Als Kind sah ich ihn das erste Mal, Eingeklemmt zwischen einen randvollen Koffer und der Autotür, unfähig mich aus eigener Kraft zu befreien. Er war nur ein Bündel aus Licht und Wärme. Wie sehr er mich faszinierte, wie unwichtig alles wurde. Meine weinende Schwester, meine beunruhigend stillen Eltern auf den vorderen Sitzen, nicht einmal meine blutende Schläfe, welche meine Tränen rot färbte, war wichtig.
Es gab nur noch ihn.
Kurze Zeit später sah ich ihn wieder, froh, dass er keine Einbildung war, neben den Särgen meiner Eltern stehend. Der Himmel brauchte die Beiden nun. Sehnsüchtig schaute ich zum Bündel, während meine kleine Schwester meine Hand hielt, unfähig zu verstehen, dass wir sie nie wieder sehen würden. Und wieder…
Gab es nur ihn.
Wir wurden in ein Heim gesteckt, doch es schien, als wollte niemand ein verwaistes Geschwisterpaar. Sie beschlossen uns zu trennen nur hatte sie bessere Chancen als ich. Meine Schwester war noch klein, unschuldig, ohne Erinnerungen. Also ging sie unfähig zu wissen, was dies für uns bedeutete.
Nun gab es nur noch ihn.
Ein tiefer Winter, welcher schon unzählige Opfer forderte suchte seinen nächsten Tribut. Auch ich forderte die nassen Gräber heraus, sowie viele Kinder vor mir, die mit ihren Stöckern und Steinen ihre eigenen Grabsteine in die eisige Oberfläche des Sees geschlagen hatten. Ich tanzte um eben diese herum, sah die Gesichter der jungen Toten in ihnen, bis ich herausfand, wer das nächste Opfer war. Eine kalte Decke umhüllte meinen ohnehin schon fast erfrorenen Körper. Und da war er. Ich sank tiefer und ein Gesicht definierte sich aus dem Licht. Ich trieb länger und es wurde klarer. Er sollte nicht verschwinden wie sonst immer, sollte bei mir bleiben, sollte mich zu sich holen in die Bedeutungslosigkeit. Doch er lächelte mich nur an und ging. An seine Stelle erschien eine Hand, die mich herauszog. Unfähig zu verstehen, was sie mir damit genommen hatte. Und in meinen Gedanken…
Gab es nur noch ihn.
Unaufhörlich sehnte ich mich nach ihn. Eine depressive Jugendliche war kein begehrenswertes Objekt für kinderlose Paare. Ich wollte meine Eltern, meine Schwester, wollte raus aus diesem verdreckten Heim. Ich wollte ihn, dahin wo er war, um mich endlich wieder Sicher zu fühlen. Doch Zweifel überkamen mich, als ich das Messer an meine Schlagader hielt. Dann ein Schnitt, viel Blut und er. Keine unförmige Masse mit einem Gesicht, sondern ein Körper. Ein richtiger Mann mit zurückgekämmtem weiß-blonden Haar und die helle Haut eines Geistes verhüllt von elegant geschnittenem Stoff. Mein Bett färbte sich in die aufdringliche Farbe meines Unterganges. Mit jedem neuen Tropfen des roten Lebens kam ich ein Stück näher an mein Ziel bei ihm zu sein. Als mein Kopf auf das Kissen sank und ich mir sicher war, dass es hier und heute endete, setzte er sich zu mir, legte die Hand auf meine Wange. Mein Körper fühlte sich an, als bestände er aus glühenden Kohlen. Kein unangenehmes Gefühl, im Gegenteil. Sanft lächelte er, strich mir durch mein Haar und über mein Gesicht und schüttelte den Kopf. Für mich…
Gab es nur noch ihn.
Nie werde ich verstehen, wie ich es überlebt hatte. Warum er mich nicht sofort mitnahm? Ich wollte es wissen. Doch wie sollte ich wieder zu ihm? Die Antwort kotzte mir in einer verlassenen U-Bahn Station vor die Füße. Die bleiche, abgemagerte Frau mit der schmutzigen Kleidung und den halb ausgerissenen Haaren sollte die Lösung sein. Alles schoss durch meine Adern, alles rutschte meine Kehle hinunter, alles was mich von innen heraus zerstören sollte. Also saß ich auf der Matratze, auf welcher in den letzten paar Stunden ein dutzend Mal gepisst und mindestens genauso oft gekotzt wurde. Die Nadel noch im Arm steckend, kratzte ich mir die Haut von den Beinen. Plötzlich glühten die Kohlen wieder, denn als ich hinauf schaute hockte er vor mir und nahm meine Hände, die schon voller Blut waren. „Tu es nicht.“ Ich blickte verwirrt in die tief blauen Augen. Er hatte noch nie mit mir gesprochen. „Ich werde dich holen, irgendwann. Lass es bitte nicht jetzt sein.“, flüsterte er in mein Gesicht und küsste meine Stirn.
Es gab nur ihn.
Meine Schwester hatte es besser als ich gehabt. Sie wurde geliebt und beschützt, hatte alles was ich nie bekam, abgesehen von Gesundheit. Als ich sie versuchte zu erreichen, das erste Mal seit all den Jahren, meldete sich nicht die von mir erwartete, erwachsene Stimme meiner Schwester, sondern eine raue Männerstimme. Krebs, nicht heilbar, wenig Zeit. War der baldige Tod meiner Schwester die Strafe für meinen jahrelangen Neid? Meine bleiche Schwester auf dem Krankenbett übersät mit Schläuchen und Kabeln, ohne Haar, ohne Leben. Ihre kalte Hand in meiner und er.
„Wieso sie und nicht ich?“
Das Piepen der Maschinen wurde ungleichmäßig und dröhnte mir in den Ohren.
„Bitte nimm sie nicht mit.“
Ich bekam kaum Luft, flüsterte meine Bitte nur. Mit zitternder Hand strich ich ihre Wange. Meine süße, kleine Schwester. Eine Träne tropfte auf ihr Gesicht, als würde sie selbst Weinen.
„Wieso sie?!“
Ich schrie ihn an immer lauter, immer verzweifelter. Ein langes Piepen durchbrach das Warten auf eine wohl nie kommende Antwort. Ungläubig sah ich auf sie herab. Das konnte nicht sein!
„Wieso!“
Unkontrolliert schüttelte ich ihren leblosen Körper in der Hoffnung sie wieder zu bekommen. Krankenschwestern kamen und zogen mich von ihr weg. Er ging auf sie zu und legte seine Hand auf Augen, die sich nie wieder öffnen würden und auf eine Stirn, welche nicht mehr geküsst wird.
„Nein!“
Er sollte sie loslassen, sie Leben lassen, Ich stieß die Schwestern von mir weg und rannte, rannte hinaus zum Parkplatz und schrie noch einmal meine Seele heraus. Er stand neben meinen Wagen. Und zum ersten Mal…
War er mir egal.
„Tu es nicht.“
Ich stieg in mein Auto, meine Tränen verschleierten die Straße vor mir, die weiteren Fahrer, an denen ich mit rasanter Geschwindigkeit vorbeifuhr. Plötzlich stand er vor mir, mitten auf den Weg.
„Halt an.“
Ich bog auf eine Landstraße ab, fuhr noch schneller als zuvor. Versuchte ein Auto zu überholen ohne auf die Gegenfahrbahn zu achten. In letzter Sekunde zog ich das Lenkrad in die richtige Richtung. Im Rückspiegel sah ich, wie der Wagen hinter mir ins Schleudern geriet. Sah die zwei kleinen Mädchen auf den Rücksitz, die Eltern auf den vorderen Sitzen, sie schrien. Dann küsste ihr Auto den Baum und ich fuhr weiter, fuhr schneller.
„Ich bitte dich.“
Wieder war er vor mir, sah mich gar flehend an. Doch ich fuhr weiter, fuhr einen Berg mit nahezu unüberwindbaren Kurven hinauf.
„Bitte.“
Die Fünfte sollte mein Verhängnis werden. Diese Klippe, ich würde sie nie vergessen. Ihr Zaun gab dem Gewicht meines schleudernden Autos nach. Steine flogen mit mir in die Tiefe, ich sah sie neben mir, sah sein Gesicht auf der Wasseroberfläche. Mein Wagen schlug senkrecht auf, füllte sich mich Wasser und sank.
„Wieso hast du das getan?“
„Wieso hast du mich nicht schon bei ersten Mal mitgenommen?“
Wie nah er an mich heran kam, wie unglaublich schön er war, als er seine Hand auf meine Wange lag.
„Ich wollte, dass du lebst.“
„Weshalb bin ich dann doch hier?“
„Weil ich es ohne dich nicht aushielt.“
Und mich küsste.