Meine Familie kam ursprünglich als Flüchtlinge hier nach Deutschland. Sie flohen vor Verfolgung, regelmäßigen Pogromen, bitterer Armut und den Gesetzen, die ihre Verfolgung legalisierte und sie in ihrer Handlungsfreiheit, in ihren Menschenrechten einschränkten. Zu Fuß nahmen sie den weiten Weg von L‘viv, einer Stadt in der heutigen Ukraine, bis nach Brandenburg auf sich und haben dabei ca. 900 Kilometer zurückgelegt. Denn wenn all diese Unmenschlichkeiten hinter dir liegen, gibt es nur den Weg nach vorne.
Sie fanden hier Arbeit, eine neue Heimat, gründeten Familien und bauten sich ein bescheidenes, aber wertvolles Gut auf. Ich bin mir sicher, dass sie Deutschland dafür sehr dankbar waren. Trotzdem stießen sie auch hier auf Rassismus, der tief verankert und seit langer Zeit salonfähig war. Sie würden Unglück bringen, Deutschland in den Ruin treiben, Krankheiten einschleppen, hetzte man. Sie trägen Schuld an der Niederlage im ersten Weltkrieg, in dem sie selbst für Deutschland kämpften und viele von ihnen ihr Leben ließen. Es fände eine Überfremdung statt, und in ein paar Jahren bliebe nichts mehr von der deutschen Kultur übrig.
Selbst als die Nationalsozialisten 1933 demokratisch gewählt wurden, als antijüdische Gesetze erlassen und Konzentrationslager errichten wurden, blieben sie. Denn Deutschland war schon längst zu ihrer Heimat geworden. Ihre Kinder und Kindeskinder wurden hier geboren, sie hatten deutsche Nachbarn und Freunde, manche deutsche Ehepartner. Nach der Pogromnacht 1938 flohen doch zwei junge Männer nach Amerika, deren Eltern bereits deportiert worden waren. Meine Urgroßmutter versteckte ihre Kinder auf dem Land, doch sie floh nicht. Ihr deutscher, christlicher Mann wurde in den Krieg eingezogen und ward seitdem nie wieder gesehen.
Jemand verriet das Versteck meiner Großmutter. Als Kind wird sie in ein Konzentrationslager deportiert und muss dort als menschliche Versuchsware für medizinische Experimente herhalten. Es ist unglaublich makaber, dass ihr wahrscheinlich genau das das Leben rettete.
Heute ist Jom haScho'a, der israelische Feier- und Gedenktag für die Opfer der Shoah, den jüdischen Untergrundkämpfern und des Widerstands. Nicht nur, aber besonders an diesem Tag bin ich mit tiefster, innigster Dankbarkeit erfüllt. Ich danke den Widerstandskämpfern, nicht aufgegeben und jeden Tag ihr Leben aufs Spiel gesetzt zu haben. Ich danke allen Helfern, die Verfolgte bei sich versteckt hielten, ihnen zur Flucht verholfen oder ihnen zu Essen gaben. Ich danke jedem, der die Verbrechen des NS-Regimes nicht wortlos hinnahm. Und egal wie sehr ich Russland für seine damalige und heutige Politik auch verurteile, ich werde der Roten Armee auf ewig dankbar sein, dass sie meine Großmutter aus ihrem Konzentrationslager befreiten.
Heute bete ich das El male rachamim, das jüdische Totengebet für die Opfer der Shoah, nicht nur für sie. Ich bete es auch für den Sohn meiner Oma, meinen Papa, der uns viel zu früh verließ und der als zweite Generation genauso Opfer der Shoah war wie seine Mutter, obwohl er ein Jahrzehnt danach geboren wurde. Denn dieses grausame Trauma wird an die Kinder weitergegeben, weil es nicht verarbeitet oder gar geheilt werden kann. Und so bete ich heute auch für mich und meine fünf Brüder. Auch über uns wirft die Shoah ihren langen, kalten Schatten. Aber die Dankbarkeit darüber, zu leben, überdeckt alles. Unser Leben hing schon am seidenen Faden, bevor wir überhaupt geboren waren. Es ist nicht selbstverständlich, leben zu können.
Vor allem aber bete ich für die vielen Flüchtlinge, die ihr Leben aufs Spiel setzen oder gesetzt haben, um in unser Land zu kommen. Denn wenn hinter dir dein zerbombtes Haus, Krieg und Terror liegen, gibt es nur den Weg nach vorne.
Ich bete, damit sie stark genug sind den Rassismus zu ertragen, der sich wie ein Krebsgeschwür wieder ausbreitet. Es ist das gleiche wie damals. Nur das Feindbild hat sich verlagert. Denn die Judenfrage wurde ja geklärt. Jetzt stellt sich die Muslimfrage. Wieder schreien sie etwas von Überfremdung, von Schmarotzern, von Untermenschen, die nichts als Terrorismus und Bazillen einschleppen. Der Rassismus wird zum offiziellen Partei- und Wahlprogramm gemacht, und schon ist man auf Erfolgskurs. Menschenrechte werden schließlich überbewertet. "Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person." wird mit Schießbefehlen und Grenzschließungen beantwortet.
Die USA, die von der Flüchtlingskrise bisher mit am wenigsten abbekommen hat, wählt ihre eigene, schlecht kopierte Version von Hitler. Hierzulande geht man die AfD wählen. Denn auch wenn einem das Parteiprogramm nicht hundertprozentig zusagt, den korrupten Politikern muss man mal eine ordentliche Lektion erteilen. Ist es das Wert? Den Rechten und Rassisten Macht zuzuspielen, um Politiker für ihre „Fehler“ zu strafen? Ja, für sie ist es das. Weil sie so gerne hassen. Und weil sie so ungern selber denken.
In diesen Zeiten wollen die Deutschen nur vergessen. In Zeiten, in denen die einzige Überlebende des „Nationalsozialstischen Untergrunds“ wegen Mittäterschaft zum Mord an zehn Menschen vor Gericht steht. In Zeiten, in denen Flüchtlingsheime angezündet und islamistischer Terror mit rechtem Terror vergolten wird, wollen sie vergessen. Nach einer aktuellen Umfrage sprechen sich 55 % der Befragten dafür aus, „einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen.“ Bei den unter 40-jährigen liegt die Prozentzahl sogar bei 67.
Sie wollen vergessen, damit sie die Fehler der Vergangenheit wiederholen können. Und dann, wenn sich ihr Hass an den Unschuldigen entladen hat, wollen sie wieder sagen können: „Wir haben von nichts gewusst. Wir tragen keine Schuld.“
El male Rahamim - G'tt voller Erbarmen
G'tt voller Erbarmen, in den Himmelshöhen tronend,
es sollen finden die verdiente Ruhestätte
unter den Flügeln Deiner Gegenwart,
in den Höhen der Gerechten und Heiligen,
strahlend wie der Glanz des Himmels,
all die Seelen der Sechs Millionen Juden,
Opfer der Shoah in Europa,
ermordet, geschlachtet,
verbrannt, umgekommen in Heiligung Deines Namens;
durch die Hände der deutschen Mörder und ihrer Helfer aus den weiteren Völkern,
in Auschwitz, Treblinka, Majdanek, Mauthausen
und anderen Vernichtungslagern in Europa.
Sieh, die gesamte Gemeinde betet für das Aufsteigen ihrer Seelen,
so berge sie doch, Du, Herr des Erbarmens,
im Schutze deiner Fittiche in Ewigkeit
und schließe ihre Seelen mit ein in das Band des ewigen Lebens.
G'tt sei ihr Erbbesitz,
und im Garten Eden ihre Ruhestätte,
und sie mögen ruhen an ihrer Lagerstätte in Frieden.
Und sie mögen wieder erstehen zu ihrer Bestimmung am Ende der Tage.
Lasset uns sagen: Amen.
Hebräische Version, deutsche und englische Übersetzung:
http://www.stolpersteine-gelsenkirchen.de/el_male_rachamim_gelsenkirchen.htm
Quellen:
http://www.huffingtonpost.de/2015/01/26/holocaust-studie-bertelsmann_n_6545356.html
https://www.amnesty.de/alle-30-artikel-der-allgemeinen-erklaerung-der-menschenrechte