Vorwort:
Diese Geschichte habe ich 2004 für meine kleine Schwester Laura geschrieben. Natürlich habe ich sie überarbeitet, aber die Story gleich belassen. Nach wie vor ist sie meiner Schwester gewidmet, durch sie habe ich überhaupt mit dem schreiben angefangen, sie hat sich nach dieser Geschichte nichts anders als Bücher von mir gewünscht zu jedem Anlass. Danke das du mein erster Fan warst Kleine! Danke auch an Kathy die mich nach all den Jahren wieder hinter die Tastatur und vor allem auf Belle gebracht hat!
Liam versuchte sein Gesicht vor dem Schneesturm zu schützen der ihn umgab, seine Augen schmerzten und tränten, er drehte sich um. Ein weißer Tiger, sein Kopf war direkt vor ihm, die blauen Augen des Tiers starrten in seine. Die prächtige Raubkatze brüllte, Liam erschrak und wankte zurück. Hinter ihm hatte sich ein Abgrund aufgetan, er fiel, der Schnee war verschwunden. Liam schrie und versuchte sich vor dem drohenden Aufprall zu schützen.
Als er die Augen öffnete sah er den besorgten Blick seines Lehrers, Prof. River. "Liam ist alles in Ordnung? Ich mache mir sorgen!", die strenge aber angenehme Stimme des Professors holte ihn endgültig in die Realität zurück. Liam zitterte, es war nicht das erste mal das er im Unterricht eingeschlafen war. Er wollte sich nicht erklären müssen, er wusste selbst das seine Noten unter dem Durchschnitt lagen seit die Alpträume zu Beginn des letzten Schuljahres angefangen hatten.
Liam packte seinen Rucksack und rannte aus der Klasse, ignorierte die Rufe seines Lehrers und seines Freundes Robert. Er sprintete über den langen Gang an den Spints vorbei bis zum Eingangstor der Schule, erst dort verlangsamte er das Tempo und verließ das Gebäude.
Ziellos irrte er die Straße entlang, vorbei an den Läden, in denen er nie einkaufen würde und den Kaffeehäusern, in denen glückliche Familien lachten und Eis aßen. Er verabscheute sie, dieses Lachen, diese Unbeschwertheit. Sein Handy klingelte, er wusste das die Schule längst seinen Sozialarbeiter kontaktiert hatte, Mag. Less. Ein netter Mann, immer sagte er ihm das er nur zu seinem Besten handeln wolle. Aber es gab nichts Gutes für ihn, nicht in diesem Leben, er hasste das Leben an sich und sein Entschluss es zu beenden stand weiter fest.
Das Gefühl angestarrt zu werden riss Liam zurück auf den Bürgersteig auf dem er stehen geblieben war. Er stand vor einem Abrisshaus, nur ein paar Obdachlose und Junkies trieben sich hier herum. Einer von ihnen starrte ihn an, ein junger Mann, kaum älter als er selbst. Seine Augen hatten etwas faszinierendes, dunkel Umrandet und doch hellgrau. Er war bleich und sehr dünn, wahrscheinlich ein Junkie. Er hatte ihn schon öfter hier gesehen, immer am Heimweg. Vor zwei Jahren hatte er ihm einen Teil seiner Jause gegeben, danach immer wieder die Hälfte seines Taschengeldes. Er wusste auch nicht warum, sie hatten nie wirklich geredet, er kannte nicht einmal seinen Namen. Sie hatten sich nur immer lang angestarrt und zugenickt. Erneut läutete Liams Handy, genervt zog er es aus dem Rucksack und holte die Simkarte heraus, dann warf er es dem jungen Mann zu: "Verkauf es, ein paar Dollar bekommst du sicher dafür!" Dieser nickte ihm zu und lächelte.
Sie schauten noch eine Weile zu einander, dann drehte Liam sich um und machte sich auf den Weg zu Robert, in der Hoffnung ihn noch vor seiner Wohnung abpassen zu können. Heute war Roberts Geburtstag, den würde er noch mit ihm feiern, danach würde er es tun. Er hatte alles geplant, sich Tabletten besorgt und an alle wichtigen Personen einen Brief mit einer Erklärung geschrieben. Liams Leben war noch nie einfach gewesen, aber mit Beginn der Alpträume war es zu einem nicht mehr erträglichen Zustand geworden. Er hatte nach seiner nicht sehr schönen Zeit im Waisenhaus ein Zimmer bekommen, finanziert vom Jugendamt und konnte in die Schule gehen. Mag. Less hatte sich immer um ihn bemüht, aber Liam würde die Schule nicht schaffen und hatte damit verspielt. Er würde in einer Woche 18 werden, dann wäre niemand mehr für ihn zuständig. Er erfüllte den für die Weiterführung der Waisenpension nötigen Notenschnitt nicht mehr und als Hilfsarbeiter würde er sich selbst nicht lange erhalten können. Außerdem wollte er kein Hilfsarbeiter sein, selbst im Waisenhaus hatte er immer das Gefühlt gehabt für Größeres bestimmt zu sein. Er wusste das dies immer ein lächerlicher Gedanke gewesen war, aber er hatte ihn nie ganz abstreifen können.
Ein lautes Hupen lies ihn erschrecken und er bemerkte das er einfach auf die Straße gelaufen war. Ein starker Arm hatte ihn gepackt und zurück gezogen. Er griff nach der Hand seines Retters und drehte sich zu ihm um. So nah war Liam dem Obdachlosen oder Junkiejungen noch nie gewesen. Seine grauen Augen faszinierten ihn noch mehr als früher. Er entdeckte auf seinem Brustkorb eine große Tätowierung die durch sein halb offenes Hemd schimmerte. "Pass auf wo du gehst Liam, man weiß nie wohin einem das Leben führt!", flüsterte der Junge geheimnisvoll. Seine Stimme war sanft, doch lag versteckt etwas bedrohliches in ihr. Liam starrte weiter auf die Tätowierung, eine Schlange die sich selbst verschlang. Er konnte nicht alles erkennen, aber er kannte das Symbol aus keltischen Sagen. Der Junge packte ihn an den Schultern und zwang ihn seinen Blick wieder in seine Augen zu richten. Er starrte ihn noch intensiver als sonst an: "Du kannst es sehen? Du kannst die Schlange sehen?" Liam war verwirrt und befreite sich aus dem Blick des Junkies, er wusste zwar nicht auf welchem Trip er sich gerade befand, aber sein Tag war auch so schon bescheiden genug gewesen und den letzten Rest an Energie, den er aufbringen konnte, würde er für Robert brauchen. Er wandte sich ab und lief weiter zu Roberts Haus.
"Liam!", Robert riss ihn sofort ins Haus nach dem er geläutet hatte "verdammt wo warst du, ich habe versucht dich zu erreichen, seit du wie ein Irrer aus der Klasse gestürmt bist! Was ist nur los mit dir?" Als Robert seinen Namen gesagt hatte schoss ihm etwas was ihm davor entgangen war. "Er hat mich Liam genannt!", Liam starrte auf den Boden. Robert war verwirrt: "Wer, Mr. Less, das tut er doch immer?" Liam verdrehte die Augen, wäre nicht Roberts 18. Geburtstag hätte er sich diesen Besuch erspart. Er ging an seinem Freund vorbei in die Küche und suchte nach etwas alkoholischem zu trinken. "Liam bitte rede mit mir!", Robert folgte ihm natürlich "und ich habe keinen Alkohol mehr falls du danach suchst, ich finde es nicht gut wenn du deine Probleme ertränkst!" Liam gab darauf hin seine Suche auf und versuchte ruhig zu bleiben. Er hasste es wie Mag. Less und Robert ihn immer bevormundeten. Liam trink nicht, Liam geh in die Schule, Liam sprich über deine Gefühle, Liam rede mit uns, dieses Gequatsche von besseren Menschen konnte er nicht mehr ertragen. Was wusste Robert von Einsamkeit? Seine Mutter verwöhnte ihn nach Strich und Faden und sein Vater brachte ihn sogar jeden Tag in die Schule. Er konnte jedes Jahr auf Urlaub fahren und würde nie in die Verlegenheit kommen kein Geld übrig zu haben. Und Mag. Less wusste auch nicht mehr, in seinem Büro hingen viele Familienfotos von lustigen Ausflügen und selbst gemalte Bilder seiner Kinder. Keiner der beiden würde verstehen was Liam fühlte, und schon gar nicht warum er nichts mehr fühlen wollte. "Okay, ich habe es ruhig probiert!", Robert hob die Arme "aber dein Sozialarbeiter hat mich angerufen und ich habe ihm gesagt das du hier wahrscheinlich auftauchst, er hat die Polizei informiert!" Liam riss die Augen auf und starrte seinen Freund wütend an: "Verräter!" Robert begann nun zu schreien: "Liam wir machen uns sorgen um dich, du bist seit einem halben Jahr nicht mehr zurechnungsfähig! Du bist wie ein Zombie, schläfst ein, malst diese komischen Bilder von weißen Tigern und redest nun gar nicht mehr mit uns! Wir sind der Meinung du solltest zu einem Psychologen gehen!" Liam riss nun nach der Reihe die Schubladen auf, er hatte keine Zeit mehr, die Polizei würde in seinem Zimmer die Briefe und die Tabletten finden, dann würden sie kommen und ihn in eine Klapsmühle stecken, der ganze Plan war zerstört. Robert schrie ihn weiter an, aber Liam hörte ihn kaum noch, sein Körper schien in einer Art Rauschzustand zu sein, er fand endlich die richtige Lade, Küchenmesser in allen Größen lagen schön sortiert vor ihm. Er riss wahllos eines daraus hervor und drehte sich zu Robert um. Dieser hatte aufgehört ihn anzuschreien, war kreidebleich geworden und starrte auf das Messer. Liams Wut auf seinen Freund war verflogen.
"Es tut mir Leid Robert, happy Birthday!", presste er mit dünner Stimme hervor und schubste seinen Freund zur Seite um aus dem Haus zu fliehen.
Liam rannte, vorbei an den netten Vorstadthäusern. Er konnte die Polizeisirenen hören, sie näherten sich unweigerlich, ein Blick über die Schulter war nicht nötig. Eigentlich hätte er für sich sein wollen wenn er sein Leben beendete. Alleine, wie immer, im Stillen, in seinem Zimmer. Noch ein wenig lesen, dann einschlafen und nie wieder Träumen, nie wieder aufwachen, nie wieder leben müssen. Er hatte die Brücke, welche die Grenze der Stadt markierte, erreicht. Er wusste das er es gleich tun musste, sonst würden sie ihn schnappen.
Liam riss seine Ärmel hoch und begann zu schneiden. Durch seinen erhöhten Adrenalinspiegel spürte er nur ein leichtes zwicken als er sich die Arme vom Handgelenk bis zu den Ellbogen auf schnitt. Warmes Blut spritzte passend zu seinem Herzschlag verschieden stark aus den Wunden. Liam war fasziniert, es sah fast schon schön aus. Am Boden vor ihm bildete sich eine Pfütze, aber die Sirenen würden lauter, Reifen quietschen.
"Noch nicht!", flüsterte Liam und kletterte mit letzter Kraft auf das Geländer der Brücke. Er schwankte, sein Kreislauf begann zu versagen. "Junge komm da runter, mach keinen Blödsinn!", der erste Polizist war angekommen und sprang aus dem Auto. Liam lächelte und starrte hinunter von der Brücke, in den Fluss, er sprudelte unter ihm wie das Blut aus seinen zerschnittenen Adern. Er fühlte sich das erste mal in seinem Leben angekommen, frei, unbeschwert. So musste es sich anfühlen wenn man eine Familie hätte, keine Sorgen, keine Ängste, nur ein Fluss aus Wärme. Liam lächelte und rief dem Polizisten zu: "Ich mache keinen Blödsinn, ich mache nie wieder Blödsinn, versprochen!" Er ging einen Schritt nach vorne und lies sich fallen, in die Leere, wie in seinen Alpträumen. Aber die Leere fühlte sich gut an, warm, kein Aufprall, still und leicht. Nichts war um ihn herum, er war am Ende seiner Reise angekommen. Wäre da nicht dieses Rascheln, aber wo kam es her, wenn alles vorbei wäre müsste Liam doch einfach nichts mehr wahrnehmen. Eine Schlange, eine Schlange die sich selbst verschlang. Und eine Stimme, die nicht seine Eigene war, Liam versuchte etwas zu erkennen, aber er sah nur die Schlange.