Steve schaute verträumt auf den Mississippi, seine Gedanken schienen wie der Fluss selbst einfach dahin zu fliesen. Er hatte sich ein halbes Jahr in Jackson, einer Nachbarstadt von St. Francisville verkrochen, aber er musste einsehen das es keinen Sinn machte weiter davon zu laufen. Er hatte sich eher spontan in den Zug gesetzt und seine Großmutter Marry angerufen um ihr mitzuteilen, dass er auf dem Weg nach Hause war. Sie hatte versprochen am Bahnhof auf ihn zu warten und sein Elternhaus halbwegs wohnlich zu machen, schließlich war seit dem Tod seiner Eltern niemand mehr drinnen gewesen. Noch 10 von beinah 20 Kilometern lagen vor ihm, er versuchte die Zugfahrt zu genießen, Musik zu hören so wie früher. Seine Gedanken flossen weiter, zurück nach St. Francisville, wo alles begonnen hatte. Er war immer sportlich gewesen, hatte sogar angefangen Sport zu studieren, bis zu diesen Ereignissen. Alles hatte so harmlos begonnen, an einem normalen Tag im letzten Frühling, das Wetter war perfekt gewesen, nicht zu heiß oder zu kalt, perfekt um laufen zu gehen. Er hatte einen guten Tag gehabt, war fast zwei Stunden gelaufen und hatte im Park halt gemacht um sich zu dehnen. Da war es passiert, da war ihm das größte Problem seines Lebens hinein gelaufen. Und dann hatte er noch frech gegrinst, dieser Typ. Steve hatte ihn sofort angefahren, und das einzige was dieser junge Mann erwiderte war: "Ich bin Damien Barnes, freut mich dich kennen zu lernen!"
Steve merkte wie sein Herz bei der Erinnerung an Damien schwer wurde, schnell versuchte er das Bild des jungen Mannes bei Seite zu schieben. Aber vielleicht war es Konfrontation die er brauchte, er holte sein Handy aus seinem Rucksack und ging auf Facebook und tippte den Namen ein. "Damien "Bucky" Barnes", zischte er leise vor sich hin "was für ein bescheuerter Name!" Das Profil erschien, viele Fotos des jungen Mannes. Steve klickte auf das Profilbild, starrte auf die blauen Augen und das scheinbar perfekte Gesicht von Damien. Es schien ihm gut zu gehen, sein braunes Haar war noch länger geworden, sein Lächeln schien zumindest auf dem Foto unbeschwert und deutete auf eine gute Zeit hin. Steve packte das Handy wieder weg, er konnte seinen erhöhten Herzschlag deutlich spüren und hoffte inständig das er ihm nicht begegnen würde.
Sein Handy vibrierte, genervt holte er es wieder hervor und öffnete die Nachricht die er erhalten hatte. Seine Exfreundin hatte ihm geschrieben das sie am Abend auch nach ihm sehen würde. Steve wäre am liebsten aus dem Zug gesprungen, er wollte sich gar nicht ausmalen wem seine Oma noch von seiner Heimkehr erzählt hatte. Und seine Ex, Jessica, wollte er erst recht nicht sehen. Er hatte sie kurz nachdem er Damien kennen gelernt hatte verlassen weil sie diesen nicht mochte. Er wusste damals selbst nicht warum ihm dieser Junge wichtiger als seine Beziehung war, hatte versucht sich einzureden das dies wohl ein Indiz dafür gewesen war, dass die Beziehung schon lange nicht mehr passte.
Die Wahrheit hatte ihn ein paar Wochen später wie ein Blitz getroffen. Er war mit Damien in seinem Zimmer gesessen, auf dem Sofa nach dem Sport. Damien war komisch gewesen, er schien abwesend und nachdenklich. "Was ist los Buck?", damals hatte Steve ihn noch bei seinem dämlichen Spitznamen genannt. "Steve, ich muss gehen, ich kann hier nicht sitzen bleiben!", Damien hatte sein seidiges braunes Haar zusammen gebunden und war seinen Blicken ausgewichen. Steve war verwirrt gewesen, aber Steve war immer ein wenig verwirrt wenn Damien in seiner Nähe war, noch nie hatte er sich einem Menschen emotional so nahe gefühlt wie diesem, obwohl er 2 Jahre jünger als Steve war.
Das halten des Zugs riss ihn aus seinen Gedanken, er packte seinen Rucksack und ärgerte sich über die verschwendete Zugfahrt. Er hatte sich vorgenommen nicht ständig an Bucky zu denken, aber es schien aussichtslos.
"Steve!", Oma Marry stand natürlich schon am Bahnsteig um ihm abzuholen. Er musste lächeln, ihre roten Backen und die weißen kurzen Locken hatten ihn schon als Kind fasziniert, Marry sah wie eine klassische Oma aus wie er fand. Er lies sich abküssen und konnte gerade noch verhindern das sie seinen Rucksack schnappte. "Du bist blass mein Junge, hast du nicht genug gegessen, wir machen dir erst mal eine Suppe wenn wir zuhause sind, und ich habe schon eine Torte gemacht und Eistee eingekühlt!", Marry sprudelte gerade zu vor Neuigkeiten als sie sich zu Fuß auf den Weg zu Steves Elternhaus machten. Die kleinen Straßen und Einfamilienhäuser von St. Francisville hatten ihm gefehlt, wie auf der historische Kern der kleinen Stadt die nicht einmal 1800 Einwohner hatte.
Steve stand nun das erste mal nach dem Tod seiner Eltern vor seinem Haus. Der helle mit Steinen gepflasterte Weg führte direkt auf das weiße klassische Südstaaten Haus zu. Die überdachte Veranda war mit Efeu überwachsen, Marry hatte sich anscheinend die Mühe gemacht diesen zu stutzen und die Gartenmöbel erstrahlten auch in neuem Glanz. "Oma, wie lange hast du hier geputzt, und der Rasen ist auch gemäht, das hättest du nicht machen müssen!", Steve lächelte, es freute ihn das Marry anscheinend alles dafür getan hatte damit er sich hier wohl fühlt. "Es ist jetzt dein Haus Steve, ich hoffe du bleibst!", die alte Dame lächelte und öffnete die Haustüre. Es duftete nach Apfelkuchen und dem Essig, mit dem Oma Marry immer die Böden putzte. Das Haus war perfekt geputzt, die Stiege, die Fenster, die Küche, Steve fühlte sich fast wie in einem "Schöner Wohnen" Katalog. Er steuerte die Küche an, auf der Ablage stand der Apfelkuchen dessen Duft er schon vor der Türe vernommen hatte. "Steve, zuerst koche ich dir noch eine Suppe!", Marry klopfte ihm auf die Finger, wie sie es schon sein Leben lang tat. Steve lachte: "Okay, ich bringe meine Sachen nach oben!"
Der obere Stock des Hauses bestand aus Steves Jugendzimmer, dem Schlafzimmer seiner Eltern und einem großen Badezimmer. Steve öffnete die Türe zum Zimmer seiner Eltern, blickte auf das weiße Doppelbett. Es war perfekt gemacht, alles sah noch so aus als würden die beiden jeden Moment durch die Türe kommen. Steve zog den Schlüssel innen von der Tür ab und verschloss sie von außen. Den Schlüssel legte er auf die Komode, die rechts neben der Türe stand, irgendwie war ihm nicht wohl beim anblick der Sachen seiner Eltern. Er ging nun in sein Zimmer, auch das hatte Marry fachgerecht gereinigt und aufgeräumt. Er warf seinen Rucksack auf das Bett und ging zu seinem Schreibtisch. Marry hatte die Unterlagen seines Studiums geordnet und sauber hingelegt. Daneben lag ein geschlossener Brief, er nahm ihn und betrachtete ihn eingehend. Jemand musste ihn in den Briefkasten geworfen haben da er keinen Poststempel trug, also lies sich nicht feststellen wann er angekommen war. Steve öffnete ihn, er erkannte die Schrift sofort. Ohne ihn zu lesen ging er ins Badezimmer und begann sich die Hände zu waschen, Oma Marry würde ihn vor dem Essen so oder so schicken.
"Oma!", Steve ging die Stiegen hinunter in die Küche "da lag ein Brief auf meinem Schreibtisch!" Marry drehte sich um, sie hatte schon für ihn aufgedeckt und ein großes Glas von ihren selbst gemachten Eistee eingeschenkt: "Oh stimmt, ein Junge hat ihn mir gegeben, dein Freund, dieser Buck oder Bucky wie du ihn immer nanntest. Komischer Bursche wenn du mich fragst, er trug eine Sonnenbrille und schaute sich ständig um, und die langen Haare, eigenartig!" Marry deutete ihm sich zu setzen und füllte seinen Teller mit heißer Hühnersuppe. Steve setzte sich, in seinem Kopf drehte sich wieder alles um Damien Barnes, obwohl er sich vorgenommen hatte nicht mehr ständig an ihn zu denken. Er wollte nicht wissen was in dem Brief stand, keine Zeile könnte erklären was Damien getan hatte.
Er löffelte seine Suppe und hoffte das Marry ihm seine Verwirrung nicht anmerkte. Sie verlor sich einstweilen in einem Schwall aus Erzählungen was im letzten halben Jahr passiert war, den ganzen Tratsch der Stadt.
Ein Klopfen beendete ihre Erzählungen, Marry grinste: "Oh, das muss Jessica sein, so ein nettes Mädchen! Ich habe sie eingeladen damit du an deinem ersten Abend nicht alleine bist!" Steve fragte sich ob seine Großmutter auch einmal Luft holte zwischen den Sätzen, es wirkte nicht so. Jessica strahlte ihn an als sie in die Küche kam. Sie hatte sich nicht wirklich verändert, sie hatte immer noch blonde Locken und niedliche Grübchen. "Steve, was für eine Freude das du zurück bist! Der Bart steht dir!", Jessica setzte sich zu ihm an den Tisch "ich habe tolle Pläne für heute Abend, ich hoffe du liebst Game of Thrones immer noch, ich habe dir die DVD mitgenommen!" Steve versuchte zu lächeln: "Danke Jessica, das ist nett, aber ich bin sehr müde, lass uns ein wenig hier sitzen und dann muss ich wirklich ins Bett!" Jessica sah enttäuscht aus, Oma Marry stellte ihr ein Glas Eistee auf den Tisch: "Gut Kinder, ich gehe nach Hause!" Steve lächelte sie an: "Danke Oma, ich bringe dir morgen Brötchen dann frühstücken wir zusammen!" Oma Marry lächelte und verlies das Haus. Peinliche Stille war zwischen ihm und Jessica eingekehrt. Steve wusste nicht was sie erwartet hatte, hoffte aber das er sie nicht zu sehr vor den Kopf gestoßen hatte. "Danke das du extra hergekommen bist obwohl, naja du weißt schon...", versuchte er das Gespräch wieder aufzunehmen. Jessica grinste schief: "Obwohl du mich letzten Sommer einfach abserviert hast und nur noch mit deinem neuen besten Freund herum gehangen hast? Kein Problem Steve, ich bin darüber hinweg, ich bin jetzt mit Sebastian zusammen!" Steve atmete erleichtert auf, also ein Problem weniger um das er sich kümmern musste. "Mit Sebatian, dem, wie du immer gesagt hast, blöden Football Spieler?", er lachte und endlich schien sich die Stimmung zu lockern. "Er ist gar nicht so blöd wenn man ihn besser kennt!", verteidigte Jessica lachend ihren Freund "und er sieht verdammt gut aus!" Die beiden unterhielten sich noch bis die Sonne fast vollständig unter gegangen war. Jessica erzählte von ihrer Ausbildung zur Kindergärtnerin und von dem neuen Restaurant das in der Stadt eröffnet hatte, Steak und anderes gegrilltes Fleisch, dazu Cocktails, also eine wahre Bereicherung für St. Francisville. Steve genoss diese normale Unterhaltung, immerhin hatte er ein halbes Jahr höchstens am Telefon mit seiner Großmutter geredet, abgesehen von dem Doktor, den er einfach sitzen gelassen hatte. "Hast du zufällig", er konnte sich die Frage nicht verkneifen "etwas von Buck... ich meine Damien gehört?" Jessica zögerte kurz: "Seine Mutter hat das Anwesen gekauft, die Myrtles Plantage, du weißt schon dieses alte Spukhaus über das sich jeder Geistergeschichten erzählt!" Steve wusste welches Haus sie meinte, als Kinder waren sie zu Mutproben auf das Gelände gegangen und hatten den Baum berührt, an dem laut der Legende die Sklaven ein Mädchen namens Chloe, welche die Frau und Tochter des Besitzers vergiftet hatte, aufgehängt hatten. "Und sonst hast du nichts von ihm gehört?", frage er nach. Jessica blickte ihn verwundert an: "Steve ihr wart die besten Freunde, ihr habt fast zusammen gewohnt und jeden Tag miteinander verbracht, melde dich doch einfach bei ihm!" Steve merkte wie er nervös wurde und lenkte das Thema geschickt in eine andere Richtung.
Ein Hupen unterbrach die beiden, Jessica sprang auf: "Das ist Sebastian, er holt mich ab, kommst du alleine zurecht?" Steve lächelte und nickte: "Danke das du da warst Jessica, wir sehen uns sicher demnächst, dann musst du mir Sebastian offiziell vorstellen!"
Steve hatte versucht zu schlafen, allerdings gab er sich gegen zwei in der Früh geschlagen und wanderte in die Küche. Er bemerkte das Licht auf der Veranda brannte und öffnete die Türe. Der Eistee den seine Oma gemacht hatte stand draußen auf dem Tisch, ein halbleeres Glas stand daneben. Einer der Sessel war mit dem Rücken zur Türe gedreht, aber Steve konnte spüren wer darauf saß.
"Was willst du hier?", er riss den Sessel herum und fiel fast zurück da das erwartete Gewicht fehlte. Der Stuhl war leer, Steve starrte auf den Eistee und packte diesen und das Glas und brachte die Sachen ins Haus zurück. Er nahm sich fest vor ab jetzt abzuschließen und ging noch einmal hinaus und drehte das Licht ab. Als Steve sein Zimmer wieder erreicht hatte ging er im Kopf noch einmal alles durch, er hatte abgesperrt, das Licht abgedreht, den Eistee in den Kühlschrank zurück gestellt und fühlte sich jetzt müde genug um zu schlafen.
Er legte sich ins Bett, sein nächster Gedanke spielte mit einem erneuten aufstehen um den Vorhang zu zu ziehen da der Mond ihm direkt ins Gesicht schien. Er öffnete die Augen als er merkte das es dunkel war, der Vorhang war geschlossen, im Halbschlaf versuchte er sich das logisch zu erklären, mehr verwirrte ihn das er ein Atemgeräusch neben sich vernahm. Langsam drehte er sich um und starrte die Person die sich scheinbar lautlos auf die Veranda, ins Haus, in sein Zimmer und sein Bett geschlichen hatte an. Er wollte etwas sagen, war sich aber nicht sicher ob er träumte oder aufgrund des Schlafmangels halluzinierte. Er wollte einfach weiter in diese blauen Augen schauen, sich darin verlieren. Er spürte wie die zarte Hand Damiens seine Wange berührte, er versuchte alles von dieser Berührung zu speichern und zu genießen.
Steve machte die Augen zu, fest entschlossen etwas zu sagen, ihn zu fragen was er hier wollte. "Bucky", flüsterte er und öffnete die Augen, die Sonne blendete ihn. Er war alleine, es war ein Traum gewesen, oder Einbildung, auf jeden Fall war Damien Barnes nicht hier. Steve starrte auf den Vorhang, nur eine Seite war geöffnet, die zweite war geschlossen, er musste in der Nacht zumindest eine Hälfte geschlossen haben. Er ging ins Bad und duschte sich, zog sich an um wie versprochen Brötchen zu kaufen und mit Oma Marry zu essen. Er entdeckte den Brief den er gestern, wie er glaubte, in seinem Zimmer bei Seite gelegt hatte. Der Brief von Damien "Bucky" Barnes, von dem er letzte Nacht geträumt hatte. Er lag am Waschbecken, gut ersichtlich. Steve nahm sich vor mehr zu schlafen, er konnte sich seine eigenen Handlungen nicht mehr merken, geschweige den erklären. Realität und Traum schienen zu verschwimmen und ihn in einem dämmrigen Zustand zu lassen. Er nahm den Brief und trug ihn zurück in sein Zimmer, legte ihn auf den Schreibtisch und versuchte sich die Position genau einzuprägen.
Dann machte er sich auf dem Weg zum Bäcker und nahm sich fest vor den Brief noch heute zu lesen.