Warum ist das Leben so schwer? Warum so schmerzhaft?
Mit roten Augen und tränennassen Wangen blicke ich hinaus aufs Meer. Meine Kehle schmerzt noch immer beim Schlucken, so als ob die vielen Schluchzer noch immer in meinem Hals stecken würden. Der Wind peitscht mir um die Ohren, lässt mein schwarzes Haar im Wind flattern und pustet meinen weißen Morgenrock nach hinten. Der Stoff schmiegt sich bei Gehen um meine Beine und ich kann sein Vibrieren am ganzen Körper spüren. Die Kälte schmerzt, meine nackten Füße brennen und die Tränen auf meinem Gesicht fühlen sich längst an wie Eis. Aber im Vergleich zu den Schreien meines Herzens und den Qualen meiner Seele ist das hier nichts. Ich bleibe stehen. Meine Füße ruhen auf einer alten Holztreppe mitten in den Dünen. Zu allen Seiten neben mir rauscht und knistert es, als die Böen durch die dunkelgrünen Gräser fahren. Noch wirft der Mond sein geheimnisvolles, silbriges Licht auf den Strand und schmückt die aufgewühlten Wellen mit seinem Glanz. Doch im Osten kündigt sich schon der grauende Morgen an. Am Horizont beginnt der Himmel sich orange zu färben. Nach oben hin verblasst die satte Farbe und vermischt sich mit dem dunklen Blau der Nacht. Ich habe diese Zeit schon immer geliebt. Das Ende von etwas Altem und der Anfang von etwas Neuem. Das Alte muss verschwinden um dem Neuen Platz zu machen. Die Vergangenheit muss losgelassen werden, damit die Zukunft zugelassen werden kann. Meine Lippen verziehen sich zu einem traurigen Lächeln.
Damals standest du neben mir, hieltst meine Hand, sagtest, dass nun alles gut werden würde. Du legtest deinen Arm um mich und streicheltest sanft meine Schulter. Ich war glücklich.
Von Neuem steigen mir Tränen in die Augen. Meine Brust schmerzt und das Schluchzen steigt wieder in meiner Kehle auf.
Du drücktest mich fester an dich, sprachst mit Begeisterung von unserer gemeinsamen Zukunft. Ich sah das Funkeln in deinen Augen, dein glückliches Grinsen und musste selbst lächeln. Du erzähltest mir von deiner Heimatstadt, die auch bald schon die meine sein würde. Du beschriebst mir das Haus, das wir dort bauen würden. Unser Haus. Ich lehnte meinen Kopf an deine Schulter, schloss die Augen und konnte alles vor mir sehen. Das Haus, unseren Garten, unsere Kinder, die dort spielen würden.
Eine Träne rollt meine Wange hinunter. Mein Gesicht verzieht sich unter Schmerzen.
Du sagtest, du liebtest mich mehr als alles andere. Ich entwand mich deinem Griff nur um mich vor dich zu stellen und meine Arme um deinen Hals zu legen. Ich sah in deine Augen und meinte: "Und ich liebe dich mehr als mein Leben". Wie du mich damals ansahst, als wärst du der glücklichste Mensch auf Erden. Halb zogst du mich, halb zog ich dich zu mir, bis unsere Lippen sich berührten. Wir küssten uns lange und leidenschaftlich, bis der Mond verblasste und sich die Sonne über unsere Köpfe erhob und die Welt ins Licht tauchte. Sanft streicheltest du mein Haar.
Ich sinke zu Boden, mein Mund aufgerissen zu einem lautlosen Schrei. Die Schmerzen in meiner Brust sind kaum mehr auszuhalten. Mein ganzer Körper wird von Schluchzern geschüttelt und unzählige Tränen fließen aus meinen rotgeweinten Augen, fallen auf das zerfurchte, sandige Holz der Treppe.
Wo bist du jetzt?! Du sagtest, du würdest zu mir zurückkommen. Du sagtest, du würdest für immer mit mir zusammen sein wollen. Warum nur hast du mich alleine gelassen?
Meine linke Hand gräbt sich ins raue Holz, sucht Halt, den ihr eine große Männerhand nicht mehr bieten kann. Meine Fingerkuppen sind schon ganz aufgerissen und blutig. Aber ich kralle sie wie von Sinnen weiter ins morsche Holz. Mit tränenverschleiertem Blick schaue ich zum Himmel empor, als könnte der Mond mir eine Antwort geben. Doch alles, was ich hören kann, ist das Rauschen der Wellen, das Pfeifen des Windes und mein eigenes gequältes Wimmern.
Du wirst niemals zu mir zurückkommen. Was die Wellen einmal verschlingen, das geben sie nicht wieder her.
Ich öffne langsam meine verkrampfte rechte Hand. Ein zerknittertes Stück Papier fällt heraus und wird sogleich vom Wind in die Dünen geschleudert. Ich lasse es geschehen, ich kenne die Zeilen auswendig, den Beweis dafür, dass ich dich nie wieder in den Armen halten kann.
Sie sagen du wärst einen Heldentod gestorben. Ich sage, du bist einen sinnlosen Tod gestorben. Nichts könnte ihn rechtfertigen. Weder die Liebe zum Vaterland, noch die Verluste in den Reihen der "Feinde". Du hast dein Leben für sinnloses Blutvergießen gelassen.
Ein weiteres Gefühl drängt sich neben meine Trauer. Wut. Wut auf das irrsinnige, blutige Gemetzel. Wut auf die Torheit der Nationen.
Warum kann es keine Welt ohne Krieg und Leid geben? Warum kann sich niemand mit dem zufrieden geben, was er hat? Die Antwort ist einfach: weil der Mensch, Mensch ist und kein Engel.
Zitternd stehe ich auf. Meine linke Hand hinterlässt einen blutigen Abdruck auf dem hellen Holz. Mit entschlossenem Blick schaue ich auf die brausende See.
Diese Welt hat mich mit so viel Schmerz und Leid erfüllt. Ich dachte einmal, ich könnte das Elend überwinden, dachte ich könnte wieder das Leben in all seinen schönen Farben sehen. Aber jetzt weiß ich, dass es unmöglich ist. Unmöglich ohne dich.
Mit langsamen Schritten gehe ich die steile Treppe hinunter zum Strand. Meine Rock flattert mit meinen Haaren um die Wette und ich kann das Salz des Meeres schon fast schmecken. Das Blut tropft noch immer von meiner Hand und hinterlässt kleine tiefrote Flecken auf den groben Stufen. Meine nackten Füße berühren den kühlen, feinen Sand. Ich grabe die Zehen hinein und nehme einen tiefen Atemzug. Meine Lungen füllen sich mit frischer, klarer Seeluft.
Ich habe eine Entscheidung getroffen und nichts wird mich davon abbringen können, es zu tun.
Ruhig laufe ich weiter. Mein Blick hat sich auf die mittlerweile tosenden Wellen geheftet. Scharfe Muschelstücke bohren sich in meine Fußsohlen, aber ich halte nicht an. Erst als meine Zehen vom eiskalten Wasser des Meeres umspült werden, bleibe ich stehen.
Bald ist es soweit. Ich habe keine Angst mehr. Ich wusste schon, dass ich es tun würde, als ich die Tür hinter mir schloss und mich auf den Weg hierher machte. Und nun ist es Zeit alles hinter mir zu lassen.
Ich spüre wie eine ungeheuer große Last von meinen Schultern fällt, als ich den ersten Schritt ins Meer mache. Meine wunden Füße brennen beim Kontakt mit dem Wasser. Ich gehe weiter. Schon bin ich bis zu den Knien in der See. Mein Morgenrock saugt sich voller Wasser und klatscht schwer gegen meine Beine. Die Gischt spritzt mir ins Gesicht. Ich laufe voran, berühre die Wasseroberfläche sanft mit den Fingern bevor ich sie ganz hinein gleiten lasse. Meine linke Hand pocht. Das verklumpte, getrocknete Blut löst sich auf und wird von den Wellen weggewaschen. Die Wassermassen prallen gegen meine Brust, salziges Nass benetzt mein Gesicht und brennt sich in meine Augen. Meine Glieder werden taub von der Eiseskälte des Meers. Der Mond geht langsam unter, nimmt langsam den silbernen Glanz von den Wellen. Das Wasser geht mir schon bis zum Hals.
Ich verabschiede mich im Stillen von der Welt, Tränen fließen aus meinen Augen und vermischen sich mit dem Ozean. Es sind Tränen der Freude. Bevor das Wasser meinen Mund umspült nehme ich einen letzten tiefen Atemzug.
Das Alte muss verschwinden um dem Neuen Platz zu machen. Man muss die Vergangenheit hinter sich lassen um das Neue zuzulassen. Ich muss das Leben hinter mir lassen um dich wiederzusehen. Die Nacht verschwindet um dem Tag Platz zu machen. Doch anstatt die Sonne willkommen zu heißen, gehe ich mit der Nacht. Das Ende der Nacht ist auch meines...
Meine letzten Gedanken werden von den Wellen mit fortgespült, als mein Kopf ins Meer taucht. Das letzte, was ich sehe ist das Glitzern der aufgehenden Sonne auf der Wasseroberfläche über mir. Es wird immer heller. Ich kann den Umriss eines Menschen sehen. Eine Hand taucht ins Wasser und greift die meine.
Bist du das, Michael?