Ich betrete einen Raum. Er wirkt einladend heimelig und eiskalt zugleich. Es riecht nach gekochtem Essen, Zigarettenrauch, alten Möbeln und Essig. Außer Bücherregal, Esstisch und Stühlen befindet sich auf der rechten Seite nur noch eine Balkontür. Das einzige Licht, was den Raum erhellt, kommt von der linken Seite, wo eine Couch gemütlich einladend zum Fernsehabend ruft.
Eine Frau läuft von der Tür, durch die ich gerade hereingekommen bin, zum Esstisch, setzt sich auf einen Stuhl, steht auf, läuft zum Regal und nimmt sich ein in Folie eingepacktes Buch. Sie streichelt ganz liebevoll lächelnd über den Buchrücken und stellt es dann behutsam wieder zurück in das Regal. Sie geht zum Tisch und setzt sich auf einen Stuhl, steht auf, läuft einmal um den Tisch, geht zur Balkontür, öffnet sie und bleibt hinausblickend stehen.
Es riecht nach Regen. Draußen schüttet es wie aus Eimern, so stark, dass das Prasseln der Regentropfen die Motoren der Autos übertönt. So als ob die Natur lauthals gegen ihre rebellierenden Kinder zu schreien versucht.
Mein Blick fällt auf die Couch und die darauf vor sich hinvegetierende Kreatur. Einen kurzen Augenblick lang denke ich, es handele sich um einen alten Mann, aber dann erkenne ich den vom Zigarettenrauch vergilbten Knochen, der unter dem alten T-Shirt emporragt. Der Knochen hält am Ende ein mit Bier gefülltes Glas. Das Skelett sitzt breitbeinig, leicht nach vorne gebeugt und hält seinen Blick starr auf den Fernseher gerichtet. In der anderen knöcherigen Hand hält es eine Zigarette, die langsam abbrennt.
Ich trete näher an die Couch und nehme ein leises Geräusch wahr. Es ist das Lachen zweier Kinder. Das Lachen kommt mir unglaublich bekannt vor. Ich trete noch näher an die Couch. Als ich direkt vor dem Skelett stehe, erkenne ich eine der Kinderstimmen. Ich erschrecke als meine Schwester meinen Namen lacht. Instinktiv lege ich meine Hand auf das Bierglas und die Stimmen verstummen. Das Bier ist rot und dickflüssig geworden. Ich schaue zu dem Skelett, das mich furchtbar wütend anstarrt. Ich sinke unglaublich erschöpft auf die Couch. Sie ist nass und riecht nach Essig.
Ich beobachte meinen Vater, wie er weiter auf den Fernseher starrt und unsere Kinderstimmen trinkt. Vielleicht sind es nur ein paar Minuten, vielleicht ein paar Tage oder meine ganze Kindheit lang. Bis das Bier leer ist.
Mit einem Ruck werde ich nach hinten gerissen und ich schrecke hoch. Die Frau, die meine Mutter ist, steht komplett durchnässt vor mir und schaut mich mit von Tränen geröteten Augen an. Ihr Gesicht ist schwarz von verlaufenem Make-up. Zitternd sagt sie:
„Ich werde springen. Aber nur, wenn du mitkommst.“