Winter's Violin
Kapitel 1 - Ein Neuanfang
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An einem eiskalten Mittwinterabend stiegen Michael und seine langjährige Freundin Victoria die Treppen zur alten Unterführung auf dem Weg zum Bahnhof hinab. Bereits seit sie Michaels Wohnung verlassen hatten umgab ein schicksalhafter Schleier ihren Aufbruch, und Michael lag ein gefühltes Kilo Steine im Magen. Das triste Grau des Himmels wich nach und nach einer noch viel tristeren Dunkelheit und die extreme Winterkälte brachte die Luft beim Ausatmen zum knistern.
»War es ein schönes Wochenende für dich?«, fragte Michael, als sie in die komplett mit Graffiti ausstaffierten Tunnel unter der Hauptstraße eintauchten. Victoria drehte die Augen zur Seite. »Es war in Ordnung«
»Ja« Michael vergrub die Hände tiefer in seinen Jackentaschen. Schon lange hatte es keinen so kalten Winter mehr gegeben. »Ich schätze mal das war es«
»Du musst mich nicht jedes Wochenende zum Bahnhof bringen. Wir machen das immerhin schon seit fünf Jahren. Denkst du nicht, dass ich den Weg mittlerweile kenne?«
Michael wandte wehmütig den Blick von den goldblonden Haarsträhnen, die sich unter Victorias Mütze und dem eng geschlungenen Schal hervorgekämpft hatten und nun verspielt im frostigen Wind tänzelten. »Ich mache das nicht weil ich denke, dass ich es muss...«
»Andererseits«, murmelte er in seinen Schal »heute ist es wohl wirklich besser, wenn ich dich begleite«
»Was immer das nun wieder heißen soll«, antwortete Victoria und schritt schneller voran. »Beeil dich wenigstens, ich hab keine Lust nur wegen dir zu spät zu kommen«
Als sie um die Ecke bogen mischte sich der verspielte Klang einer Geige unter das stete Pfeifen des Windes. »Hey, hörst du das?«, fragte Michael.
»Was denn hören? Etwa die jämmerliche Straßenmusik?«
»Das ist ganz und gar nicht jämmerlich, sondern der Winter aus Vivaldis "Vier Jahreszeiten"«
»Und weiter?«
»Und es ist wirklich gut ge...« Victoria verdrehte schon die Augen und Michael seufzte. Ein weiteres Ziegelsteinchen welches seinen Entschluss nur weiter untermauerte. »Schon gut. Gehen wir einfach«
Mit jeder Abzweigung die sie nahmen kamen sie den Klängen der so kunstfertig geführten Geige näher. Als sie schließlich fast am Ende der Unterführung angelangt waren, musste Michael unwillkürlich innehalten. Auf einer verschmutzten Decke saß eine junge Frau, etwa in seinem und Victorias Alter. Sie trug einen zerlumpten alten Mantel, dessen Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hatte und trotz ihrer fingerlosen Handschuhe und bestimmt schon halb erfrorenen Händen spielte sie so anmutig und meisterhaft auf der alten hölzernen Violine, dass Michael wie gelähmt stehen blieb und sie staunte.
Abgesehen von den glänzenden Augen eines kleinen Kindes, das jedoch rasch von seiner Mutter an der Hand gepackt und zum Weitergehen angetrieben wurde, schritt ein jeder nur an der talentierten Violinistin vorbei ohne sie eines zweiten Blickes zu würdigen. Ihr Anblick, so anmutig sie auch spielte, hatte etwas sehr trauriges an sich. Unter ihrem Mantel, dessen Reißverschluss nach unten hin wohl nicht mehr richtig zuging, kuschelte sich ein kleiner Hund an sie. In der Geigentasche, die sie offen vor sich hin gelegt hatte, lagen ein paar Cent-Münzen - kaum genug für eine Tasse Kaffee.
»Bleibst du jetzt hier oder was?«, rief Victoria, die einige Meter weiter entnervt stehengeblieben war. »Sekunde noch« Michael kramte in seiner Geldbörse herum und stellte schweren Herzens fest, dass er gar kein Kleingeld mehr bei sich trug. Ein bisschen schwermütig trennte er sich schließlich von einem 5 Euro Schein und ließ ihn voll Anerkennung zu den wenigen Münzen hinabsinken.
»Vielen Dank«, sagte die Violinistin und sah ohne ihr Spiel zu Unterbrechen zu ihm hoch. Ihre Augen konnte Michael unter der tief eingezogenen Kapuze zwar nicht erkennen, dafür aber ein sehr aufrichtig scheinendes Lächeln, das über ihre Mundwinkel wanderte.
»Spinnst du jetzt vollkommen?«, fuhr Victoria ihn an. Sie eilte herbei und nahm den Schein wieder aus der Instrumententasche heraus. Zum Ausgleich warf sie aus ihrem eigenen Beutel ein paar kleinere Münzen hinein. »Nichts für ungut, aber das muss reichen«, meinte sie schroff zu der jungen Musikerin und rempelte Michael an um ihn zum Weitergehen zu bewegen.
»Trotzdem vielen Dank!«, rief die unbekannte Künstlerin den beiden noch nach. Wenngleich sie doch etwas enttäuscht zu sein schien, haftete ihrer Stimme nach wie vor der Klang ehrlicher Dankbarkeit an, ohne einen Hauch von Sarkasmus.
Kaum waren sie außer Hörweite, steckte Victoria ihm den Geldschein in seine Jackentasche und begann erbost zu flüstern: »Da hast du grade deinen Job verloren und wirfst nun irgendwelchen Straßenpennern dein letztes Geld hin?«
»Erstens habe ich meine Arbeit nicht verloren, sondern die Stelle gekündigt, und zweitens habe ich sehr wohl noch Ersparnisse...«
»Ich habe dir diese Stelle verschafft!«, unterbrach sie ihn. »Du hattest dort echte Aufstiegsmöglichkeiten!«
Michael schloss die Augen und atmete tief durch. Zum Glück war es nicht mehr allzu weit bis zum Bahnsteig.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du die Stelle einfach so hingeschmissen hast«, setzte Victoria noch nach, als die beiden bereits am Bahnsteig standen. Auf der Anzeigetafel verblieben noch wenige Minuten. Michael schwieg und betrachtete noch einmal die Frau, in die er sich vor fünf Jahren in jener langweiligen Vorlesung an der Uni verliebt hatte. Sie war wunderschön, wie ein Topmodel - das war sie noch immer. Michael wusste schon damals dass sie eigentlich weit über seiner Liga spielte. Mit viel Charme, etwas Glück und seinem angeborenen Ehrgeiz schaffte er es damals letztendlich dennoch, das Herz der schönen Victoria zu erobern. Gott, scheint das alles schon lange her zu sein... Schweren Herzens holte er tief Luft während er ihr dabei zusah wie sie eine Zigarette aus der Packung nahm und sie zwischen ihre perfekten Lippen legte.
»Ich konnte die Stelle nicht ausstehen, Victoria. Das konnte ich noch nie. Und es fühlt sich gut an sie endlich los zu sein. Manchmal ist es eben an der Zeit für eine Veränderung.«
»Toll«, meinte sie nur und zog an ihrer Zigarette. »Das nenne ich mal erwachsen«
»Und da ist noch was, was ich dir schon sehr lange hätte sagen sollen...« Michael machte eine bedeutsame Pause und schaute ein letztes Mal tief und voller Sehnsucht in diese kristallblauen Augen. »Ich ertrage dich auch nicht mehr«
Victorias makellose Lippen sprangen mit einem Mal auf, so dass ihre Zigarette vor Schreck und Erstaunen zu Boden fiel. »Was?!«
»Ich fürchte mit uns beiden ist es vorbei«, sagte Michael mit aufrichtigem Bedauern, jedoch mit unverkennbarem Ernst in der Stimme. »Du bist ein schrecklicher Mensch geworden. Ich wünschte ich könnte behaupten es läge nicht an dir, aber... Naja. Es liegt ganz einfach an dir«
Victoria antwortete nicht. Sie stand nur da, zündete sich eine neue Kippe an und die beiden standen sich schweigend gegenüber bis endlich der Zug einfuhr. Wie hätte sie auch reagieren sollen? Frauen wie sie werden für gewöhnlich nicht abserviert.
»Dir ist klar, dass du so eine wie mich nie wieder kriegst?«, sagte sie noch zum Abschied, nachdem sie bereits eingestiegen war.
»Das weiß ich«, flüsterte Michael. Mit diesen Worten schlossen sich die Wagontüren, die Räder quietschten auf den Schienen und der Zug setzte sich langsam ihn Bewegung. »Und das hoffe ich...«
Der Zug verließ die Station und noch einmal spürte er ihre vor kaltem Zorn funkelnden Augen auf seiner Haut. Dann war sie weg. Der Wind säuselte sein trauriges Lied zur untergehenden Abendsonne und irgendwo in der Ferne flog krächzend ein Schwarm Krähen vorbei. Endlich hatte er es getan. Michael war gleichermaßen nach Feiern zumute, und nach heulen.