Silvia hatte sich fest vorgenommen, für ihr Kind auf jeden Fall einmal so lange zu Hause zu bleiben, bis es in den Kindergarten ging. Sie hatte auch kaum eine Wahl, denn ihre Mutter konnte Tommy nicht nehmen. Die hatte ohnehin ein achtundsechzigjähriges Kleinkind zu Hause. Ihrem Vater ging es immer schlechter. Es stellte sich bereits die Frage, wie lange ihre Mutter das noch aushalten konnte. Es würde irgendwie gehen, denn es musste irgendwie gehen. Ein großes Problem war, dass Mama alleine die Pflege nicht mehr schaffte und daher stundenweise eine professionelle Pflegerin in Anspruch nehmen musste. Wenn das so weiterginge, war zu überlegen, das Reihenhäuschen zu verkaufen und Vater in ein Pflegeheim zu geben. Mama hätte in diesem Fall zu Silvia in die Wohnung ziehen können und mit dem Erlös des Hausverkaufs die Pflegekosten finanzieren. Wie hatte Mutter gesagt? Das Leben ist nicht fair! Nicht zu dir und nicht zu mir... Silvia würde es Mama irgendwann vorschlagen müssen und sie fürchtete diesen Tag, weil sie wusste, das das für ihre Mutter eine schwere Entscheidung wäre, die nicht über Nacht reifen würde.
Es ist der Lauf der Dinge, dass Kinder irgendwann zu den "Eltern ihrer Eltern" werden. Nämlich dann, wenn ihr Leben mangels Kraft, Geld, Macht oder Gesundheit beginnt, aus dem Ruder zu laufen. Silvia liebte ihre Eltern. Sie wusste, dass sie ihnen alles verdankte und ihrer Mutter schuldig war, langsam das Ruder in die Hand zu nehmen.
An einem Samstag im Mai war sie wieder einmal zu Gast bei Mama und wartete darauf, dass diese ihr sagen würde, dass das Geld einfach hinten und vorne nicht mehr reichte. Sie sah das als den Punkt, an dem sie ihre Mutter am Leichtesten von ihrer Lösung überzeugen konnte. Der Moment ließ nicht lange auf sich warten. "Kind, ich weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Ich muss wohl einen Kredit auf das Haus aufnehmen..." - "Ich wusste, dass dieser Moment kommen wird, Mama. Und ich habe mir was überlegt, wie wir das nötige Geld zusammenkriegen und trotzdem gut miteinander weiterleben können." - "Na da bin ich ja mal gespannt!"
"Dann hör mir bitte zu , Mama. Und zwar ohne gleich böse zu werden oder mich aus dem Haus zu jagen, sondern in dem Bewusstsein, dass es auch mir nicht leicht fällt, dir so etwas vorzuschlagen." Ihre Mutter sah sie erstaunt an. "Es ist schon einmal schön zu wissen, dass du dir auch Gedanken darüber gemacht hast, uns zu helfen. Na sag mir schon, was du meinst!" - "Mama, Papas Zustand wird sich nicht mehr verbessern und du hast nicht mehr die Kraft noch das Geld, so weiter zu machen. Deshalb bin ich dafür, Vater in ein Pflegeheim zu geben, das Haus zu verkaufen und dich zu mir zu holen." - "Kind!" - "Mama, hör mir zu. Ich weiß, ihr wolltet das Haus einmal mir vererben, aber Papa muss auch menschenwürdig leben können und du genau so. Und ich hatte das Glück, eine Wohnung von Gerhard zu bekommen. Wir hätten dann kaum mehr finanzielle Probleme, für Papa wäre bestens gesorgt und du hättest viel Zeit für deinen Enkel. Vielleicht sogar soviel Zeit, dass ich irgendwann, wenn uns das Geld knapp wird, wieder arbeiten kann. So! Jetzt überlege dir bitte, bevor du zu schimpfen anfängst, ob du auch nur eine annähernd effiziente Lösung weißt! Und denk bitte auch an Tommy..."