an meinen Rücken. Die herausragenden Federn stachen von der Farbe der Bandagen ab. Mein erster Gedanke war, sie zu waschen, doch wie würde ich das anstellen? Und wo war ich überhaupt? Ich ließ meinen Kopf wieder in das hellgelbe Kissen sinken und dachte viel nach, bis ich die Entscheidung traf, aufzustehen, so schwer es auch war.
Meine Arme taten genauso weh wie meine Flügel. Ich stütze mich langsam auf und setzte mich an den Bettrand. Von hier aus konnte ich das ganze Zimmer sehen. Die Wände waren pastellgrau, mir gegenüber befand sich ein kleines Badezimmer. Ich stand auf und kämpfte mit jedem Schritt gegen die Schwerkraft an, meine Beine waren schwach und müde.
Im Badezimmer lehnte ich mich gegen das Waschbecken und suchte den Lichtschalter. Als das Licht anging, kniff ich die Augen zusammen, es war mir zu hell. Ein starker Schmerz verbreitete sich in meinen Flügeln und ich drückte sie gegen meinen Bauch, doch es half nichts. Verzweifelt ließ ich sie wieder nach hinten fallen. Wenn es weh tun muss, dann soll es weh tun, dachte ich mir verärgert. Irgendwie werde ich es überleben, der Schmerz wird irgendwann von alleine nachlassen. Statt mich weiterhin damit zu beschäftigen, schaute ich in den Spiegel, der über dem Waschbecken befestigt war.
Ich sah übermüdet aus, mein Gesicht glich dem eines Kettenrauchers. Dunkle Schatten zierten meine Augen, die Haut drumherum war blass. Wie lange hatte ich geschlafen? Was für ein Tag war heute? Die abwechslungslosen Tage im Institut kamen mir surreal vor. Wie ich mein Spiegelbild betrachtete, fiel mir auf, dass jemand mein Gesicht gereinigt hatte. Der ganze Schmutz war weg, meine Haut schien rein zu sein. Mein Blick glitt meinem Körper entlang zu meinen Füßen. Ich hatte nicht mehr den schwarzen Spezialanzug an, sondern ein weißes Top und eine weiße Hose. Genau dieselben Sachen, die ich im Institut tragen musste… Mir wurde es sofort schlecht. Ich bückte mich zur Toilette, aber es kam nichts hoch, mein Magen war leer. Ich riss mir die weißen Kleider vom Leib und entdeckte die fremde Unterwäsche. Super… Ich wurde auch noch umgezogen. Mein Magen drehte sich beim Gedanken, von fremden Händen angefasst zu werden. Ich knüllte das Gewand zusammen und schmiss es in die Badewanne, dann drückte ich hoffnungsvoll die Stirn gegen die kühlen Fliesen. Langsam ließ ich mich auf den Boden sinken und versuchte, an nichts zu denken.
Ich wurde wieder wach, als sich draußen die Tür öffnete. Meine Aufmerksamkeit richtete sich von den Traumfetzen auf die leisen Stimmen, die aus dem Zimmer kamen. Ich spitzte die Ohren, doch die Stimmen verstummten bevor ich das Gehörte entschlüsseln konnte. Nach einigen Sekunden hörte ich leises Flüstern.
»Wo ist sie?« fragte jemand.
Ich riss den Kopf panisch in die Richtung der aufgehenden Badezimmertür. Alex stand vor mir, er schaute mich nervös an. Hinter ihm erschien eine zweite Person. Er hatte dunkelbraune Haare und war größer als Alex, doch seine grünen Augen erinnerte mich an ihn. Die Angst drängte mich zur Flucht, ich sprang auf und lief auf die Tür zu, doch anstatt ins Zimmer zu gelangen, landete ich in den Armen von Alex. Er griff fest zu und ließ mich nicht weglaufen.
»Lass mich los!« schrie ich.
Es musste irgendetwas Beängstigendes in meiner Stimme gewesen sein, da er mich sofort losließ. Der Unbekannte, der Alex’ grünen Augen hatte, wich mir auch aus. Ich hinkte an ihm vorbei und fiel dabei fast um. Draußen entdeckte ich die noch offen stehende Ausgangstür und rannte halbnackt aus dem Zimmer.
»Blanka, nicht!« brüllte eine tiefe Stimme hinter mir.
Zwei Sekunden später hinderten mich vier starke Arme an meiner Flucht und zerrten mich zurück ins Zimmer. Mir wurde plötzlich bewusst, was ich getan hatte. Ich war mit bloßen Flügeln die Tür hinausgerannt, ohne an die Konsequenzen zu denken. Jeder hätte mich sehen können, es war ein verantwortungsloser Zug von mir.
Ich ließ mich widerstandslos in das Zimmer tragen. Zwei von vier Armen ließen mich los, um die Tür abzusperren. Ich stellte entsetzt fest, dass mich Alex noch immer festhielt. Mit einer schnellen, aber schmerzhaften Bewegung befreite ich mich aus seinem Griff und wich zurück. Ich wollte so weit weg von ihm sein, wie es in diesem Augenblick nur möglich war. Er dachte, dass ich wieder fliehen würde und kam mir nach, um mich wieder festzuhalten.
»Fass mich bloß nicht an!« fauchte ich.
Alex blieb stehen. Ich schwankte zum Bett und setzte mich hin.
Der andere Mann ging mit langsamen Schritten zu Alex. Beide lehnten sich an die Wand. Es war Ruhe, endlich Ruhe. Ich hörte nur ihr Atmen und mein rasendes Herz. Ich war nicht in der Lage, etwas zu sagen oder zu tun. Was hätte ich denn auch sagen können? Ich wollte einfach in Ruhe gelassen werden.
Die Spannung wurde nach und nach unerträglicher. Ich hoffte, dass einer von den beiden die Stille brechen würde, aber sie schwiegen weiterhin. Alex starrte den Teppich an und vergaß dabei zu blinzeln. Der Unbekannte betrachtete mich, ich sah ihm entgegen. In seinem Gesicht war etwas Vertrautes, das mich an ihn erinnerte… Er kam mir bekannt vor, obwohl ich mir sicher war, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Ihm schien die Situation leid zu tun.
»Wo bin ich?« flüsterte ich ungeduldig. Ich wollte endlich wissen, wo ich mich befand und aus welchem Grund hier war.
Alex erhob den Kopf, ich blickte jedoch nicht zu ihm rüber. Der Fremde zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte eine überraschend beruhigende Wirkung auf mich.
»Wir sind in Kanada« hörte ich Alex. »In ein paar Tagen darfst du nach Hause.«
Ich blickte ungewollt in seine grünen Augen. Wieder daheim. Na klar.
»Ach ja?« der verzweifelte Sarkasmus war nicht zu überhören.
Alex machte einen Schritt zu mir.
»Nein« sagte ich entschlossen und streckte den linken Arm aus, als würde diese Bewegung ihn stoppen. Alex blieb tatsächlich stehen, trat zurück und lehnte sich wieder an die Wand.
»Michael, könntest du bitte die Lebensmittel in den Kühlschrank stellen?« fragte er den Fremden. Sein Name war also Michael.
»Natürlich« sagte dieser mit weicher Stimme und ging zu den Einkaufstaschen, die neben der Tür lagen.
Lebensmittel, Kühlschrank… Etwas zu essen. Mein Magen knurrte laut und erinnerte mich daran, wie hungrig ich war.
»Ehm wie?« fragte ich aufgeregt.
»Wir haben eingekauft. Bist du hungrig?« Alex schaute Michael zwar zu, seine Frage war jedoch an mich gerichtet.
»Ja, sehr…«
Ich stand vorsichtig auf, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Die Vorfreude auf die Lebensmittel, die Michael in die kleine, bislang unentdeckte Küche trug, war riesig. Alex’ Anwesenheit störte mich auf einmal nicht mehr, ich konnte nur noch ans Essen denken.
»Wie lange habe ich geschlafen?« fragte ich, um die Zeit bis zum ersten Bissen zu vertreiben.
Alex schaute auf seine Uhr.
»Über achtzehn Stunden. Es ist gleich elf.«
Über achtzehn Stunden? Wie war das möglich? Meine Augen musterten die weiße Einkaufstasche, die Michael auf den Tisch legte.
»Du hattest einen anstrengenden Tag« fügte Alex noch hinzu.
Meine Aufmerksamkeit wurde von den bunten Sachen abgelenkt, die auf den Tisch kamen. Brot… Schinken… Milch… Essen. Es war unbedeutend, wo ich war und was passieren würde, ich musste sofort meinen Hunger stillen. Ich setzte mich an den Tisch und schaute Michael ungeduldig beim Herrichten zu. Alex nahm drei Tassen hervor und füllte sie mit Milch auf.
Ich setzte mich mit dem ersten Sandwich zum Tisch und verschlang es in Begleitung von zwei Tassen Milch. Michael war beim Brotbelegen nicht so schnell wie ich beim Essen, also beschloss ich, ihm zu helfen.
Nach fünf Sandwichs und einem Liter Milch war ich endlich satt. Mein Magen tat weh und ich konnte kaum atmen, aber dieses Gefühl war noch immer erträglicher als der Hunger, den ich davor verspürt hatte. Ich lehnte mich nach hinten und hielt mich am Tischrand fest. Michael und Alex richteten sich ihre eigenen Sandwichs her und aßen sie, im Gegensatz zu mir, langsam auf.
»Danke« sagte ich, als sie fertig waren. Am liebsten hätte ich mich hingelegt, das Essen machte mich müde. Allerdings fand ich die achtzehn Stunden, die ich geschlafen hatte, schon zu viel.
»Wir haben einige Sachen für dich eingekauft. Du findest sie auf der Nachtkommode« sagte Alex.
Ich schaute mich an und wurde dabei fast rot. Ich war halbnackt. Die weißen Kleider hatte ich im Badezimmer entsorgt, sie lagen in der Wanne und würden auch dort bleiben. Ich stand mühsam auf und ging zur Kommode, auf der ein großer weißer Sack lag. Dass ich nur ein Höschen und einen BH anhatte, störte mich in dem Moment wenig. Viel mehr machte ich mir wegen der Panik Sorgen, die immer, wenn ich ungewollt zu Alex schaute oder ihn in meinem Blickwinkel hatte, in mir aufstieg.