Nürnberg, 08.04.1808
Der Doktor saß am Schreibtisch, vor ihm schlugen die Kugeln seiner Newton-Wiege aufeinander ein. Er beobachtete, wie die Physik ihrer Tätigkeit nachging. Alles machte so perfekten Sinn. Jede Bewegung, jede kleine Änderung seiner Umgebung, seiner selbst. Sie alle folgten den Regeln. Gottes Regeln, die den Kosmos bestimmten. Reglos saß er da, eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden. Wann immer die Bewegung der eisernen Bälle stoppte, stieß er sie erneut an. Wie lange wollte er eigentlich noch Zeit mit diesem Unsinn verbringen? Bilden sollte er sich, Bücher lesen, Forschung betreiben, die Ergebnisse seiner Schüler begutachten. Aber was brachte einem denn Wissen in der Theologie, der Philosophie oder den Naturgesetzen, wenn sie einem mehr neue Rätsel als Antworten gaben? Gerade, als ihn wieder die dunklen Gedanken überkamen, wurde die Tür aufgerissen.
„Doktor, Doktor!“, rief es aus dem Türrahmen. „Doktor, ich habe Ihnen etwas zu zeigen!“
„Wagner, ich habe dir so oft gesagt, du sollst mich nicht mit diesem widerlichen Titel anreden. Dieses Präfix des Wissens, wie es all diese Narren immer nennen, macht mir nur noch klarer, was schon Sokrates wusste.“
„Es tut mir außerordentlich leid. Wie kann ich Sie denn anreden, wenn Sie mir die Frage erlauben.“
„Heinrich oder Johann, wenn du es förmlich willst auch gern mit Nachnamen.“
Wagner zögerte kurz.
„Gut, jedenfalls habe ich es geschafft, auf Basis von Newton...“
„Genug!“, unterbrach der Doktor ihn. „Du kannst es auf meinen Schreibtisch legen, ich werde es mir dann später durchlesen.“
Ein wenig mürrisch legte Wagner seine Arbeit auf die Oberfläche aus Nussholz und bedeutete dem Gelehrten, sie sich anzugucken. Er drehte sich um und ging zur Tür.
„Doktor!“, rief ebendieser. „Doktor soll ich mich nennen. Was weiß ich denn schon?
Ich kenne die Berechnungen für die Gesetze der Natur, die Paragraphen für die Gesetze der Fürsten und Pfaffen, die Zitate für die Gesetze des Seins. Weder weiß ich, was dieses Sein ist, dessen Gesetze ich befolgen muss, noch, wo mein Platz in ihm ist. Ich begreife, was ich nicht brauche, und ich brauche, was ich nicht begreife!“
Sein Blick fiel auf die Arbeit, die vor ihm auf dem Tisch lag. Wagner hatte sie verfasst, einer seiner eifrigsten Schüler und Assistenten. Dennoch glaubte er, alles zu wissen. Und was er nicht wusste, wollte er sofort erklären. Aber seine Antworten überschritten niemals die blanken, bedeutungslosen Zahlen seiner Formeln und Gleichungen. Wie die Alchemisten hatte er sich auf ein einziges Ziel eingeschossen, das Wesentliche außer Acht lassend.
„Die Regeln der Bewegung“ stand auf dem Manuskript, etwa 40 Seiten dick. Beim Blättern fiel dem Lehrer sofort auf, wie viel Mühe sich sein Schüler gemacht haben musste. Er starrte auf den ersten Buchstaben des Textes, ohne ihn wirklich anzusehen. In Gedanken war er bei Gabriel, bei Michael und bei Raphael, alles verstehend, losgelöst von seinen irdischen Grenzen. Der Schlag seiner Wanduhr holte ihn zurück in sein Studierzimmer. Er fing an, zu lesen.
„Die Regeln der Bewegung, ein Aufsatz für Doktor Heinrich Johann Faust.“