Drei mal zwei Stunden
Der Schwarze schlüpfte vorbei und verschwand zwischen den Tonnen. Sie sah ihm nach und blinzelte. Ihr würde heute nicht mehr viel Zeit bleiben. Das neue Leben drückte schon schwer. Ein Blick hinauf zu dem Fischkopf war das eine, ein Sprung dorthin das andere. Instinktiv blieb sie am Boden hocken und begnügte sich mit dem halben Schinkenblatt, das unter einem zerrissenen Fetzen zu riechen war. Der lange Menschenschrei hatte den Abend schon gerufen, dicht neben ihr brauste ein Mofa auf und sie zuckte zusammen. Schnell drängte auch sie sich zwischen die Tonnen, so wie der Schwarze. Einen Platz müsste sie finden, wo sie für zwei Stunden Ruhe hätte. Länger durfte es nicht dauern. Dunstige Hitze stieg auf, von irgendwoher traf sie der Geruch von heißem Fleisch.
„Die Katzen sind weg!“, schrie Pete. „Steig schon ein, das Boot fährt sonst ohne dich!“ Mr. White zerrte seinen Sohn über die leicht schaukelnden Bretter und ließ ihn erst los, als der Junge zwischen seiner Mutter und einer verschleierten Frau saß. Aus dem Megaphon drangen schnelle, harte Laute, die das Signal zur Abfahrt gaben. In letzter Minute sprang Mr. White von Bord. „Na dann viel Spaß, in zwei Stunden hol ich euch wieder ab!“ Während sich seine Hand mit dem Gleichmaß eines Metronoms in Bewegung setzte, war sein Blick nicht mehr in den Bildern, die seine Augen trafen. Über die Schiffsplanken zog sich bereits die Gasse, durch die er gehen würde. Im Lachen seines Sohnes verbarg sich ein dunkler Blick, im Kielwasser grätschten sich schlanke Beine, und als er in die tief stehende Sonne sah, musste er blinzeln.
„Wir fahren zwischen zwei Kontinenten, hier ist Europa, dort drüben beginnt Asien!“, hörte Pete die Mutter sagen. Der Junge sah seinen Vater in der Masse der Menschen verschwinden, die über den Kai liefen, und blickte nun mit ausdruckslosem Gesicht von Europa nach Asien.
Sie hatte einen Platz gefunden, der Geruch des Schwarzen hing noch an dem Container. Er hatte seine Spur hinterlassen, und sie legte sich auf die Seite, den Rücken an das warme Metall gepresst. Ihr Blick fing einen Spatz ein, der von einer Kuppel aufflog, die in das Blau des Himmels ragte. Das Ziehen wurde stärker, der Muttermund begann sich zu öffnen, sie entließ hohe hechelnde Laute.
Mr. White stieß die Tür auf, so wie er es immer tat. Noch nie hatte er sie sanft, vorsichtig oder behutsam geöffnet. Patschjuliduft umfing ihn, es war fast dunkel, nur in einer Ecke leuchtete es aus kleinen Sternen. „Ist sie frei?“ Ohne ein Wort führte ihn die Dicke hinauf.
Pete sah zur Brücke hoch, die gewaltig war. „Früher waren die Geländer noch nicht so sicher, da stürzten viele Autos ins Meer“, hörte er die Mutter sagen. Der Junge starrte auf die weiße Gischt des Kielwassers und stellte sich vor, wie Tote darunter trieben.
Sie hechelte schneller, dazwischen stieß sie spitze Schreie aus, doch es war nicht ihr erstes Mal. Erfahrung hatte sie gelehrt, so leise wie möglich zu sein. Man konnte es wohl auch schon riechen, das erste schob seinen Kopf in die Welt. Nachdem es herausgeflutscht war, leckte sie es sofort, obwohl das nächste schon vorandrängte. In der Nähe schrie eine Möwe laut.
Er musste nichts sagen. Sie kannte den Ritus bereits. Schnell senkte sie die Augen, als sich sein Blick in sie bohrte. Ungeduldig sah er auf die Uhr. Der erste Teil nahm so viel Zeit in Anspruch. Er hatte insgesamt doch nur zwei Stunden. Wieder dachte er darüber nach, ob er ihr irgendwie begreiflich machen sollte, sich etwas zu beeilen.
„Die Sonne ist jetzt wie ein Feuerball“, sagte die Mutter. Pete sah sie an. Ihre Haut hatte eine besondere Farbe, ihr Haar einen rötlicheren Schimmer. Einzelne Strähnen darin wirkten wie kleine Flammen. ``Eigentlich ist es ganz schön, ohne Papa``, dachte er, sprach es aber nicht aus, denn das war ein Satz, der würde wie ein unvorsichtiger Schlittschuhläufer über dünnes Eis fegen und ihn und seine Mutter in den dunklen Abgrund ziehen. Pete stützte sein Kinn wieder auf die Holzplanke und sah zu den bunten Lichtern, die nun bereits die große Stadt erleuchteten, auf dem einen Kontinent genauso wie auf dem anderen.
Jetzt saßen sie nicht nur auf dem Containerrand über ihr, jetzt hackten sie schon auf den Rest der Nachgeburt ein, jene Haut, die sie nicht verschlingen konnte, ein Schnabel hätte fast das letzte Junge verletzt.
Doch sie hatte es überstanden. Es war schneller gegangen als sonst, die zwei Stunden waren noch gar nicht um.
Endlich war alles vorbei, was er brauchte, um richtig geil zu werden, alles, was ihn eigentlich nicht mehr wirklich interessierte. Wie viel Zeit er wohl noch hatte? Egal, die zwei Stunden waren noch lange nicht um. Jetzt gab es nur noch dieses Drängen in seinen Lenden und diesen schwarzen tiefen Schoß, in den er sich betten würde, wie er es früher getan hatte, als das ganze Drumherum noch nicht wichtig war. Er schloss die Augen, und alles wurde einerlei.
„Fahren wir etwa schon wieder zurück? Ich will aber nach Asien!“, fauchte Pete. Wenn er trotzig wurde, konnte er wie eine wütende Katze klingen. Seine Mutter legte den Arm um ihn und seufzte. Das Boot steuerte sicher zum Hafen, hinter den Schiffen an der Anlegestelle ragten Kuppeln empor, die schönste, ganz oben am Hügel, stieß mit ihren Minaretten an den tiefblauen Himmel.
Dann der Moment, wo das große Vergessen kommen sollte oder das nie Erinnerte; immer schneller drang er in sie, hielt sich fest an ihrem jungen warmen Fleisch, seine Finger quetschten ihre Brüste.
Möwen kreisten sie ein und kreischten dabei. Ihre Kleinen drängten ans Bauchfell; die Augen noch geschlossen, suchten sie nach den Zitzen. Sie war zu erschöpft, um die lästigen Vögel zu vertreiben; doch egal, wenn nur keine wilden Hunde kämen. Das Blau oben gab es nicht mehr, nur das Dach der Kuppel war jetzt beleuchtet, darüber schien alles schwarz.
Und doch, als könne er gar nicht mehr ganz vergessen, dachte er, wie absurd das alles war. Warum fiel ihm gerade jetzt ein alter Mann ein, der im Bad seine Hose auszog? Er hörte sich atmen, ein Hecheln fast. Der Alte im Bad ging nicht mehr weg. Er spürte sich ermatten, noch bevor er kam, zog er sich aus ihr zurück.
Pete war enttäuscht. Das war nun die sensationelle Fahrt gewesen, von der ihm sein Vater die ganze Woche erzählt hatte. Der Höhepunkt der Reise, eine Fahrt am Goldenen Horn bei Sonnenuntergang übers Meer, das zwischen Europa und Asien liegt. ``Goldenes Horn’´´, ``Europa``. ``Asien``, was erklang nicht alles in diesen Wörtern, was hörte er nicht, das sich zu farbigen, nach Geheimnissen duftenden Bildern fügte in seiner Phantasie. Einen Bullen hatte er gesehen, stark, mit wilden Augen, das schwarze Fell hing ihm fast bis zum Boden, von seiner Stirn glänzte ein Horn, das so lang war wie eines der Minarette, die gegen den Himmel ragten. Wenn er seinen Kopf drehte, zeichnete er Goldtaler, die als großzügiges Taschengeld vom Himmel fielen und die nur Pete entdeckte. Außerdem war es in Europa noch dunkel, wenn in Asien die Sonne aufging, hatte ihm Papa einmal erzählt. „Mama, mir ist langweilig!“ Papa war noch nicht zu sehen, nur viele unbekannte Menschen.
Sie hatte Glück, obwohl ihr nicht bewusst war, was Glück war. Es kamen keine wilden Hunde, ihre Jungen waren wohlauf, der Schwarze vertrieb die Möwen. Es würden auch in den nächsten Tagen keine wilden Hunde kommen. Irgendwann als alte Katze würde sie dann sterben; dünn, aber gesund schaffte sie es ins hohe Alter.
Als sich die Tür hinter Mr. White schloss, wusste er, dass es vorbei war.
Für Pete wurden es die längsten zwei Stunden seines bis jetzt kurzen Lebens. Doch erst als die Katze wieder den Menschenschrei hörte und die Menschen wussten, dass es der Muezzin war, der zum Abendgebet rief, umschloss Mrs. White mit der einen Hand Petes Arm sehr fest. Mit der anderen winkte sie dem Taxi.