»Kennen wir uns?« hörte ich eine sanfte Stimme hinter meinem Rücken, während ich einsam durch die belebten Straßen der Innenstadt schlenderte. Ich drehte mich um und rückte einen kleinen Schritt nach hinten. Zwei leuchtend blaue Augen sahen mich an, ein freundliches, aber zurückhaltendes Lächeln machte mir klar, dass alles in Ordnung war. Mir gegenüber stand dieser blonde Junge, hoch und entschlossen, seine Haltung war elegant. Kurz kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht träumte, denn bislang hatte ich gedacht, so etwas sieht man nur in Modezeitschriften… Aber sein Lächeln war anders. Das Lächeln dieses Wesens – er sah nicht aus wie ein Normalsterblicher, nein, ganz im Gegenteil, er erinnerte mich an einen Engel – war derart natürlich, dass es mich verwirrte. Sein Lächeln kam vom Herzen.
»Öhm… Ich glaube nicht« antwortete ich einige Momente später. Ich war noch immer fasziniert von seiner Ausstrahlung. Wie machte er das?
»Achso… « sein Lächeln verschwand, seine Miene wurde hart. Kurz schaute er mir noch in die Augen, dann drehte er sich um und ging.
Und ich schaute ihm nach, ich war wie gelähmt. Ich sah noch, wie er um die Ecke bog und verschwand.
Lange Zeit hatte es gedauert, bis ich wieder klar denken konnte. Minuten? Stunden? Die sich ständig ändernde Menschenmasse bewegte sich um mich, doch außer den Wandel der Umgebung nahm ich nichts wahr.
Es wurde dunkel. Ich stand immer noch gelähmt da, auf der fast ausgestorbenen Straße in der Innenstadt. Langsam spürte ich, wie die Ekstase nachließ. Wie aus einem Tiefschlaf erwacht, schnappte ich nach Luft und gab dabei ein dumpfes Geräusch aus, als würde ich ersticken. Die wenigen Geschöpfe starrten mich kopfschüttelnd an, aber mir waren sie egal. Ich hatte nur einen Gedanken im Kopf: ich musste diesen Jungen finden. Es ergab nicht viel Sinn ihm zu folgen, denn es waren Minuten, Stunden, vielleicht Tage an mir vorbeigeflogen, seitdem er gegangen war. Ich beschloss trotzdem, ihn zu suchen. Mit schnellen Schritten ging ich in die Richtung, in die er auch gegangen war, und folgte meinen Instinkten. Zwar wusste ich nicht, wohin ich ging, aber ich wusste genau, dass ich ihn dort finden würde.
Die Nacht kam, es wurde kalt.
Immer kälter.
Langsam sah ich die ersten Sonnenstrahlen.
Die Sonne ging auf. Und ich folgte noch immer diesem Jungen. Mittlerweile wusste ich gar nicht mehr, wo ich war; die Stadt war weit weg und mein Ziel schien immer näher zu rücken. Meine Hände waren eiskalt, meine Füße taub. Ich lief trotzdem weiter, denn ich spürte weder die Kälte, noch Durst oder Hunger. Das Einzige, was ich wahrnahm, war dieser innere Drang nach Freiheit, die ich dort, wo dieser Engel war, finden würde.
Ich kam immer weiter und weiter, ohne eine Pause eingelegt zu haben. Und auf einmal war ich am Ziel angelangt.
Es war diese Klippe, und ich wusste, dass ich sie schon irgendwo gesehen hatte, konnte mich aber nicht daran erinnern, wann und wo das war. Hinter der Klippe hörte ich ein leises Rauschen. Das Rauschen des Meeres. Nein, das konnte unmöglich das Meer sein. Wir hatten in der Nähe keine Küste, nicht einmal Seen. Meine Gefühle sagten dennoch, dass es das wundervolle Geräusch von Wellen war. Ich ging näher und entdeckte ihn, den Jungen, für den ich so weit gelaufen war. Den Jungen, der mir die Freiheit schenken würde. Er saß am Rande der Klippe und war von meinem Standpunkt aus nur ein ganz kleiner Punkt im Licht der gegenüber untergehenden Sonne. Als hätte ich laut gedacht, stand er auf und kam langsam auf mich zu. Ich blickte ihm in seine leuchtend blauen Augen. Die letzten paar Meter rannte er und umarmte mich fest, als er bei mir ankam.
Ich konnte es nicht erklären, was danach geschah. Meine Hand suchte seine, unsere Finger verflochten sich ineinander. Er führte mich zur Klippe, und tatsächlich, das Rauschen kam vom Meer. Es war unglaublich.
Wir standen da und schauten uns den Sonnenuntergang an.
Irgendwann, als es schon dunkel geworden war, drehte er sich zu mir, mit seiner freien Hand umarmte er mein Gesicht.
Es kam wie aus dem Nichts. Plötzlich erinnerte ich mich an alles. Ja, ich kannte ihn. Er war ein Engel. Er war mein Engel.
»Kannst…« ich ließ ihn nicht ausreden, denn auf seine unausgesprochene Frage antwortete ich mit einem Kuss. Ja, ich kannte ihn. Ich kannte ihn mein ganzes Dasein lang. Er war ein Engel mit einem Flügel. Seinen zweiten Flügel hatte er damals, vor tausenden von Jahren, mir geschenkt. Und um gemeinsam fliegen zu können, mussten wir uns umarmen.
Er bemerkte, was ich vorhatte. Ich spürte wie er lächelte, während wir uns leidenschaftlich küssten.
»Lass uns fliegen« flüsterte er mir ins Ohr. Ich umarmte ihn, er umarmte mich. Wir standen am Rande der Klippe. »Bist du bereit?« wollte er wissen, ich nickte. Ich war bereit. Ich war bereit, diese Welt zu verlassen und mich neuen Herausforderungen zu stellen. In einer neuen Welt wieder aufeinander zu treffen. Denn das war unser Spiel. Das war der Sinn unserer Existenz.
Ich schloss die Augen und wir sprangen von der Klippe. Wir stürzten, das Rauschen der Wellen wurde immer lauter, bis es ganz verstummte. Wir hatten die Welt durch das Tor der Engel verlassen.