Martin hatte ihn schon oft gefragt, ob die Sonne Antonio noch töten konnte, ob er schon alt genug wäre. Der alte Vampir konnte es ihm nicht sagen, doch er hatte schon selbst einmal diese Vermutung gehabt. Antonio entschloss sich schließlich, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Die möglichen Folgen kannte er. Entweder würde er verkohlt erwachen, oder für immer sterben.
Als Martin eines abends zu ihm in die Villa kam, saß er zwischen seinen Bücherregalen im Sessel, wie fast immer. Er sah nachdenklich aus und er sagte kein Wort, als Martin eintrat.
„Antonio, was ist?", fragte der Jüngere besorgt. Der andere hob den Kopf und blickte Martin einige Sekunden an. Dann sagte er: „Ich werde es tun, mein Freund. Heute werde ich es wagen." Der junge Vampir wusste zuerst nicht, was er meinte, doch dann dämmerte es ihm: „Was? Ist das wirklich dein Ernst? Du willst tatsächlich deine Unsterblichkeit opfern?" Antonio nickte schwach: „Ich bin mir über das Risiko absolut im Klaren. Warum machst du dir Sorgen um mich? Du wolltest doch, dass ich es versuche." Martin trat neben ihn und legte die Hand auf seine Schulter: „Verlass mich nicht. Ich will nicht, dass du stirbst!" Diese Worte machten den Älteren fast traurig. Er wollte ihn auch nicht einfach so zurücklassen. Er umfasste Martins Hand und sagte: „Es ist entschieden! Danach werde ich mehr Macht besitzen, als jetzt. Die Gefahren, denen wir uns aussetzen müssen für höhere Kräfte, werden immer größer. Darin liegt unser Bestreben. Nach der wahren Unsterblichkeit, nach der Göttlichkeit." Und er fügte noch hinzu: „Ich will wissen, wie stark ich bereits bin. Hilfst du mir!" Der junge Unsterbliche dachte kurz nach, dann nickte er: „Okay, was muss ich tun?" Der andere erhob sich aus seinem Sessel und ging zum Fenster hinüber: „Du musst nur mitkommen und verhindern, dass ich der Morgenröte entfliehe."
„Aber wie kann ich das, wo du doch viel länger dem Licht standhalten kannst?" Antonio lächelte nur: „Alles zu seiner Zeit!" Dann entschwand er durch das geöffnete Fenster. Martin fand ihn sitzend, auf dem Dach seiner Villa, vor.
„Hör mir zu, Martin. Falls ich nicht zurückkehren sollte, ist das alles dein." Dabei streckte er den Arm aus und blickte über sein Anwesen. „Lass dich von keinem Unsterblichen vertreiben. Verteidige meinen Besitz gegen jeden, der ihn beanspruchen will. Versuche ein würdiger Nachfolger zu werden, indem du deine Kräfte herausforderst. In dir steckt mehr, als du glaubst. Wahrscheinlich habe ich dich deshalb ausgesucht. Du warst von Anfang an stärker und mächtiger, als andere Neugeborene." Martin sah in den wilden Garten, der um das Haus wucherte: „Ich habe keine Zweifel, dass du zurückkehren wirst."
Nach einer kurzen Pause: „Fürchtest du dich, Antonio?" Dabei wandte er sich dem Älteren zu. Dieser nickte: „Ja, ich habe Angst davor. Es könnte meinen Tod bedeuten und ich fürchte mich vor der Hitze und den Schmerzen. Ich werde dieselben Qualen erleiden, wie ein Mensch, der im Feuer verbrennt. Aber ich denke, dass sich die Strapazen lohnen werden." Martin fand, dass er erstaunlich ruhig war, für das, was ihm bevorstand. Seine Stimme verriet keinen Funken von Furcht. Sie klang so getragen, wie immer.
Als der Himmel sich aufhellte, so schwach, dass es die Sterblichen noch nicht wahrnahmen, erhob sich Antonio und sprang in die Tiefe hinab. Kurze Zeit später stand er wieder neben dem Jüngeren. Er hatte sich einen Mantel übergezogen und meinte: „Es ist Zeit. Komm!"
Martin folgte ihm in einem atemberaubenden Tempo über die menschlichen Siedlungen hinweg, über karge Landstriche, bis sie eine Felsformation erreichten. Antonio steuerte darauf zu und setzte die Füße auf den sandigen Boden. Er blieb stehen und beobachtete den Horizont, wie sich dieser langsam von hellblau in hellgelb verfärbte. „Such dir in der Nähe ein Versteck. Es ist zu spät, um noch zurückzukehren." Martin betrachtete ihn nur. Seine dunkelbraunen Haare, die sich bis zum Rücken ergossen. Antonio spürte seine Blicke, aber drehte sich nicht um. Fasziniert starrte er zu den rötlichen, mit lila durchzogenen Streifen am Himmel. Bald war es soweit.
Der Ältere ließ den Mantel zu Boden sinken. Martin sah, dass er darunter nackt war.
„Hol das Messer aus der Manteltasche!" Der junge Vampir fragte verdutzt: „Wozu brauchst du ein Messer?"
„Nimm es schon!", sagte Antonio scharf.
Der andere kramte zwischen dem zerknüllten Stoff, bis er die kühle Klinge an seinen Fingern spürte. „Was soll ich damit tun?" Sein Liebhaber wandte sich endlich zu ihm um und kam langsam näher. Seine vollkommene Schönheit, die nun zerstört werden würde, rührte Martin fast zu Tränen. Der Ältere legte sich auf den Boden, streckte die Arme zu beiden Seiten aus und sprach: „Du musst mir nun die Hände abschneiden. Ich darf mich bei Sonnenaufgang nicht eingraben können." Martin schüttelte entgeistert den Kopf: „Nein, das kannst du nicht von mir verlangen. Ich kann deinen Körper nicht zerstören."
„Tu es, Martin! Es muss sein. Lass mich jetzt nicht im Stich. Du musst dich beeilen, sonst erwischt dich noch das Morgenlicht. Bitte, mein Freund! Bringen wir es zu Ende."
Martin rang mit sich selbst, als er sich neben dem Älteren niederkniete und den Griff des Messers fester umklammerte. Er starrte auf Antonios Handgelenke, sah die Adern, die sich unter der blassen Haut abzeichneten und wie er die Sehnen anspannte. Es kostete ihn alle Überwindung, die er aufbringen konnte, um diesen geliebten Körper zu verstümmeln. Martin umfasste einen der Unterarme, drückte ihn zu Boden und hörte Antonios Stimme: „Schlag endlich zu! Ich will nicht, dass du auch noch verbrennst." Die Klinge schlug mit aller Kraft in sein Fleisch. Der alte Vampir lag regungslos da, ohne eine Miene zu verziehen. Er betrachtete die vorbeiziehenden Wolken und dachte über seine Empfindungen nach, die er gerade hatte. Er spürte, wie das Blut aus seinen Armen schoss und das Kribbeln in seinen Adern. Der Jüngere erhob sich schließlich. Besorgt blickte er auf die Blutpfützen unter Antonios Unterarmen. „Bist du nun zufrieden?" Der Ältere nickte: „Ja, nun geh! Bewahre sie gut bei dir auf, damit sie kein Licht trifft." Der junge Mann wollte ihn nicht allein lassen. Er fiel neben Antonio auf die Knie und strich über dessen Gesicht. „Verlass mich nicht! Du musst mir nichts beweisen. Steh auf und komm mit mir. Bitte Antonio, tu es nicht." Der ältere Unsterbliche sah tiefe Besorgnis in Martins Gesichtszügen.
„Ich muss es mir selbst beweisen! Ich muss wissen, wo meine Grenzen liegen. Du gabst mir den Anstoß dazu und ich werde es jetzt nicht rückgängig machen. Küss mich! Wer weiß, ob ich noch einmal deine Lippen kosten kann." Martin beugte sich zu ihm hinunter und ihre Lippen trafen sich. Beide genossen diesen Moment, als wäre er der Letzte. Dann verließ Martin den Platz, um sich ein passendes Versteck zu suchen.
Der Himmel zeigte bereits rote bis orangefarbene Töne und das Blau der Nacht war gänzlich verschwunden.
Antonio befiel plötzlich Panik, als er das sah. Er fühlte die aufsteigende Hitze hinter den Hügeln, die, die Sonne noch verbargen. Seine Augen suchten nervös nach einer Möglichkeit, der Strahlung zu entgehen, aber es gab nur spärliches Gras auf sandigem Boden. Hastig warf sich Antonio auf den Bauch und versuchte mit den Ellbogen den Sand wegzuschaufeln. Doch die ersten Strahlen trafen bereits seine Waden. Mit einem Aufschrei schob er sich weiter in den Schatten, aber das Licht verfolgte ihn erbarmungslos. Er fühlte die bleierne Schwere seiner Glieder und die Hitze, die auf ihn zu kroch, wie Lava. Seine Waden brannten immer noch und er grub verzweifelt mit den Unterarmen weiter. Antonio wusste, dass der erste Schmerz nur ein schwacher Abglanz davon war, was ihn noch erwartete. „Oh, Gott! Ich will nicht! Verschone mich!" Aber es war zu spät. Die Sonne stieg höher und bedeckte den Körper mit ihrem Feuer.
Der Vampir schrie erbärmlich, vergrub den Kopf zwischen seinen Armen. Alles schien zu brennen. Seine Beine, seine Arme, sein Rücken, sogar seine Kopfhaut versengte. Seine Ohren schmerzten von seinen eigenen Schreien und er warf sich besinnungslos vor Pein herum. Nun brannte die Sonne auf sein Gesicht, seine Brust und seinen Bauch. Kurz sah er das gleißende Licht, das auf ihn niederfiel und es ergoss sich, wie glühendes Erz in seine Augen und seinen aufgerissenen Mund. Der Unsterbliche litt Höllenqualen und er hoffte bald das Bewusstsein zu verlieren. Allmählich dämmerte er in seinen Todesschlaf hinein, als der Feuerball weiter am Himmel emporstieg.
Der geschwärzte Leib lag auf dem Rücken und bewegte sich nicht. Martin sprach ihn an, aber erhielt keine Antwort. Nicht einmal seine Gedankenströme. Er stand neben Antonio und betrachtete ihn. Seine Glieder waren nicht verkohlt, wie es jüngeren Vampiren passierte. Nur die Haut war schwarz und glänzte, als wäre sie aus schwarzem Holz gemacht und sorgfältig poliert worden. Das Einzige, was die Sonne verschont hatte, waren die Haare und Nägel, weil es totes Gewebe war.
„Antonio, antworte mir! Sag, dass du es überstanden hast." Er erhielt immer noch keine Antwort und setzte sich verzweifelt in den Sand. Die unversehrten Hände lagen neben ihm und er besah sich die langen Fingernägel und die alten Ringe an den Fingern. Das Fleisch würde nie verwesen, nur vertrocknen, weil die Unsterblichkeit in ihnen war.
Nach einer Weile erhob er sich wieder, um seinen Freund zu bestatten. Martin war davon überzeugt, dass er tot war. Er trat an den verbrannten Körper, kauerte nieder und wollte gerade seine Arme unter ihn schieben, als eine vertraute Stimme in sein Hirn fuhr: ‚Fass mich nicht an!' Der junge Vampir wich erschrocken zurück. Antonio bewegte sich noch immer nicht, aber seine Gedanken erreichten den Anderen. ‚Bring mir ein Tier, Martin! Ich muss wieder zu Kräften kommen für die Rückkehr.' Der Jüngere musste weinen vor Freude. Die Tränen flossen über seine Wangen und er schluchzte: „Du Saukerl, hast es geschafft! Ich wusste, dass du ihr trotzen würdest. Verdammt, du hast mir ganz schön Angst eingejagt. Ich dachte, du wärst tot."
‚Es tut mir leid, aber ich erwachte erst, als du schon bei mir saßt. Ich kann nicht auf menschliche Weise sprechen. Meine Zunge ist versengt und meine Augen ebenfalls.' Martin fragte besorgt: "Kannst du dann überhaupt trinken?"
‚Es wird schon gehen. Aber nun fange etwas für mich. In meinen Adern fließt kaum noch Blut. Alles verglüht durch die Hitze.'
Der Jüngere brachte ihm nach kurzer Zeit ein Kaninchen mit. Er hielt das zappelnde Tier an Antonios verdorrte Lippen. Der alte Vampir roch das Blut und hörte das kleine Herz aufgeregt schlagen. Als er dann versuchte die Kiefer zu öffnen, schmerzte und spannte sein ganzes Gesicht. Am liebsten hätte er aufgeschrieen, doch er packte zu und ignorierte den Schmerz. Das Blut war eine Wohltat für seinen ausgedorrten Leib, aber der Strom versiegte viel zu schnell. Antonio gelüstete es nach einem Sterblichen, aber in dieser Gegend, war weit und breit keine Behausung. Er musste sich gedulden, bis sie wieder in der Stadt waren.
„Brauchst du noch mehr?", fragte Martin.
‚Ja. Versuche etwas Größeres zu fangen.'
Das nächste Opfer war ein Kojote. Martin hatte ihn mit einem Schlag ins Genick, betäubt. Es mussten noch einige, dieser wolfsähnlichen Tiere sterben, bis der verbrannte Körper genug Kraft zum Fliegen hatte.
„Bist du bereit?" Antonio antwortete: ‚Ja, ich werde es jetzt versuchen.' Martin zog den letzten Kadaver von dem schwarzen Leib herunter. „Soll ich dich doch lieber tragen?"
‚Nein!', erklang die scharfe Stimme des anderen. ‚Deine Berührungen würden mir nur höllisch weh tun und ich muss das allein durchstehen.' Der Jüngere wartete geduldig, bis sich sein Freund in die Luft erhob. Er bewunderte ihn für seinen eisernen Willen und dass er das Sonnenlicht so gut überstanden hatte.
Der alte Vampir biss die Zähne zusammen, als die Luft, stark an seinem Körper vorbei strich. Es fühlte sich an, als würde er immer noch brennen und der Wind erhöhte seine Qualen. Er wünschte, er hätte es nie getan. Was war, wenn er nie mehr seine Schönheit zurückerlangen würde, wenn Narben blieben? Trotz seines fehlenden Augenlichts, kannte er den Weg nach Hause.
Martin versorgte ihn in den nächsten Wochen der Heilung mit Opfern, bis der Ältere selbst wieder auf Jagd gehen konnte. Da sah er aus, als käme er von einem Strandurlaub zurück. Die Sterblichen würden dazu „Kackebraun" sagen.
Doch noch lag Antonio bewegungslos in seinem steinernen Sarkophag und erwartete Martins Mitbringsel jede zweite Nacht. Jede kleine Bewegung schmerzte und so dachte er über den Anfang seiner Unsterblichkeit nach. Diese neue Welt der Finsternis, war für Antonio so anders, als das menschliche Dasein, gewesen. Man feierte oft rauschende Feste, die normalerweise nur dem Adel vorbehalten waren. In dieser Welt wurden alle Tabus gebrochen und anfangs war er ziemlich schockiert. Fast wäre er in seinen Kreisen damals in Ungnade gefallen.
Pierre, sein ehemaliger Freund und Liebhaber, war verhaftet worden, weil jemand seine Neigung zu Männern entlarvt hatte. Nun war ihm der Prozess gemacht worden und er wartete im Kerker von Paris auf seine Hinrichtung. Antonio konnte ihn einfach nicht diesem Schicksal überlassen. Er musste ihn befreien, auch wenn er dafür von seiner Art geächtet werden würde.
In der Nacht vor der Vollstreckung des Urteils, drang Antonio in das Gefängnis ein. Jeder Wachposten, der sein Weiterkommen verhindern wollte, musste sterben. Der Unsterbliche bahnte sich seinen Weg, immer tiefer in die Kerkergewölbe hinab. Mühelos stieß er die schweren Türen auf und langsam machte es ihm Spaß, seine Kräfte zu erproben. Ab und zu blieb er kurz stehen, um Pierres Witterung zu erhaschen. Dieser Ort war schrecklich für seine Sinne. Der Gestank von Fäkalien, Verwesung und die Schreie der Gequälten. Doch dann sog er endlich den vertrauten Duft seines Geliebten ein. Antonio huschte die letzten Stufen hinab, stieß die verwirrten Wachen beiseite und brach die Zellentür aus den Angeln. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Stockfinsternis, die in der Zelle herrschte. Er entdeckte Pierre schlafend auf dreckigem Stroh. An seinem Kopf klaffte eine hässliche Wunde und er war abgemagert. Sein Anblick machte den Vampir wütend. Was hatten sie seinem Freund angetan? Er kniete neben den Schlafenden und flüsterte: „Pierre, wach auf! Ich bin es, Antonio. Du bist frei!" Der Sterbliche öffnete nach einigem Rütteln, langsam die Augen. Doch er konnte nur den dunklen Umriss einer Gestalt erkennen. „Antonio, bist du es? Wie kann das sein?" Der Unsterbliche riss die Fußkette aus der Mauer: „Das erkläre ich dir später. Wir müssen schnell weg von hier." Dabei hob er seinen geschwächten Freund auf die Arme: „Halte dich gut an mir fest." Und rannte fast zu schnell für menschliche Augen die Treppe hinauf, sprang über die Dächer der angrenzenden Häuser und war kurze Zeit später verschwunden. Die Wächter glaubten, der Teufel persönlich, hatte seinen Diener geholt.
Pierre wusste gar nicht mehr, was eigentlich geschehen war. Er erkannte seine Schlafstube, als er sich umblickte und neben seinem Bett saß Antonio in voller Pracht. Er war in edle Stoffe gekleidet und sah wunderschön aus. Seine dunklen, langen Haare lagen in Wellen, seine Gesichtszüge waren feiner und die Haut so glatt. So hatte er seinen Freund gar nicht in Erinnerung gehabt. Absolut makellos!
„Antonio, träume ich das alles nur?" Der Vampir umfasste seine Hand: „Nein, du bist wirklich wieder hier. Aber wir müssen so schnell, wie möglich fort. Sie werden dich überall suchen. Ich bringe dich an einen sicheren Ort." Pierre fühlte die Zartheit der Finger, die er umfasst hielt: „Wo warst du so lange? Ich habe dich vermisst. Ohne eine Nachricht, hast du mich und deine Familie verlassen. Und wie hast du mich aus dem Verlies befreien können?" Antonio senkte die braunen Augen: „Ich gehöre nicht mehr hierher. Meine Welt ist eine andere. Wir werden uns trennen müssen, wenn ich dich in Sicherheit weiß." Der Sterbliche packte den Arm des anderen: „Warum willst du mich wieder verlassen? Ich brauche dich. Bitte bleib bei mir." Antonio sah ihn eindringlich an: „Versteh doch! Es ist unmöglich. Ich bin nicht mehr der, der ich früher war. Es ist etwas geschehen von dem du keine Ahnung haben kannst." Pierre blickte ihn ungeduldig an: „Sprich weiter! Sag mir, was geschehen ist."
„Ich bin ein Wesen der Nacht geworden. Siehst du die Veränderung?" Pierre betrachtete ihn: „Du bist schön, deine Haut ist hell und zart, wie die der Adligen. Was hast du getan? Hast du deine Seele verkauft?"
„Sie wurde mir gestohlen. Gestohlen von einer schönen Frau."
Der Sterbliche erhob sich nun und ging ein wenig im Zimmer umher: „Du hast also Zauberkräfte, nicht wahr? Welchen Preis musstest du dafür zahlen?" Der Vampir starrte den Boden an: „Dass ich töten muss, dass ich nie wieder das Tageslicht erblicke und alles Frühere aufgeben muss." Der Mensch nickte, er verstand: „Hat sich dieses Opfer gelohnt?" Der Unsterbliche entgegnete: „Bis jetzt schon. Mich plagt kein Gewissen mehr. Ich fühle mich befreit. Befreit von allem Irdischen." Dann begann er Pierres Kleider in eine Reisekiste zu packen.
„Was machst du da?", fragte sein Freund. Der Vampir sagte: „Ich packe deine Sachen zusammen. Hilf mir! Wir müssen endlich fort, bevor die Wachen kommen."
Pierre kramte seine spärlichen Habseligkeiten zusammen und warf sie zu den Kleidern in die Kiste. Dann bestiegen sie die Kutsche, die Antonio gestohlen hatte. Das Blut des Kutschers strömte in seinen Adern. Nun trieb er die Pferde zur Eile an. Im wilden Galopp raste das Gefährt über die holprigen Wege. Pierre sank unterdessen erschöpft auf die gepolsterten Sitze, um zu schlafen. Die rasante Fahrt führte durch den Wald, bis Antonio vor einem verfallenen Haus, anhielt. Von dem Ruck erwachte der Mensch und linste müde aus dem Fenster: „Wo sind wir?" Antonio öffnete die Kutschentür: „In meinem Versteck. Komm, steig aus!" Pierre war das alles nicht geheuer. Um ihn herum waren viele unbekannte Geräusche und seine Augen konnten die finstere Nacht nicht durchdringen.
„Hab keine Angst. Ich führe dich. Nimm meine Hand, damit du nicht stolperst." Piere erfasste die Hand seines Freundes und tappte unsicher hinter ihm her. Der Mond schien nicht, in dieser Nacht und er wunderte sich, wie Antonio sich hier zurecht fand. Der Unsterbliche hörte seine Gedanken und erwiderte: „Ich sehe hier ganz gut. Es ist eine meiner neuen Fähigkeiten." Dabei wandte er sich um und Pierre ließ mit einem Aufschrei seine Hand los. Die schwach glimmenden Augen erschreckten ihn: „Bleib mir vom Leib! Fass mich ja nicht mehr an."
„Was ist denn? Warum fürchtest du dich vor mir?" Pierre war immer noch starr vor Schreck: „Deine Augen! Sie leuchten, wie bei einem Tier. Was bist du für ein Teufel?" Antonio griff vorsichtig nach seinen Fingern: „Jetzt komm schon. Ich möchte dir doch nur helfen. Ich gebe dir etwas zu essen und deine Wunde muss versorgt werden." Der Unsterbliche spürte die panische Angst seines Liebhabers. Er hörte den rasenden Puls und roch den Schweiß. Pierre starrte ihn immer noch entgeistert an. Die glimmenden Augen verschwanden wieder und er fühlte eine warme Hand an seinem Arm.
„Bitte, Pierre. Komm jetzt!", sagte Antonios Stimme besänftigend. Der Sterbliche folgte ihm wieder. Er hatte gar keine andere Wahl, um dieser Finsternis zu entkommen und um etwas in den Magen zu bekommen.
Im Haus entzündete Antonio einige Kerzen und führte Pierre an einen reich gedeckten Tisch: „Setz dich und lass es dir schmecken." Der Sterbliche blickte sich zuerst in dem Zimmer um, bevor er sich hinsetzte. Außer diesem Tisch und einigen Stühlen, befand sich eine Kochstelle darin und ein Schlafplatz auf frischem Stroh. Sonst war der Raum sehr karg. Es lebten sicherlich schon lange keine Menschen mehr hier. Dann besah er sich die Speisen, die Antonio besorgt hatte. Würste, Brot, Wein und Obst. Antonio schien an alles gedacht zu haben und der Sterbliche erinnerte sich wieder an seinen Hunger, beim Anblick dieser guten Dinge, die er seit einiger Zeit entbehrt hatte.
Der Vampir beobachtete interessiert, wie sich Pierre hungrig über das Essen hermachte. Er war erst einige Monate unsterblich und hatte schon vergessen, wie menschliche Nahrung schmeckte, oder wie es sich anfühlte seine Zähne zum Kauen zu benutzen. Diese Kaubewegungen fand er sowieso sehr unästhetisch. Da war ihre Art der Nahrungsaufnahme doch viel eleganter. Es erzeugte keinen Laut und keine Bewegung. Nur der lautlose Sog, der die Nahrung hineinzog. Er musste über Pierres ungestümes Essverhalten lächeln: „Du scheinst seit Ewigkeiten nichts mehr bekommen zu haben." Der Sterbliche sah zu ihm auf: "Nicht solche Leckereien, wie hier. Nur Wasser und Brot. Willst du nicht mitessen?" Antonio lehnte dankend ab: „Ich hatte meine Ration schon." Der Mensch beäugte ihn argwöhnisch: „Du kannst diese Speisen nicht zu dir nehmen, hab ich recht?! Von was musst du dich nähren, wenn überhaupt von etwas?" Der dunkelhaarige Mann trat näher an den Tisch: „Ich weiß nicht, was geschehen würde, wenn ich davon esse. Sterben kann ich nicht mehr, aber mein Körper braucht das Blut der Lebenden. Dadurch erhalte ich meine Kräfte und ohne dieses Elixier müsste ich zugrunde gehen." Pierre blickte ihn immer noch misstrauisch an. Antonio fügte hinzu: „Ich will dir nichts tun. Verabscheue mich nicht. Morgen Abend bringe ich dich auf ein Schiff nach England. Dort werden sie dich niemals vermuten und ich werde dich in Sicherheit wissen. Es ist alles für die Reise vorbereitet."
„Warum tust du das alles für mich, wenn du den bösen Mächten gehorchst?" Der Vampir lächelte: „Weil ich dich liebe. Ich konnte dich nicht dem Henker überlassen. Das wäre das Schlimmste für mich gewesen." Pierre vergaß seinen Argwohn. Er war so froh Antonio endlich wieder zu sehen. Doch die bevorstehende Trennung grämte ihn sehr und die Reise mit dem Schiff machte ihm Angst. Nach England wollte er ihn schicken, wo er doch die Sprache nicht beherrschte und dort niemanden kannte. „Gibt es in Frankreich kein Versteck für mich?" Der andere schüttelte den Kopf: „Hier wärst du nirgends sicher. Du müsstest in ständiger Angst leben. Jenseits des Wassers kannst du ein völlig neues Leben beginnen. Ich habe dir etwas von meinem Vermögen überlassen. Ich möchte, dass du ein angenehmes Leben führen kannst. Morgen begleite ich dich zum Hafen." Der Sterbliche nickte und seine Augen hafteten auf Antonios Erscheinung. Wie konnte jemand nur so eine übermächtige Ausstrahlung besitzen? Er musste ein höheres Wesen sein. Schön und mächtig!
„Und ohne Reue!", fügte der Unsterbliche hinzu. Pierre irritierte diese Bemerkung, weil Antonio seine Gedanken gehört hatte. Sein Liebhaber strich behutsam über Pierres Schulter. Als der andere keine Furcht zeigte, beugte sich Antonio zu ihm hinunter und küsste seine Wange. Dann wich er wieder ein wenig zurück, um seine Reaktion abzuwarten. Der Mensch hatte die Berührung dieser seidigen Lippen sehr genossen. Sein Verlangen nach seinem Geliebten erwachte und in inniger Umarmung sanken sie zu Boden.
So gut, wie jetzt, war ihr Zusammensein nie gewesen. Pierre lag erschöpft auf dem Strohlager und beobachtete Antonio beim Ankleiden. Sein Freund hatte einen vollkommenen Körper. Lohnte es, sich dafür den Mächten des Bösen auszuliefern? Der Sterbliche wusste nicht, was Antonio genau war. Er wusste nur, dass er ein Dämon geworden war. Ein Mörder, das war er doch?!
„Woher hast du die Wunde am Kopf?", fragte der Vampir. Pierre antwortete: „Sie stießen mich die Stufen hinab, aber es ist nicht so schlimm, wie es aussieht."
„Ich werde sie mit Wein auswaschen." Antonio tupfte vorsichtig die verdreckte Blutkruste von Pierres Stirn. Als er damit fertig war, band er ihm einen Stoffstreifen um den Kopf.
Schließlich hüllte sich Pierre auf dem Stroh in die Decken: „Wo schläfst du, Antonio?" Der Unsterbliche lächelte: „Ich kann es dir nicht verraten. Du würdest mich töten." Dann wandte er sich zum Gehen: „Morgen Abend werde ich wiederkommen. Schau dir inzwischen die Umgebung an. Aber wage dich nicht zu weit von diesem Platz fort, sonst könnte dich noch jemand sehen." Pierre entgegnete: „Ich könnte dich niemals töten. Du hast mir das Leben gerettet." Der Vampir schüttelte den Kopf: „Du würdest es tun, glaub mir. Dein Glauben verlangt es von dir, seit du weißt, dass ich töten muss. Wenn du mich hilflos in meinem Versteck finden würdest, hättest du das Bedürfnis, mich dem Tageslicht auszusetzen." Pierre dachte darüber nach. Wahrscheinlich hatte Antonio recht. Er war ein bluttrinkender Dämon, der über Menschen herfiel.
Am nächsten Morgen erkundete Pierre ein wenig das Haus. Doch sogar in den Kellergewölben konnte er den Vampir nicht finden. Sicherlich schlief er an einem anderen Ort, oder hatte sich in den Waldboden gegraben. Sein Freund hatte sich mit dem Haus, ein gutes Versteck ausgesucht. Hier vermutete niemand irgendwelche Bewohner und es lag tief genug im Wald, dass sich kaum jemand hierher verirren würde.
Bald ging die Sonne unter und Antonio würde wiederkommen. Der Sterbliche döste am Tisch ein. Er hatte den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt und schreckte hoch, als eine kalte Hand seinen Nacken berührte. Pierre wollte sich umdrehen, da flüsterte eine Frauenstimme: „Wir wollen Euch verwöhnen, verehrter Herr." Der Mensch drehte sich zu ihr um und sah, dass zwei wunderschöne Frauen im Zimmer standen. „Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?" Die, die ihn berührt hatte, streichelte über seine Schultern: „Küsst mich!" Dabei näherten sich ihre Lippen und legten sich auf seinen Mund. Ihre Lippen waren zu zart, um widerstehen zu können, aber ihre Haut fühlte sich kalt an. Die andere zog ihm inzwischen das Hemd von den Schultern und strich über sein heißes Fleisch. Diese Damen waren edel, ihre Gesichter hell und glatt.
Pierre lag schließlich in ihren Armen und genoss ihre Liebkosungen. Es war alles, wie in einem Traum. Woher waren diese Frauen gekommen? Warum verspürte er ein Verlangen nach ihnen, wo er doch sonst nichts für das andere Geschlecht empfand? Dann ihre unterkühlten, zarten Küsse und ihre schönen Körper in seinen Armen. Voll von überschwänglichen Gefühlen, lag er willenlos da.
Plötzlich hörte er einen Aufschrei und Fauchen. Als er sich aufrichtete, stand Antonio im Zimmer und die Dame, die er geliebt hatte, lag wimmernd in einer Ecke.
„Verschwindet!", zischte der Vampir. Die andere Frau kramte schnell ihre Kleider zusammen, blickte Antonio gehässig an und verschwand.
„Sucht euch etwas anderes, ihr Miststücke!" Die Frau, die noch in der Ecke kauerte, rappelte sich auf, als der Vampir ihr das Kleid hinwarf. Pierre sah mit Entsetzen, wie ihre Augen kurz aufglommen und ein unterdrücktes Knurren aus ihrem Rachen kam. Nun wurde ihm bewusst, in welcher Gefahr er geschwebt hatte.
Antonio stand plötzlich wieder bei der Frau und sie flog abermals einige Meter durch die Luft. Pierres Augen konnten den Bewegungen kaum folgen. Dann war er wieder mit Antonio allein.
„Du hast mir abermals das Leben gerettet, nicht wahr?!"
„Kann schon sein", erwiderte Antonio. Dann ging er hinaus zur Kutsche: „Komm, Pierre! Zieh dich an. Wir müssen endlich los." Der Sterbliche gehorchte.
Der Vampir setzte ihn schließlich am Hafen ab, wünschte ihm viel Glück und eine gute Reise.
„Werden wir uns irgendwann wieder sehen?" Antonio strich über seine Wange: „Vielleicht. Ich werde dich finden, falls es nötig ist."
Einige Monate vor Pierres natürlichem Tod, hatte ihn der Unsterbliche noch einmal besucht. Der Mensch hatte ein beschauliches Leben in einem kleinen Dorf geführt und das Wiedersehen mit Antonio ließ ihn ein wenig bereuen, dass er ihm damals nicht in die dunkle Welt gefolgt war. Nun fühlte er sich zu alt dafür. Er wollte die Ewigkeit nicht als Greis verbringen. Antonio hätte ihn gern, als Gefährten gehabt.
Der alte Vampir hatte seine Schmerzen bei den Gedanken an die Vergangenheit fast vergessen. Langsam kam die Schwere des Schlafes und bald war Antonio eingeschlafen. Dabei war er für eine Weile von seinen Qualen erlöst.
Ende