Misstrauisch schaute Lucius Malfoy aus dem Fenster seines Arbeitszimmers dem sich entfernenden Pärchen auf seinen Ländereien nach. Er hatte sich über die Bitte von Severus, erneut dem Kräutergarten von Narzissa einen Besuch abstatten zu dürfen, gewundert, doch der wenig überraschte Blick seiner Frau ob dieser Mitteilung hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sie erneut dahinter steckte. Er konnte sich nicht vorstellen, was genau sie damit bezweckte, denn Severus hatte kurz nach seiner Ankunft am frühen Nachmittag nach Hermine gefragt und war mit ihr zusammen aufgebrochen. Falls sie sich bei ihm ausgeheult hatte, dass ihr ach so abweisender Ehemann sie noch immer nicht zurück ins gemeinsame Bett ließ, so würde ein Severus Snape im Kräutergarten da sicher nicht viel dran ändern. Warum also war er hier, wenn er den größten Teil der Zeit außerhalb des Hauses verbringen wollte?
Und warum hatte er erneut Hermine mitgenommen? Warum hatte sie nicht im Geringsten verängstigt gewirkt wie noch am Wochenende zuvor, sondern – falls er ihr Mienenspiel inzwischen tatsächlich richtig zu deuten wusste – eher noch ein Lächeln unterdrücken müssen? Freute sie sich darauf, mit jenem Mann, der sie brutal vergewaltigt hatte, Zeit alleine zu verbringen? War irgendwann in den vielen Stunden, die sie am letzten Wochenende zusammen verbracht hatten, irgendetwas zwischen seinem alten Freund und seiner Sklavin geschehen, was sie … einander näher gebracht hatte? Und wenn ja, was war es? Wieso hatte sie ihm gegenüber so eine klare Grenze gezogen, ihm, der immer gut zu ihr gewesen war, der ihr rechtmäßiger Besitzer war, der ihre Sexualität wahrhaft erwachen lassen konnte? Hermine Granger gehörte ihm!
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Schweigend folgte Hermine den schnellen Schritten ihres ehemaligen Lehrers über den inzwischen bekannten Pfad. Zu ihrer Erleichterung war er diesmal so vorausschauend gewesen, ihr ein Paar warmer Stiefel und einen gefütterten Mantel herbei zu zaubern, ehe sie aufgebrochen waren, denn inzwischen zeigte der November sich so, wie man ihn kannte: nass, kalt, stürmisch.
Obwohl er seit seiner Ankunft kein Wort zu ihr gesprochen hatte, fühlte Hermine eine merkwürdige Ruhe, die er in ihr auslöste. Gewiss, das Gefühl der Panik und das Entsetzen, das sie stets bei der Erinnerung an die Vergewaltigung verspürte, waren geblieben, doch ihr Verstand hatte ihr, kaum dass er das Haus betreten hatte, deutlich gemacht, dass der Grund für seinen Besuch nur sie selbst sein konnte. Oder besser: ihr gemeinsamer Plan für den Sturz des Dunklen Lords. Sie hatte sich arg beherrschen müssen, um nicht offene Freude auszudrücken bei dem Gedanken, dass er sie vielleicht jetzt schon in seine Pläne einweihen würde. Sie brauchte in den vielen Stunden, die sie alleine im Anwesen der Malfoys verbrachte, irgendetwas, um ihre Gedanken zu beschäftigen – und das Ausarbeiten eines Planes wäre dafür genau das Richtige.
„Kennen Sie sich mit Legilimentik aus, Miss Granger?“, begann Snape aus dem Nichts heraus das Gespräch. Hermine brauchte einen Moment, um sowohl die plötzlich durchbrochene Stille als auch die unerwartete Frage zu verarbeiten, ehe sie erwiderte: „Was heißt auskennen? In Hogwarts wird weder Legilimentik noch Okklumentik unterrichtet, wie Sie sehr wohl wissen. Als Sie damals für eine kurze Zeit Harry darin unterrichtet haben, habe ich mich in der Bibliothek dazu belesen. Aber das ist alles nur theoretisches Wissen.“
„Immer für ein wenig Lektüre neben der Schule zu haben, mh?“, kommentierte Snape in einem Tonfall, den Hermine weder als lobend noch als verächtlich identifizieren konnte. Dann fuhr er fort: „Theoretisches Wissen genügt für den Augenblick. Erzählen Sie mir, was Sie wissen.“
Unsicher, wohin diese Fragen führen sollten, zögerte Hermine einen Augenblick, ehe sie entschied, dass es vorläufig egal war, was Snape von ihr wollte. Es hatte sicher einen Sinn, warum er sie danach befragte, also konnte sie genauso gut eine Antwort geben: „Legilimentik wird von Unwissenden, insbesondere von Muggeln, häufig als das Lesen von Gedanken ausgelegt. Das ist es aber nicht. Es ist nicht möglich, die Gedanken eines anderen Menschen einfach so zu lesen. Zumindest nicht normalerweise, die besondere Verbindung von Voldemort zu Harry hat ja gezeigt, dass die magische Wissenschaft längst nicht alles weiß über dieses Gebiet. Abgesehen von solchen Fällen jedoch kann ein Zauberer, der erfolgreich einen legilimens auf sein Opfer angewendet hat, in dessen Erinnerungen lesen, seine Gefühle erforschen und eventuell sogar, falls er sehr begabt ist, bemerken, falls er belogen wird. Es ist jedoch mehr oder weniger unmöglich, die aktuellen, wild durcheinander fliegenden Gedanken eines Opfers zu lesen.“
Hermine meinte, ein feines Lächeln um die Mundwinkel von Snape spielen zu sehen, doch als er sprach, war sein Tonfall so frei von Emotionen wie zu Schulzeiten, wenn er als Lehrer die Antwort eines Schülers analysiert hatte: „Das ist korrekt. Mit Legilimentik kann man hauptsächlich Erinnerungen des Opfers lesen. Diese bleiben als Bilder, zu denen Gefühle gehören, im Kopf abgespeichert und können so durchsucht werden. Es erfordert sehr viel Übung, durch den Verstand eines anderen Menschen zu suchen und selbst wenn man den Spruch erfolgreich gesprochen hat, kann ein weniger begabter Zauberer eventuell gar nichts finden oder wird gar von der Flut von Bildern und Gefühlen wieder aus dem Verstand hinaus katapultiert.“
„Ein trainierter Zauberer kann das aber auch durch Okklumentik schaffen, richtig?“, hakte Hermine nach: „Also, den Eindringling aus den Gedanken verbannen.“
„Richtig“, kam es zustimmend von Snape: „Aber selbst wenn man in Okklumentik geübt ist, kann es einen Moment dauern, ehe man den Angreifer vertrieben hat. Entsprechend besteht immer die Gefahr, dass ein mächtiger, feindlich gesinnter Zauberer an die eigenen Erinnerungen kommen kann.“
Hermine blieb stehen. Natürlich, darauf hätte sie selbst kommen können. Dass sie nicht sofort verstanden hatte, dass Snape mit ihr über die Gefahr, die von Voldemorts großen Legilimentik-Fähigkeiten ausging, reden wollte, war ihr mit einem Mal selbst unbegreiflich. Wenn sie tatsächlich eine Rolle im Sturz von Voldemort spielen sollte, wäre es vermutlich unvermeidlich, dass sie in seine Nähe geriet – und dafür musste sie vorbereitet sein.
„Wollen Sie mir Okklumentik beibringen?“, fragte sie, während sie mit raschen Schritten wieder zu ihm aufschloss. Das abfällige Schnauben, das zunächst als Antwort von ihm kam, ließ sie sich wieder unfassbar dumm vorkommen. Doch wenn das nicht sein Ziel war, was dann?
„Ich habe nicht die Zeit dazu“, erklärte er scharf: „Und vor allem habe ich nicht vor, dadurch unnötige Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.“
„Warum reden wir denn dann darüber?“, verlangte Hermine zu wissen, die das Gefühl, dumm zu sein, kein Stück mochte. Snape war schon immer gut darin gewesen, ihr dieses Gefühl zu vermitteln, doch sie hatte sich bis zum heutigen Tage weder daran gewöhnt noch war sie bereit, sich damit abzufinden.
Sie konnte beinahe das Augenrollen hören, als er erwiderte: „Ich versuche Ihnen zu erklären, dass ich für Sie und für mich selbst ganz bestimmte Bilder und Erinnerungen forme. Und dass ich ob der Gefahr, die vom Dunklen Lord ausgeht, nicht all mein Wissen und all meine Gedanken mit Ihnen teilen kann. Ich muss sicherstellen, dass all Ihre Erinnerungen an mich so sind, dass ich sie dem Lord gegenüber erklären kann.“
Nachdenklich kniff Hermine die Augen zusammen. Sie verstand dieses Anliegen – nichts war effektiver gegen Legilimentik als das Nichtvorhandensein interessanter Erinnerungen. Es erklärte ihr auch, warum Snape so lange nicht mit der Wahrheit heraus gerückt war, sondern sie auf Umwegen dahin geführt hatte. Dennoch, gerade mit dem letzten Satz war die Katze doch aus dem Sack? Wenn Voldemort in ihren oder Snapes Gedanken auf diese Unterhaltung stoßen würde, wären sie doch aufgeflogen?
„Und wie gedenken Sie, diese spezielle Unterhaltung jetzt zu erklären?“, formulierte sie ihre Zweifel aus. Erneut erntete sie nur ein ungeduldiges Schnauben: „Das lassen Sie mal meine Sorge sein.“
Schulterzuckend ließ Hermine das Thema fallen. Wenn Snape meinte, sie nicht einweihen zu müssen, dann war es so. Sie hatte gelernt, dass er ihr nur das mitteilen würde, was er ihr mitteilen wollte, da half neugieriges Nachbohren gar nichts. Stattdessen sprang ein anderer Gedanke in ihren Kopf: „Ist das der Grund, warum Sie … warum unser … gemeinsames Erlebnis, wie Sie es nennen, so abgelaufen ist, wie es abgelaufen ist?“
Nun war es Snape, der ruckartig stehen blieb. Ein merkwürdiger Ausdruck trat in seine Augen und wenn Hermine es nicht besser gewusst hätte, hätte sie beinahe angenommen, dass es Trauer und Leid war, was sie da sah. Doch ehe sie es genauer analysieren konnte, waren seine Augen wieder hart geworden, hatten einen beinahe erbarmungslosen Ausdruck angenommen: „Ich habe kein Interesse daran, das mit Ihnen zu besprechen. Denken Sie, was Sie wollen, ich kann Sie sowieso nicht davon abhalten.“
Völlig verwirrt, ein wenig erschrocken und auch ziemlich wütend stellte Hermine den Korb, den sie für Snape trug, neben sich ab, verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte: „In diesem einen Punkt kann ich die Sache leider nicht so einfach fallen lassen. Keine Ahnung, ob Sie das verstehen können, aber für mich wäre es schon interessant zu wissen, was Sie dazu getrieben hat!“
Schweigen antwortete ihr, nur unterbrochen von dem Rauschen des eisigen Windes, der ihr unter den Mantel fuhr, und das Geräusch von Regentropfen, die schwer auf beide niederprasselten. Hermines Locken hatten unter dem Gewicht der nassen Haare an Kontur verloren und so, wie die schwarzen Haare Snape im Gesicht klebten, so kämpfte auch sie immer wieder mit langen Strähnen, die sich quer über ihre Stirn zogen oder nach ihren Wangen griffen. Jetzt jedoch spürte Hermine nichts davon, sie hatte nur Augen für den Mann vor ihr, der sie mit diesem wohlbekannten, kalten Blick anschaute, dem Blickkontakt nicht auswich, aber ihr auch keine Antwort gab. Sie wollte von ihm hören, dass es ihm Leid tat. Dass er Gründe gehabt hatte, die sie nicht hatte verstehen können. Ihr Verstand flehte beinahe darum, dass er irgendetwas sagen würde, was ihre Gefühle besänftigen konnte. Irgendetwas, damit auch ihr Herz akzeptieren konnte, dass er nicht der Feind war, kein Monster, kein Mann, vor dem sie fliehen musste.
„Ich kann Sie verstehen, Miss Granger“, sagte Snape schließlich mit leiser, ernster Stimme: „Was vorgefallen ist, wird immer zwischen uns stehen. Und egal, was ich sagen kann, egal, welche Gründe ich Ihnen liefern kann, es gibt keine Entschuldigung für das, was ich getan habe. Es ist mein Fluch, dass ich in dieser Welt nichts anderes als Angst und Schrecken verbreiten kann.“
Ein Schluchzen entrang sich Hermines Kehle. Bei seinen Worten war ihr plötzlich der Gedanke durch den Kopf geschossen, dass er vielleicht nicht freiwillig getan hatte, was er getan hatte. Sie war ein Opfer, ja. Aber hieß das auch, dass er ein Täter war? Was, wenn er genauso darunter litt wie sie?
„Schauen Sie mich nicht so an!“, unterbrach Snape sie, als könne er lesen, was in ihr vorging: „Der Mensch kann frei entscheiden und für jede Entscheidung, die er trifft, muss er gerade stehen. Meine Taten sind meine Verantwortung.“
Hermine schluckte hart. Sie hatte mit einem Mal das Gefühl, als wäre die Welt noch viel dunkler geworden als zuvor. Es war so einfach gewesen, Snape zu hassen, in ihm das Monster zu sehen, den lüsternen Mann, der sich daran ergötzte, eine Frau schreien zu sehen. Es war dieser Hass gewesen, der sich in Wut verwandelt hatte und ihr die Kraft gegeben hatte, den Blick von der Vergangenheit abzuwenden und in die Zukunft zu blicken. Doch sollte sie Recht haben, sollte sie seine Worte richtig interpretiert haben – dann war auch hier nichts schwarz-weiß. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sich für ihn anfühlen musste, einem anderen Menschen Gewalt anzutun, obwohl er es nicht wollte.
Und trotz der Trauer, die sie plötzlich für ihn empfand, war der Hass immer noch da, die ekelerfüllte Abneigung.
„Kommen Sie!“, herrschte er sie an: „Ich habe nicht vor, den ganzen Tag hier draußen im Regen zu verbringen.“
Rasch griff Hermine nach dem Korb und stolperte ihm nach, halb blind durch den Wind und Regen und durch die Tränen, die sich unbarmherzig ihren Weg suchten. Sie konnte das Entsetzen, das sie verspürte, jetzt, da ihr bewusst geworden war, dass auch Snape ein Opfer war und ebenso litt wie sie, nicht in Worte fassen. Stattdessen weinte sie. Egal, wie viele böse Blicke er ihr zuwarf, sie konnte die Tränen nicht stoppen, sie weinte den ganzen Weg zum Gewächshaus und auch noch auf dem Weg zurück. All ihre Wut gegen ihn, gegen Voldemort, gegen die Todesser, gegen die Welt, drang mit Macht nach draußen und ließ sie vollkommen am Boden zerstört zurück.
Jeder Gedanke an ihr Gespräch über Legilimentik war verschwunden, und auch Snape schien kein Interesse mehr daran zu haben, auch nur ein weiteres Wort mit ihr zu wechseln.