Lucius drehte sich um und schaute auf seinen Schreibtisch. Ihr seid ein Täter. Die Worte brannten in seinem Kopf, liefen in einer Endlosschleife und rissen ihn in einen Strudel aus Verzweiflung. Hermine hatte Recht, natürlich war er ein Täter, daran würde er niemals etwas ändern können. Dass er damals nach dem Sturz des Dunklen Lords nicht in Azkaban gelandet war, hatte er allein dem Namen der Familie und seinem Reichtum zu verdanken. Sollte es tatsächlich gelingen, ein zweites Mal gegen diesen Mann zu gewinnen, würde niemand Gnade walten lassen, denn er hatte das Vertrauen, das man ihm geschenkt hatte, offensichtlich missbraucht. Und es war ja nicht einmal so, dass er seine Taten wirklich bereute oder für schlecht befinden konnte. Was er bereute, was wirklich an ihm nagte und ihn an seinen Entscheidungen zweifeln ließ, war die Todesgefahr, in der sein Sohn eine sehr lange Zeit geschwebt hatte. Sein Sohn, der ihn inzwischen offensichtlich hasste, obwohl er nicht wusste, warum.
Er glaubte an die Überlegenheit der Reinblüter. Er hatte sich nur zu gerne in die Reihe seiner Familie gestellt und war jenem Mann, der sich Lord Voldemort nannte, aus freien Stücken gefolgt. Das war eine weitere Entscheidung, die er inzwischen bereute, zumindest, dass er es ein zweites Mal getan hatte. Tief in sich drin wusste Lucius, dass er in einer Welt, die von Voldemort beherrscht wurde, niemals glücklich werden konnte. Für jeden einzelnen Zauberer würde Angst zum ständigen Begleiter werden, so wie es schon jetzt der Fall war. Doch wie sollte er Hermine begreiflich machen, dass er wirklich und aufrichtig so dachte? Sie hatte allen Grund an ihm zu zweifeln. Für sie war es ein und dasselbe, ob man dem Reinblut-Gedanken anhing oder Voldemort folgte. Sie kannte nur schwarz und weiß, denn sie war selbst ein Schlammblut, für sie spielte es keine Rolle, ob man sie verachtete und töten wollte, weil man Voldemort folgte, oder aus anderen Gründen.
Trotzdem, er musste es versuchen. Er wollte sie an seiner Seite haben, ganz egal, welches Blut durch ihre Adern floss. Sie schenkte ihm Frieden und Verständnis, wie es kein Mensch zuvor getan hatte, das wollte er nicht aufgeben. Eine Frau wie Narzissa machte sich gut an seinem Arm, war eine gute Ehefrau und Mutter, doch sie schaffte es nicht, dass er sich wirklich als Mann fühlen konnte. Falls Hermine wirklich einen Plan haben sollte, wie sie Voldemort besiegen könnte, er würde ihr helfen. Es spielte sowieso keine Rolle, ob er mit eingezogenem Schwanz sein Leben so weiter lebte wie bisher, halbtot und gedemütigt, oder ob er im Kampf sterben würde. Und wenn er schon sterben musste, dann wenigstens bei dem Versuch, seinen Sohn zu beschützen und die Frau, die er liebte, zu retten. Ein wahrer Slytherin war loyal zu jenen, die ihm nahe standen, die ihm etwas bedeuteten.
„Es ist nicht nur meine Zuneigung zu dir, Hermine“, sagte er langsam, während er seinen Blick wieder auf sie richtete. Sie stand noch immer an der Wand, beobachtete ihn aus ernsten, aufmerksamen Augen, wartete. Gut. Solange sie sich nicht vollständig vor ihm verschloss, hatte er eine Chance: „Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Der Dunkle Lord hat das Leben meines Sohnes bedroht. Seit ich mich dazu entschlossen habe, ihm ein zweites Mal zu folgen, ist mein Leben stetig schlechter geworden. Ich gebe zu, wenn du nicht wärst, würde ich vermutlich niemals darüber nachdenken, mich gegen ihn zu stellen. Aber du bist da. Und wenn du einen Weg kennst, wie wir ihn stürzen können, dann werde ich helfen.“
Er konnte sehen, wie ihr Blick flackerte, wie sie auf ihrer Unterlippe kaute und ihre Finger anfingen, sich in ihre Handflächen zu graben. Sie wollte ihm vertrauen, sie wollte ihm glauben, das hatte sie selbst gesagt: „Gib dir einen Ruck!“
„Ich kann nicht“, sagte sie leise, aber bestimmt. Ihr Kopfschütteln zeugte von derselben Frustration, die auch ihn ergriff, als er die Worte hörte.
„Geh“, flüsterte er resigniert: „Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe. Ich meine es wirklich ernst, Hermine. Aber wenn du mir nicht vertrauen kannst, dann … geh.“
Er ließ sich auf sein Bett sinken, griff nach seinem Zauberstab, um die Tür zu öffnen, und schloss dann die Augen. Beinahe erwartete er, dass sie doch zu ihm kommen würde, dass er gleich ihre Hand auf seiner Wange spüren würde, dass sie ihn anlächeln und umarmen würde. Doch stattdessen hörte er das leise Klacken seiner Tür, als sie sich hinter ihr schloss. Erschöpft ließ er sich gegen einen der Bettpfosten sinken.
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Mit Tränen in den Augen schlich sich Hermine den Gang entlang. Die Resignation in Malfoys Stimme war ihr durch Mark und Bein gegangen. Sie glaubte ihm. Sie war sich sicher, dass er wirklich und wahrhaftig etwas an den jetzigen Umständen ändern wollte. Vielleicht nicht nur wegen ihr, aber sie hatte ihm den letzten Stoß gegeben, um endgültig die Seite von Voldemort zu verlassen. Und trotzdem konnte sie sich ihm nicht anvertrauen. Snapes erwartungsvolle Augen hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt, sie wollte nicht gegen seinen Willen ihren Plan verraten. Er würde es nicht verstehen.
„Weinst du, weil mein Vater dir etwas angetan hat, oder weil er dich nicht in sein Bett gelassen hat?“
Am Ende des Ganges lehnte Draco im Türrahmen zu seinem Zimmer, die Arme vor der Brust verschränkt, und musterte sie ausdruckslos. Der Anblick dieses jungen Mannes, der sich ihr auf so ähnliche Weise wie gerade Lucius Malfoy geöffnet hatte, ließ die Dämme brechen. Tränen der Verzweiflung strömten Hermines Wangen hinab, während sie auf ihn zutrat. Er zögerte nur kurz, ehe er seine Arme öffnete, sie an sich und in sein Zimmer zog, und dann schnell die Tür hinter ihnen schloss.
„Was hat er getan?“, flüsterte Draco, während er die weinende Hermine vorsichtig auf seinem Bett absetzte, ihr ein Taschentuch reichte, und es sich dann selbst auf seiner Bettdecke bequem machte.
„Nichts!“, presste Hermine hervor: „Zumindest nicht so, wie du denkst. Oh Gott.“
„Was ist es dann?“, hakte er nach: „Ich halte zwar meine Klappe, aber ich bin nicht blind. Ich sehe, dass da was zwischen euch ist. Ich weiß nur nicht, was.“
„Ich auch nicht“, gab sie verzweifelt zurück: „Ich … er will, dass ich ihm vertraue. So, wie ich dir vertraue. Aber … ich kann nicht.“
„Vater will, dass du ihm glaubst, dass er nicht auf der Seite von Du-weißt-schon-wem ist?“, fragte Draco mit einem spöttischen Lächeln: „Du tust gut daran, ihm das nicht zu glauben.“
Hermine schüttelte den Kopf: „Ich glaube ihm das. Er ist nicht anders als du, Draco. Er ist genauso unglücklich. Aber … erinnerst du dich, dass ich dir vor kurzem gesagt habe, dass ich vielleicht eine Möglichkeit habe, das alles hier zu beenden? Er ahnt das und er will wissen, was der Plan ist.“
„Wenn du auf ihm hereinfällst, wärst du dümmer, als ich angenommen habe“, kam die trockene Antwort: „Ehrlich, Granger. Ich werde jawohl meinen eigenen Vater besser kennen als du. Er war es doch, der mich überhaupt erst in diese Situation gebracht hat. Es gibt keinen Zauberer, der so fest an die Unterlegenheit der Schlammblüter glaubt wie er.“
„Das mag ja alles sein“, schniefte Hermine: „Aber hast du nicht selbst gesagt, dass du einen Streit belauscht hast, in dem dein Vater dagegen war, dass du das Mal annimmst? Warum sollte er etwas dagegen haben, wenn er so ein überzeugter Anhänger von Du-weißt-schon-wem ist?“
Lange starrte Draco sie nur an. Sein Gesicht verriet nicht, was er dachte, doch Hermine war sich sicher, dass ihre Worte ihn überzeugt hatten. Als er sich endlich rührte, fiel seine Reaktion jedoch gänzlich anders als erwartet aus: „Ich bin ein Idiot. Ein schwachsinniger, selbstmörderischer Idiot. Warum hab ich dir nur erzählt, was ich denke?“
Wut und Verzweiflung mischten sich mit Resignation, während er ganz langsam aufstand und an sein Fenster trat: „Ich hatte geahnt, dass es ein Fehler sein würde, irgendjemandem was zu erzählen. Ich hatte Recht.“
„Wieso?“, flüsterte Hermine verwirrt. Sie wurde aus seinem Verhalten nicht schlau, aber die Ablehnung, die ihr plötzlich von ihm entgegen schlug, und die Resignation, die in seiner Stimme lag, zeigten ihr, dass sie die Ursache für seinen Stimmungswandel war.
„Du bist ihm vollkommen verfallen“, stellte Draco so sachlich fest, als würde er eine Bemerkung über das Wetter machen: „Er war schon immer gut darin, Menschen zu manipulieren. Ich habe keine Ahnung, wie er es bei dir geschafft hat, aber wenn ausgerechnet du ihm abkaufst, dass er kein überzeugter Todesser ist, dann hat er einen guten Job gemacht.“
„So ist es nicht!“, rief sie verzweifelt: „Wirklich, Draco. Du musst mir glauben, ich … ich bin ihm nicht verfallen. Hast du nicht gehört, dass ich gesagt habe, dass ich ihm meine Idee nicht verraten werde?“
„Du hast gesagt, dass du ihm glaubst“, erwiderte er emotionslos: „Es ist nur eine Frage der Zeit. Und wenn es soweit ist, wird er dich aushorchen, bis er alles weiß, was nötig ist, um deine Pläne zu vereiteln. Vermutlich wirst du ihm auch erzählen, was du über mich weißt, und dann liefert er mich eiskalt an Du-weißt-schon-wen aus.“
Endlich drehte er sich wieder zu ihr um. Sein Blick war vollkommen leer, er schien beinahe durch sie hindurch zu schauen. Zögernd stand Hermine auf, ging einige Schritte auf Draco zu und ergriff seine Hand: „Nein, Draco. Das wird nicht passieren. Was auch immer geschehen mag, von mir wird niemals jemand erfahren, dass du kein loyaler Anhänger bist. Ich werde dich niemals verraten. Und ich schwöre, solange ich nicht sicher bin, wie weit ich deinem Vater wirklich vertrauen kann, werde ich ihm auch nichts über den Plan sagen.“
Schweigen breitete sich aus, während beide sich einfach nur ansahen. Hermines Blick war offen, aber entschlossen, während Draco noch immer resigniert und hoffnungslos wirkte. Schließlich entzog er sich ihrem Griff: „Du verstehst das nicht, Granger. Ich lebe ein Leben in Angst und dann kommst du und verkündest, du könntest alles beenden. Da ist plötzlich Hoffnung. Ich denke wirklich, dass du es schaffen kannst, weil ich weiß, dass du immer dein Wort hältst. Nach all den Jahren unserer Feindschaft vertraue ich dir plötzlich. Und dann … dann kommst du an und meinst, meinen Vater in deine Pläne einweihen zu wollen. Du weißt nicht, wer er ist … du weißt nicht, was er getan hat … wie kannst du nur eine Sekunde daran denken, ihm zu glauben?“
„Ich weiß das besser als du denkst, mein Lieber“, gab Hermine fest zurück: „Ich weiß, dass er dafür verantwortlich war, dass ein Basilisk in Hogwarts sein Unwesen treiben konnte. Ich weiß, dass er bei der Quidditch-Weltmeisterschaft zu jenen gehörte, die mit Todessermasken für Unruhe gesorgt haben. Ich habe gegen ihn gekämpft in Ministerium, ich stand ihm Auge in Auge gegenüber, als unter seiner Leitung eine Gruppe von Todessern versucht hat, Harry in eine Falle zu locken. Glaube ja nicht, dass ich nicht wüsste, wer er ist und was er getan hat. Mein Leben war nicht mehr unschuldig und behütet, seit ich das erste Mal einen Fuß in das Schloss von Hogwarts gesetzt habe. Erzähl du mir nichts über Unwissenheit. Oder über Angst. Oder über Todesgefahr. Ich bin diejenige, die hier als Sklavin gehalten wird. Ich bin diejenige, die an Harrys Seite die Horcruxe gesucht hat. Du weißt nicht einmal, was das ist. Du bist derjenige, der keine Vorstellungen darüber hat, wie abgrundtief böse Du-weißt-schon-wer ist. Oder was für Dinge er getan hat, um Unsterblichkeit zu erlangen. Wusstest du das? Dass er unsterblich ist? Schau nicht so entgeistert, es stimmt, im Moment kann man ihn nicht töten. Oder warum meinst du hat er damals seinen eigenen Avada Kedavra überlebt? Halte mich nicht für ein dummes Mädchen, das nichts von der Welt gesehen hat! Denk bloß nicht, ich wäre leichtsinnig mit meinem Vertrauen!“
Sie hatte sich in Rage geredet, doch die Art, wie Draco sich selbst immer als Opfer präsentierte, wie er ihr unterstellte, keine Ahnung von Todesangst und realen Gefahren zu haben, hatte sie einfach wütend gemacht. Niemand wusste, was sie zusammen mit Ron und Harry schon durchgemacht hatte, sie hatte es nie für nötig befunden, damit zu prahlen. Doch alles, was Draco ihr vorgeworfen hatte, war so ungerecht, dass sie sich einfach hatte verteidigen müssen.
„Granger“, fing er zögernd an, doch bei ihrem strengen Blick brach er sofort wieder ab. Mit einem frustrierten Stöhnen ließ er sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch sinken. „Ist ja gut, ist ja gut. Tut mir leid. Ich habe wirklich keine Ahnung von dem, was du mit Potter und Weasley so alles getrieben hast. Ich wusste nicht, dass … naja, dass es so … so ernst war. Du hast natürlich Recht, deine Situation ist noch viel schlimmer als meine. Ich bin nur einfach immer so … ich weiß auch nicht. Ich wünschte, es wäre ein Traum und ich könnte einfach aufwachen.“
„Entschuldigung angenommen“, antwortete Hermine mit einem schiefen Lächeln. Sie konnte es Draco nicht ernsthaft übel nehmen, dass er nicht über ihre Situation nachgedacht hatte. Er war noch nie der Typ dafür gewesen, heldenhaft Mut im Angesicht des Feindes zu zeigen, sie durfte nicht zu viel von ihm erwarten. Für den Augenblick wollte sie einfach nur noch schlafen. Über Lucius Malfoy konnte sie auch noch am nächsten Morgen nachdenken. Gähnend sagte sie: „Es wird ja bald schon wieder hell. Ich würde gerne schlafen und, wenn es dir nichts ausmacht, würde ich mich wirklich freuen, wenn ich das hier tun könnte.“
Er nickte nur stumm, so dass sie ohne weiteres Zögern in sein Bett stieg, die Decke bis unters Kinn zog und beinahe auf der Stelle in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel. Draco wiederum blieb noch lange auf seinem Stuhl sitzen. Es war beinahe lächerlich, wie ihm noch nie in den Sinn gekommen war, dass Hermine tatsächlich schon Dinge erlebt hatte, die er sich gar nicht vorzustellen traute. Was hatte sie eigentlich das ganze letzte Jahr getrieben? Was war passiert, bevor man sie als Gefangene in dieses Haus gebracht hatte? Und wie war es weiter gegangen, nachdem sie mit Hilfe des Hauselfen hatte fliehen können? Das nächste, was er von ihr hörte, war, dass sie in Hogwarts aufgetaucht war, um zu kämpfen. Und dann war plötzlich alles so schnell gegangen. Wenn er ehrlich zu sich war, hatte er nie wirklich begriffen, dass sie zusammen mit Potter und Weasley einen Plan zum Sturz von Voldemort verfolgt hatte.
Was waren Horcruxe?