»Du hast meine Cousine gekannt?« fragte ich erstaunt und versuchte, den Zusammenhang zu erkennen.
»Ich habe deine Cousine gekannt« wiederholte Alex. »Nicht persönlich, aber ich weiß, wer und wo sie ist.«
»Camilla ist noch am Leben?« Die Erkenntnis trieb mir Tränen in die Augen.
»Ja, sie lebt noch« bestätigte er.
Auf einmal stellten sich zu viele Fragen. Woher kannte Alex meine Cousine? Wie konnte es sein, dass sie noch am Leben war? Was war mit ihr passiert?
»Du fragst dich sicher, woher ich sie kenne« setzte Alex fort. »Es ist schon viele Jahre her. Ich war noch in der Highschool, als mein Bruder darüber berichtete, dass das Institut ein Mädchen mit Flügeln eingefangen hatte. Davor hatten sie noch nie mit etwas Vergleichbarem zu tun.«
Mir wurde es schwindlig von dem, was mir Alex erzählte. Wie war es möglich, dass Camilla auch Flügel hatte? Konnte sie fliegen? Wie konnte mit ihr dasselbe passieren wie mit mir? Das Institut hatte nicht nur mein Leben zerstört, sondern auch Camillas Zukunft ruiniert.
»Wo ist sie jetzt?« fragte ich. Meine Stimme zitterte.
»Immer woanders. Sie wird von Institut zu Institut geschleppt« sagte Alex.
Mir kam das Essen fast hoch. Solche Institute dürften nicht existieren. Ich hatte Camilla schon vor Jahren losgelassen, doch die Gewissheit, dass sie lebte und gefangen gehalten wurde, war schlimmer als der Gedanke, dass sie nicht mehr unter uns war.
»Woher weißt du, dass sie am Leben ist?« fragte ich verzweifelt. Wenn es schon Jahre her war, dass Alex von ihr gehört hatte, könnte sie an der Gefangenschaft längst gestorben sein.
»Als du im Institut ankamst, hörte ich einige darüber reden, wie ähnlich ihr euch seid. Ich habe ein wenig recherchiert und weiß deshalb mit Sicherheit, in welchem Institut sie sich zu dem Zeitpunkt befand.«
»Können wir sie retten?« meine Stimme bebte. Die Tränen flossen unaufhaltbar aus meinen Augen.
»Das ist unmöglich« sagte Alex.
»Sie dürfen Camilla nicht gefangen halten, das weißt du auch!« weinte ich.
»Blanka…«
»Alex nein! Wir müssen sie retten… Versprich mir, dass wir sie retten werden!« flehte ich ihn an.
»Wir können zurzeit nichts unternehmen« versuchte mich Alex zu beruhigen. »Wir sind selbst auf der Flucht.
»Wo war sie als ich eingeliefert wurde?« fragte ich leise und griff nach der Tasse, um meine kalten Finger aufzuwärmen. Mein Herz schlug schnell.
»In Toronto wurde sie wichtigen Leuten hergezeigt.«
»Sie wird also präsentiert wie ein Zirkustier? Wäre das auch mein Schicksal geworden?«
»Ich weiß es nicht, Blanka« flüsterte Alex. Seine Augen glänzten.
»Wann bist du draufgekommen, dass Camilla meine Cousine ist?«
»Ich habe es von Anfang an gewusst« gestand er. »Im Institut hat es jeder gewusst. Camilla hat schließlich neben dir gewohnt.«
Ich blickte traurig auf das zerrissene Gebäck und schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid, Blanka« sagte Alex. »Ich weiß, dass ihr euch sehr nahegestanden seid. Aber jetzt müssen wir so schnell wie möglich verschwinden. Nur wenn wir es schaffen, hat Camilla eine Chance.«
»Ich verstehe« es ergab keinen Sinn, das Gegenteil zu behaupten. Alex hatte recht. Wir mussten erst uns selbst in Sicherheit bringen, bevor wir sie retten konnten.
»Ich verspreche dir, dass wir ihr helfen werden.«
»Du hast mir schon einiges versprochen« seufzte ich.
»Blanka…« Alex sah mich bedrückt an. »Ich kann verstehen, wenn du kein Vertrauen mehr in meine Worte hast. Du hast einen guten Grund mich zu hassen. Aber ich kann dennoch nicht zulassen, dass Camilla weiterhin eingesperrt wird, nachdem ich gesehen habe, was sie mit dir alles angestellt haben« sagte er. »Wir werden sie befreien.«
»Befreien? Und glaubst du, dass sie danach frei ist? Glaubst du, dass ich frei bin? Alex, die Freiheit existiert für uns nicht mehr« schüttelte ich den Kopf. »Sie werden uns verfolgen. Ich kann nicht wieder dort ansetzen, wo mein altes Leben beendet wurde. Ich kann nicht wieder nach Hause, als wäre nichts passiert.«
»Es muss eine Lösung geben« blickte er in die Ferne.
»Ich werde nie frei sein« flüsterte ich.
»Sag das nicht, Blanka. Wir werden eine Lösung finden. Es wird vielleicht ein langer Weg, aber am Ende siegt die Gerechtigkeit.«
»Ich glaube nicht an die Gerechtigkeit.«
Alex griff nach meinen Händen und drückte sie.
»Wir müssen jetzt stark sein« meinte er.
Ich sah in seine Augen und nickte.
Alex führte mich zu seinem Bekannten, der schon auf uns wartete. Er ließ meine Hand los, um mich umarmen zu können. Ich schlang meine Arme um seine Taille und legte den Kopf sanft auf seinen Brustkorb.
»Versprich mir, dass du auf dich aufpasst« sagte er.
»Ich werde auf mich aufpassen« versicherte ich ihn.
»Und dass du im Flieger mit niemandem sprichst« setzte er fort.
»Habe ich nicht vor« murmelte ich.
Alex küsste mich auf die Stirn.
»Ich bin übermorgen bei dir. Guten Flug, Liebes.«
»Danke« ich hielt mich fest an ihm, doch er befreite sich geschickt aus der Umarmung und übergab mich seinem Bekannten.
»Bis bald, Blanka« Alex streichelte noch ein letztes Mal über meine Wange.
»Bis bald« verabschiedete ich mich.
Alex‘ Bekannte führte mich durch die Gänge des Personals aus dem Gebäude. Wir stiegen in einen Wagen und fuhren zum Flugzeug. Er wechselte ein paar Worte mit den Stewardessen, die mir dann einen freien Sitzplatz im hinteren Teil der noch leeren Maschine zeigten. Kurz später stiegen die restlichen Passagiere ein und ich rollte mich auf dem Sitz zusammen, um möglichst unauffällig zu bleiben.
Der Flieger beschleunigte und hob ab. Ich hatte das Glück, am Fenster zu sitzen und betrachtete die immer kleiner werdende Stadt. Ich sah noch kurz die untergehende Sonne und die orange gefärbten Wolken, dann wurde der Himmel langsam dunkel, wir flogen in die Nacht hinein.
Ich wurde auf die Lautsprecherdurchsage munter, die unsere baldige Ankunft am Flughafen in Frankfurt ankündigte. Traurig stellte ich fest, dass ich das Frühstück verschlafen hatte. Um die Zeit bis zur Landung zu vertreiben, fischte ich den Reisepass aus der Tasche und blätterte ihn durch. Es war ein biometrischer Pass und ich wunderte mich wieder, woher Alex meinen Fingerabdruck und die Unterschrift hatte. Kurz tauchte der Gedanke auf, dass er schon vor meiner Entführung gewusst haben musste, welche Daten er brauchen wird. Ich schob ihn beiseite und schnallte mich für die Landung an.
In Frankfurt stieg ich nervös aus dem Flieger und ging mit der Masse Richtung Ausgang. Nachdem ich bei der Passkontrolle durchgelassen wurde, atmete ich auf und machte mich auf die Suche nach Alex‘ Schwester.
»Hi. Bist du die Blanka?« hörte ich eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und mein Mund blieb offen.
Laut Alex war Michelle neunundzwanzig, aber ich konnte es ihm nur schwer glauben, seine Schwester wirkte viel jünger. Michelle sah atemberaubend aus, genauso wie ihre zwei Brüder. Die Schönheit lag anscheinend in der Familie. Ich lächelte sie an und versuchte, sie nicht zu auffällig zu bewundern.
»Ja, das bin ich« antwortete ich. Michelle umarmte mich und ich zögerte nicht, ihre Umarmung zu erwidern.
»Du bist genauso hübsch wie dich Alex beschrieben hat« meinte sie und ließ mich wieder los. »Ich bin Michelle, Alex‘ Schwester.«
»Das habe ich mir schon gedacht« grinste ich. »Wohin gehen wir? «
»Hast du schon was gegessen?« fragte sie.
»Ich habe das Frühstück verschlafen« gestand ich.
Michelle lachte und ich konnte auch nicht anders. Sie hatte eine positive Wirkung auf mich. Außerdem war ich erleichtert, heil in Europa angekommen zu sein.
Nachdem ich mir am Flughafen eine Portion Hühnchen vom Asiaten geholt hatte, spazierten wir zum Parkplatz. Während wir zum Hotel fuhren, erfuhr ich mehr über Michelle. Sie lebt in Berlin mit ihrem Ehemann und ihren zwei kleinen Kindern, zu denen sie zurückfahren würde, sobald Alex in Frankfurt ankam. Nebenbei arbeitet sie als Modell für verschiedene Zeitschriften, was mich nicht überraschte, weil Michelle wunderschön und zierlich war. Einerseits war ich froh, dass sie über sich redete und mir kaum Fragen stellte, andererseits fragte ich mich, wie viel sie schon wusste. Hatte Alex ihr verboten, mich auszufragen?
Wir checkten in einem Hotel ein, das sich als Gasthäuschen entpuppte. Das Zimmer hatte ein großzügiges Doppelbett, dafür aber eine winzige Dusche, die ich sofort in Anspruch nahm. Da ich mir nicht sicher war, ob Michelle von meinen Flügeln Bescheid wusste, befestigte ich sie noch im Badezimmer mit dem Verband an meiner Taille und zog ein Shirt drüber.
Ich wollte nicht den ganzen Tag im Zimmer sitzen, also schlug ich Michelle vor, in die Stadt zu gehen. In Frankfurt durfte ich auf die Straße, jedoch hatte mir Alex ans Herz gelegt, die Sonnenbrille zu tragen. Es war ein sonniger Tag, also war ich niemandem eine Erklärung schuldig. Ich setzte sie auf und verließ mit Michelle das Hotel.
Wir spazierten lange durch die Innenstadt. Nach einer Weile kam uns der Hunger und wir setzten uns in ein kleines Restaurant. Mir wurde langsam bewusst, wie sehr ich auf die Hilfe von Alex‘ Familie angewiesen war. Allein wäre ich verloren, vor allem in so einer Großstadt. Ich musste ihnen vertrauen, um wieder nach Hause kommen zu können.
Nach dem Essen zerrte ich Michelle in ein Einkaufszentrum und hielt Ausschau nach preisgünstigen Kleidungsstücken. Mit großer Freude stellte ich fest, dass wir einen ähnlichen Modegeschmack teilten und ließ mich von ihr beraten.