Am nächsten Morgen läutete es schon zu früher Zeit an der Tür. Schlaftrunken erhob er sich aus dem Bett, in welchem er geschlafen hatte, und überlegte kurz, ob er den Ort, an dem er gerade war, überhaupt schon einmal gesehen hatte. Sein Kopf schmerzte und er spürte wie sein Herz angestrengt hämmerte, um das dicke Blut in seinen Adern weiterzubefördern. Er öffnete die Klappe des Spions und versuchte zu erkennen, wer sich auf der anderen Seite der Tür befand. Doch da stand eine ihm völlig unbekannte junge Dame mit langem dunklen Haar, die mit beiden Händen eine sichtlich schwere Einkaufstüte hielt, aus dem die verschiedensten Lebensmittel herausschauten. Erst jetzt merkte er, wie sehr sein Magen nach Essen verlangte und er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal gegessen hatte. Die Frau vor der Tür wurde ungeduldig, stellte die Tüte auf den Boden und fing an verärgert in ihrer Tasche zu wühlen. Er nutzte die Situation um sie näher zu betrachten. Und obwohl sie nicht ganz sein Typ war, fand er sie doch ziemlich attraktiv.
Doch dann der Schreck, als sich plötzlich das Türschloss zu drehen begann. Er hat doch nicht…hatte er wirklich? Aber da schwang schon die Tür auf und ihm fehlte jegliche Zeit zu handeln: „Ich….ich kann mir das selber nicht erklären, ich schwöre ich bin nicht… ich würde niemals…!“ stotternd versuchte er seine Gedanken in Worte zu fassen und seine Hände verrichteten Gesten, die seine Unwissenheit und Unschuld demonstrieren sollten, um einen lauten Aufschrei oder gar einen Anruf bei der Polizei zu verhindern. Währenddessen schloss die gutaussehende Dame hinter sich sichtlich unbeeindruckt die Tür. Sie musterte ihn kurz und schüttelte schließlich resignierend ihren Kopf, während sie sich mit der vollen Tüte an ihm vorbei zwang. „Warte, lass mich dir wenigstens helfen!“ rief er fast peinlich laut durchs Vorzimmer, blieb aber wie betäubt stehen um ihren Duft möglichst genau wahrzunehmen. „Weißt du…“ vernahm er aus der Küche, „…es ist doch jedesmal dasselbe mit euch Männern, am Abend präsentiert ihr euch wie Pfauen. In euren Augen lodern Flammen. Eure Bewegungen, elegant und viril. Und wie präzise ihr es vermögt mit euren Testosteron-gesteuerten Sinnen die Aufmerksamkeit einer unbegleiteten Frau an euch zu reißen. Und das alles nur um am nächsten Morgen gebrochen, wie schüchterne post-pubertierende Würstchen, dazustehen und irgendwelche Ausreden zu erfinden. Entweder du stehst jetzt deinen Mann und kommst frühstücken, oder… zur Tür hast du immerhin nicht weit.“ Das dumpfe Geräusch, als sie die Einkaufstüte auf die Arbeitsfläche ihrer Küche fallen ließ, ließ verraten, dass das Frühstück sehr üppig ausfallen würde, was ihm seine Entscheidung schlussendlich erheblich erleichterte.
„Es…also…ich…haben wir…? Du weißt schon… “, fragte er, sichtlich bemüht sich Gewissheit zu verschaffen, um auf die folgenden Ereignisse in den nächsten Minuten entsprechend reagieren zu können. Darauf nahm sie tief Luft und entgegnete seufzend: „Nein haben wir nicht und frag schon gar nicht wieso. Ich nehme mal an du kannst dich nichtmal an meinen Namen erinnern? Ich heiße Nelle. Weitere Details erspar ich dir, ich weiß ja, dass dich der Hunger und nicht meine Wenigkeit hier hält, darum mach ich uns jetzt mal was Ordentliches zu Essen…na komm, das wird ein Frühstück und keine verdammte Hochzeit!“ und als er damit fertig war sie zu mustern, wusste er nicht genau, ob es Enttäuschung oder Erleichterung war, was über den Ausgang dieser Nacht dominierte.
Eine Weile saßen sie still schweigend an ihrem Tisch. Er studierte die feine Maserung des massiven Eichentisches und ihm fiel ein, wie besessen sein Werk-Lehrer damals von Eichenholz war. „Wisst ihr aus welchem Holz diese Werktische sind?“, fragte er immer, „Eiche.“ erwiderte die Klasse meist mit gelangweilten Unterton. Der Lehrer wurde dann immer nachdenklich und sagte nach einer kurzen Ruhepause, die er dazu nutzte sich mit verschiedenen Werken der Schüler auseinanderzusetzen und sie nach ihrer Funktionalität und Robustheit zu prüfen: „Nein…das ist Eiche!“ darauf folgte ein herzhaftes Lachen, welches eher einem Glucksen ähnelte und schlußendlich babbelte er irgendwas von „dafür seid ihr zu jung.“ und „könnt ihr nicht verstehen.“. Die Mädels in der ersten Reihe kicherten dann immer vor sich hin, das taten sie aber sowieso, egal was er sagte oder machte. Aber dann wurde die Miene des Lehrers meist wieder ernst und er unterrichtete die Klasse über die für ihn schier unglaublichen Eigenschaften der Eiche, es wäre das härteste und teuerste heimische Holz und was für eine Freude es nicht sei, dass sie in den Genuss kommen dürften, auf so einem tollen Naturmaterial zu arbeiten.
Er musste schmunzeln und einen Moment lang vergaß er komplett, dass er in einer fremden Wohnung mit einer fremden Frau frühstücken sollte.
„Es tut mir leid, es ist nur so…der Tisch…er ist aus Eiche.“ und gleich nachdem er das ausgesprochen hatte, erkannte er, wie merkwürdig das für sein Gegenüber klingen musste. „Ich weiß.“, bestätigte sie ihn „Mein Vater war Tischler. Er liebte Eichenholz.“
Plötzlich prustete er den Kaffee, von dem er gerade einen Schluck nehmen wollte, inmitten auf den Tisch und erschrak Nelle so, dass sie nun reglos und mit weit aufgerissenen Augen die Sauerei betrachtete, die er sich zu Schulden kommen ließ.
„Bring das bitte in Ordnung. Wenn du mich kurz entschuldigst, ich habe da einen unerklärlichen Kaffeefleck auf meiner Bluse und würde mich gerne umziehen.“
Er konnte es sich nicht ganz erklären, aber Nelle wirkte in seinen Augen für eine Frau ungewöhnlich entspannt. In so einer Situation wären vor einigen Tagen noch die Wogen hochgegangen, aber sie hatte die Bluse schon auf halbem Wege zum Schlafzimmer ausgezogen, warf sie mit eindrucksvoller Eleganz und Leichtigkeit in den Wäschekorb und stand dann eine Zeit lang grübelnd vor ihrem offenem Kleiderschrank. Sie hatte in dieser Nacht nicht mit Besuch gerechnet. Zumindest vermutete er dies anhand des beige-farbenen Büstenhalters, den er sonst nur aus der Kindheit von seiner Mutter kannte. Aber es machte dennoch Eindruck, wie sie so dastand und sich nicht entscheiden konnte, welches Outfit zu einem Frühstück mit einem Mann passen könnte, der sie nach nur einem Rausch schon wieder vergessen hatte.
Als Nelle schließlich wieder die Küche betrat, sie hatte sich noch im Bad ein wenig frisch gemacht, standen bereits belegte Brötchen und ein Salat am Tisch. „Der Mann hat zwar ein übles Gedächtnis, aber dafür durchaus charmante Manieren.“, sie setzte sich wieder zu ihm und wenn man genau hinsah, erkennte man ein feines, aber sinnliches Lächeln, das über ihre Lippen flog. Sie aßen lange, musterten sich gegenseitig und sprachen dazwischen kein einziges Wort.
Er mochte sie irgendwie.