Ein weißer Strand. Ein langer weißer Strand.
Die Fetzen einer zerrissenen Landkarte, die der Wind trägt hinaus zu den Wellen. Dort, wo die Brandung sich bricht, irgendwo am Berg der Welle, dort fügen sich lose Futzel aneinander, Futzel nicht aus Papier, sondern aus dem Stoff aus dem Träume sind. Die Gischt, dann, verbindet sie, niemand kann es sehen, natürlich, doch wirkt der weiße Schaum wie Klebstoff, nicht wirklich, doch wirksam. Schon wieder die Farbe weiß. Ein weißer Strand und die weiße Gischt.
Wohin wirksam, wenn nicht wirklich, nicht sichtbar wirklich, nun, vielleicht unsichtbar wirklich? Von dort her- vielleicht-, wo die Gedichtzeile eines Liedes, gedichtet in einer anderen Zeit, sich verwebt mit Vergangenem, Zukünftigen und am Horizont nur eine stiller Ton ist.
Doch ist noch nicht alles erzählt. Wie jemals? Das kleine Mädchen sieht mich schon wieder an und lacht. Wie, wirklich alles erzählen, jemals?
Nun, ich habe vor, eine kurze Geschichte zu erzählen, ja, eine kurze, nein, keine besondere, nicht vielleicht einmal eine besonders spannende. Jetzt sehe ich Maracellas Blick. Ihre dunklen Augen lugen hervor unter den vom Wind über ihr Gesicht geblasenen schwarzen Haarsträhnen. Sie hat lange Haare, die kleinen Madame, lange glatte Haare wie viele Hawaiianerinnen, doch ihr Blick ist ein ’Maracella Schmollblick’, vielleicht fühle ich ihn schon viele Jahre auf mir ruhen, und doch hat er mich nie gedrückt, nur getrieben, vielleicht.
Gut, entschuldige, Maracella, ich will Deine Geschichte nicht bewerten- ob sie spannend ist oder nicht- ist vielleicht nicht das Wesentliche. Wesentlich ist, dass Du, obwohl bereits andernorts erwähnt, Dich noch immer in den Flammen suchst, wo Deine Erzählung geendet hat. Darum möchte ich Dich jetzt an der Hand nehmen und zurück zum Meer führen, dort wo Du hingehörst, an Deinen besonderen Strand und versuchen, jetzt so viele Jahrzehnte später, mich an die Geschichte zu erinnern, die ich als kleines Mädchen aufgeschrieben habe.
Woher hatte ich Deinen Namen? Ich weiß es nicht. Maracella, das Südseemädchen, er tauchte unmittelbar aus dem nichts auf.
Ich weiß nur, dass Du einsam warst. Ein einsames Mädchen, gottverlassen, an einem Strand.
Wo Deine Eltern waren, wurde nie erwähnt. Du hast sie auch nicht gesucht, oder vielleicht auch gar nicht gebraucht, vielleicht, schon wieder vielleicht, nun, dies ist ein vielleicht Text- ein Text der Möglichkeiten, fern der Gewissheiten. Doch sehe ich dich am Strand, es war, glaube ich, ein langer Strand, Palmen waren da, ein Boot auch, und Du und das Meer.
Du hast aufs Meer hinaus gesehen. Es war ruhig an diesem Tag. Ein paar weiße Wolken, ja weiß, am Himmel, die verdeckten jedoch kaum das satte Blau. Der Meereswind, der Dir sanft ins Gesicht blies. Hast Du damals schon geahnt, dass die unsichtbare Landkarte meiner Seele der Wut von Selbststörungsattacken stand halten würde und, unverblichen in ihren bunten Farben, im Meer den Tiefseefischen den Weg zu den heißen Quellen am Grund der Ozeane weisen würde? Deines, unseres Ozeans?
Hast Du es geahnt? Doch wie erschrocken Du gewesen sein musstest, als alle Worte, die von Dir erzählten, zu Flammen wurden, damals , als hättest Du eine große Schuld begangen, die darin bestand, einfach zu sein.
Dein dunkler Blick geheftet, dort, wo sich Wasser und Himmel berühren. Wie ernst Du aussiehst, obwohl Du erst acht Jahre alt bist, Kind des Windes und der Wellen, eine schaumgeborene zeitlose Göttin spiegelt sich in Deinem Gesicht, aha, jetzt lächelst Du wieder, ja, ich meine, was ich sage.
Du nimmst einen tiefen Atemzug, die Meeresluft dringt in die Lungen und nimmt den Weg Deines Blutes bis zu den Fingerspitzen, Zehenspitzen. Du springst auf, wieder einmal. Schwimmt etwa ein Korken im Meer, der ein geheimes Rätsel birgt? Du siehst in meine Richtung, ja, ich weiß schon, das ist eine andere Geschichte, du bist ja auch allein mit Dir und mir, keine Halbgöttin hält Dich an ihre Brust.
Ohne mich weiter zu beachten, schiebst Du das Boot ins Meer.
Es ist ein kleines Kanu. Die Paddel sind Dir viel zu groß, und trotzdem stößt Du Dich ab vom Ufer und ruderst, hier ist die Brandung sanft, hier im Inneren der Lagune.
Was erzähl ich nun von Dir, auf welche Hintergründe darf man hoffen? Doch nein, keine Enthüllungen, nicht einmal Rätsel, da bist nur Du, das Boot, das Meer, der Wind, Wellen, ein Strand und- da sind die Tiere, wie die Vögel und Fische. Du ruderst hinaus. Deine Oberarme sind kräftig, fest umfassen Deine kleinen Hände die Ruder. Der Blick zurück zum Strand fängt eine Echse ein, die über den Boden huscht. Das Ufer zieht sich immer mehr zurück, blaugrün schimmert das Meer, der Grund ist noch sichtbar, Sandgrund, der immer mehr entschwindet, erste Korallenbänke, Fische unter Dir.
Wind durchzieht Dein Haar, als wolle er es ans Ufer binden, Du aber ruderst immer weiter hinaus. Am Rücken die Sonne auf Deinem Tea- Shirt, Du riechst das Salz des Wassers und siehst hinab zum Grund.
Dunkler schon liegt er da. Die Ruder ziehst du ein und verankerst sie am Boot. Bereits weit liegt der Strand zurück, zieht sich in unebenen Streifen kilometerweit dahin. Keine Häuser, keine Menschen, nichts. Ein verlassenener Strand.
Da zieht ein Schatten über den Meeresgrund. Taucht unter Deinem Boot durch, verdunkelt den helleren Sand wie eine Wolke- eine längliche über den Meeresgrund gleitende Wolke. Du erschrickst. Es ist nicht ein allmähliches Entsetzen, nein, die Gewissheit kommt plötzlich, unleugbar. Da, ein zweiter Schatten schnell hervor, über den anderen hinweg.
Du weißt Bescheid. Du lebst schon so lange am Meer. Doch noch nie sind sie Dir begegnet. Du kennst sie trotzdem. Da, eindritter, ein vierter. Riffhaie.
Dein Blick greift zurück zum Strand, als wollte er sich ansaugen an dem hellen trockenen Boden, weit entfernt. Leicht schaukelt das Boot, Du läßt die Ruder ins Wasser, da, ein dunkelgrauer Schatten, unweit, windet sich hoch zu Wasseroberfläche, eine Flosse durchnschneidet diese, klar und spitz mit einem weissen Rand.
Sie sind nicht wirklich gefährlich, schon oft hast du sie gesehen, warum umfassen Deine Hände so fest die Griffe der Ruder; warum mißt Dein Blick die Strecke ab, zurück zum Strand?
Heute ist alles anders. Du ahnst es, Du spürst es, Du kannst nicht sagen, warum.
Wir sind nun mitten in Deiner Geschichte:
Es werden mehr, immer mehr Haie, sie tauchen auf und ab, mal durchstoßen ihre Flossen die Wasseroberfläche, mal treiben sie dahin über den Grund, schemenhaft; doch woher kommen sie alle? Als hätten sie Beute gerochen umkreisen sie Maracelllas Boot, von überall her versammeln sie sich hier, es sind mindestens schon zwanzig, so viele auf einem Fleck hat Maracella noch niemals gesehen. Unvermittelt schießen sie empor, ihre Rückenflossen durchstoßen das Wasser, hinein in die Luft und dann tauchen sie wieder ab, als hätten sie Atem geschöpft. Noch nie hat das Mädchen dieses nervöse Jagen beobachtet, ein Jagen, das sich im ziellosem Kreisen erschöpft, das nichts fängt, nur hervorschnellt, um wieder abzudrehen, dabei einem Artgenossen ausweichend; sie schwimmen schon übereinander, ganz dicht, drängen sich aneinader, ihre breiten Köpfe stoßen hin und her, als würden sie einer Geruchspur folgen, immer mehr Riffhaie drängen zusammen, ihr Biss findet keinen Halt in einem Beutetier. Manchmal stoßen die Fische an das Boot, es schauckelt, Maracella erstarrt, warum sie nicht los rudert, weiß sie nicht. Sie hört mich jetzt nicht, darum ist es sinnlos, sie anzusprechen, Panik legt sich über ihre Haut wie ein zu enger Mantel, sie wagt kaum noch zu atmen.
Das Boot schaukelt immer mehr. Heute ist alles anders, heute ist es, als öffne das Meer seinen Rachen, um zu verschlingen.
Endlich umfasst das Mädchen den Griff der Ruder fester. Sie streckt ihre Arme, die Ruder heben sich aus dem Wasser, als sie wieder untertauchen, schießt der Körper eines der großen Fische nah am rechten Bootsrand vorbei.
„Geht weg, verschwindet!“ Sie stößt mit dem Ruder ins Meer, doch als ihr Boot vorwärts stoßen will, rammen drei Fische den Bug. Maracella ist erst acht Jahre und doch weiß sie, dass das Geschehene fast unglaublich ist, hätte sie es nicht eben erlebt: Haie, die ein Boot rammen und am Weiterfahren hindern! Es ist hieß, beinahe mittags, doch sie spürt die Sonne nicht, ein zu enger Mantel scheint sich noch fester um Maracellas Schultern zu ziehen. Trotzdem läßt das Mädchen die Ruder nicht los, umschließt sie mit aller Kräft, stößt rückwärts. Und wieder, als wäre es eine abgemachte Sache, rammen Fischkörper das Boot, hindern es am Weiterfahren. Maracella beginnt zu weinen. Alleine auf dem Meer, die Haie unter sich, das Unglaubliche und Unfassbare, und der Abgrund der sich damit auftut. Eine Abrund, tiefer als der Mariannengraben. Immer mehr Haie stoßen zu den sich immer wilder gebärdenden Tieren. Schräg liegen sie an der Wasseroberfläche und schlagen mit der Schwanzflosse als würde sie sterben, ihre Mäuler weit aufgerissen. Das Boot schauckelt wilder. Da läßt das Mädchen die Ruder los, umklammert ihre Knie und rollt sich ein im Sitzen, so gut es geht. Unter sich das Meer und der Tod, der einen Rachen und spitze Zähne hat. Wasser schwappt ins Boot. Das Boot wird zur Seite gerissen. Holz knackt. Der Tod hat ein Ruder angebissen. Maracella weint lauter. Sie sieht nicht mehr auf. Das Boot dreht sich, jetzt schaut der Bug hinaus auf das offene Meer. Wasser schwappt über Maracellas Füße. Die Heie sind irre, das sind keine normalen Haie, das sind Bestien, die Geister wilder Dämonen haben sie ergriffen und spielen mit ihnnen, nein, das sind keine Haie mehr. Und die Dämonen sind Diener des Todes. Ihre Mäuler wachen über einem tiefen finsteren Loch, dunkel, schwarz, so muss der Tod sein, denkt Maracella, eine endlose Schwärze, wenn man dann die Bisse nicht mehr spürt. Und sie schaukelt hinein in den endlosen Abgrund, tiefer als der Marianengraben. Da steckt sie nun, eingerollt, die Hände um die Knie geschlungen, sie sieht nichts mehr um sich.
Wieviel Zeit vergangen ist, weiß sie nicht. Allmählich bemerkt sie, dass das Boot ruhiger im Wasser liegt. Erst als sie den salzigen Atem ganz tief in ihre Lungen saugt, weiß sie, dass sie noch lebt. Maracella hebt den Kopf, die Haut des Rücken spannt, von der Mittagssonne ganz heiß, da bekommt der der enge Mantel der Panik einen Riss. Wasser ist im Boot, doch das erschreckt Maracella nicht mehr. Sie sieht, die Haie sind weg. Das Mädchen beugt sich über den Bootsrand: unter ihr nur der türkises Wasser, tief unten der Grund, dort keine Schatten mehr, welche die Farbe des Meeres verdunkeln. Sie beugt sich über die andere Seite des Bootes, noch weiter, um wirklich sicher zu sein. Da schießt etwas empor aus der Tiefe. Maracella schreit. Etwas stößt an ihren Kopf, Maracella wirft sich zurück ins Boot, ihr Herz rast. Ihre Hände fassen in die Haare, ziehen sie daraus hervor, ist Blut an Ihren Händen? Der Kopf fühlt sich dumpf an, was ist passiert? Ihre Hände sind so braun wie immer. Maracella richtet sich auf, das Herz schlägt noch immer viel zu schnell. Hastig sucht ihr Blick die See ab. Nichts, vorerst. Nur die glatte Fläche eines ruhigen Meeres um sie herum.
Die Sonne steht noch hoch am Himmel. Zum ersten Mal bemerkt Maracella, wie heiß ihr ist. Und sie hat Durst, großen Durst. Ihr Kopf fühlt sich noch ein bißchen dumpf an von dem Schlag. Was war das gewesen, das da hochsauste, und sie berührte? Maracella ergreift das eine Ruder. Sie zieht es aus der Halterung, aufs Boot hinauf. Den Rest des anderen Ruders gibt sie dem Meer, nur noch ein Stumpf ist davon übrig, es ist unbrauchbar. Das Boot bewegt sich wieder, so wie es das Mädchen will. Sie steuert das Ufer an, es ist schon weit weg.
Da durchstößt ein runder Kopf die Wasseroberfläche. Dicht neben dem Ruder taucht er auf, als wäre die schwarze Farbe eines Malers ins Türkis des Meeres gepatzt. Große Augen blicken zum Boot, sehen auf Maracella, doch das Mädchen hat diesen Blick nicht bemerkt. Sie starrt zum Ufer hin und beißt die Zähne zusammen. Der schwarze Kopf versinkt, etwas taucht unter dem Boot durch, auf dessen anderer Seite wieder auf. Maracella schaut noch immer auf den Strich, der das Ufer bildet und stößt das Ruder mal rechts, mal links vom Bootsrand ins Wasser. Schweiß rinnt über ihren fast schwarzen Rücken, um die Lippen vermischt sich ihr Speichel mit dem Salz ihres Schweißes und dem Salz des Meerwassers, das ihr manchmal ins Gesicht spritzt.
Zuerst war es der Ruf, der sie aufmerksam machte. Neben ihr, backbord, rief etwas von der Wasseroberfläche her. Maracella dachte an einen Vogel. Etwas Schwarzes tauchte ab, da, zum ersten Mal seit Stunden, lächelte das Mädchen. Sie ließ das Ruder sinken und folgte dem wendigen Taucher mit ihrem Blick. Nein, es war kein Vogel, der gerufen hatte. Maracella lauschte dem Ton, der noch in ihrem Inneren nachhallte. Da verstand sie ihn.
„Hallo, wo bist Du, na komm schon, zeigt Dich!“, rief Maracella laut. Keine der Seemöwen, die gerade über das Boot flogen, senkten ihre Schnäbel. Ein zweites Mal hörte das Mädchen den Ruf, vor dem Bug. Der runde schwarze Kopf war wieder durch die Wasseroberfläche gestoßen, jetzt nah vor dem Boot. Zum ersten Mal trafen sich die Blicke der beiden.
„Wer bist Du, hast Du mich gerettet? Aber Du bist doch viel zu klein!“, fragte Maracella. Doch der Ruf der Robbe, der noch in ihren Ohren klang, gab von selbst Antwort.
`` Komm, kleines Mädchen der See, die Haie suchen meine Brüder weiter draußen, jenseits der Riffe, ich habe Ihnen aufgetragen, sie wegzulocken von Dir, folge mir, schnell, ich geleite Dich sicher ans Ufer, nicht der gerade Weg ist der schnellste, komm, Maracella, Du Südseemädchen!`` Noch bevor die Angesprochene antworten konnte, tauchte die Robbe wieder unter. Ohne zu überlegen, folgte Maracella der Aufforderung des Tieres. Warum sie seinen Ruf in ihre Sprache zu übersetzen verstand, wusste sie nicht.
Das Boot fuhr nun seltsame Bögen, die es ohne die Robbe nie gemacht hätte, welche ein paar Meter vor dem Bug herschwamm. Doch sicher erreichte Maracella schließlich das Ufer. Seit diesem Erlebnis war Maracella nicht mehr einsam. Sie hatte einen Freund gefunden: die Robbe Tscherill.
Bin ich nun Deiner Geschichte gerecht geworden, Maracella, Du, Südseemädchen? Habe ich sie nun vor den Flammen gerettet? Habe ich dem kleinen Mädchen, das ich selber einmal war, ihre Geschichte zurückgegeben und kann es jetzt zufriedener spielen in mir?
Ich hoffe es.