Riley sah dem Auto hinterher, als es den Hof verließ. Dann drehte er sich um und machte sich auf den Weg zum Stall. Es war Zeit, die Pferde von den Ausläufen zu holen und da das ja keine anstrengende Arbeit war, wollte er das übernehmen. Er war es so satt, nichts tun zu dürfen. Auch wenn Lysander ihm die Zeit versüßt hatte, jetzt war er alleine und musste sich irgendwie beschäftigen. Er holte zwei Führstricke aus dem Gebäude und machte sich auf den Weg hinunter zu den Paddocks.
Eine Stunde später waren die Pferde in ihren Boxen und die Stallgasse war erfüllt von zufriedenem Kauen und Schnauben. Riley ging zu seinem Wallach und lehnte sich auf die halbhohe Tür. Der Nordschwede hob den schweren Kopf und stupste seinen Besitzer an.
»Ich weiß, du bist ein wenig zu kurz gekommen, Dicker.« Der junge Mann kraulte Bravehearts langen, hellen Schopf, bevor dieser die Nase wieder im Heu versenkte. »Morgen machen wir einen Ausritt, das versprech ich dir. Aber jetzt werd ich mich hinlegen. Ich bin doch ziemlich kaputt.«
»Ah, du hast die Pferde schon reingeholt. Das ist gut.«
Riley drehte sich um und sah in die braunen Augen seiner Chefin. »Ja, ich dachte, ich mach mich auch mal wieder nützlich. Und das hab ich gerade so geschafft.«
Johanna lachte leise. »Prima, dann brauch ich mich darum nicht zu kümmern. Zumal Sarah im Moment fast gar keine Zeit hat. Ihre Mutter ist krank und somit bleibt zu Hause alles an ihr hängen. Wie geht es dir?«
»Wir werden das schon hinbekommen. Mir geht es schon etwas besser, danke.«
»Morgen ist ja euer Umzug ... Kann ich irgendwie helfen?«
Rye schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, das wird so gehen. Wir haben ja nicht viel Zeug. Das haben wir auf den Pferden hergebracht und bringen es wohl auch auf diesem Weg zum Haus. Das sollte funktionieren.«
»Gut, aber falls ihr doch Unterstützung braucht, dann sagt bitte Bescheid«, erwiderte Johanna, drehte sich um und ging langsam Richtung Ausgang, »ich bin dann wieder weg. Ich wünsch’ dir noch nen schönen Abend. Und ruh’ dich aus.«
»Danke, den wünsche ich dir auch.« Riley sah ihr einen Moment hinterher und ging dann noch einmal die einzelnen Boxen ab, um einen letzten, prüfenden Blick auf die Pferde zu werfen, bevor auch er den Stall verließ.
Nachdem Eric am nächsten Morgen die Pferde gefüttert hatte, warf er Riley aus dem Bett. Dieser verschwand erst einmal im Bad und setzte sich anschließend zu seinem Kollegen an den Frühstückstisch.
»Und ... geht’s dir besser?«
Einen Schluck Kaffee trinkend, nickte Rye. »Ja, ich fühl mich heute schon viel fitter.«
Er war selbst erstaunt, wie wenig Schmerzen er hatte. Aber das lag wahrscheinlich an der geheimnisvollen Medizin. Lysander hatte ihm einen Saft gegeben, der dunkelrot und dickflüssig gewesen war, sodass Rye im Scherz gefragt hatte, ob es Blut sei, woraufhin Lys ihn ausgelacht hatte. Es sei einfach nur eine selbstgebraute Medizin von Louis, der sich recht gut mit solchen Dingen auskannte. Riley hatte das so hingenommen, zumal es auch nach irgendwelchen Kräutern gerochen und geschmeckt hatte ... Blut hätte er wohl erkannt.
Was es auch gewesen war, es hatte seine Wirkung nicht verfehlt.
»Na, das ist doch prima. Dann bist du ja bald wieder voll einsatzbereit.«
»Yep, ab Montag sollte wieder alles normal laufen. Dann bist du wieder entlastet«, gab Rye mit einem Lächeln zurück.
»Sehr gut. Und wie soll es heute ablaufen?«, fragte Eric und kaute auf einem Stück Rührei herum.
»Nun, wir machen hier alles fertig, also packen alles so weit zusammen, dann misten wir den Stall, bringen die Pferde raus und machen uns dann mit unseren beiden und unseren drei Habseligkeiten auf den Weg zum Haus. Lily wollte mit ihrem Freund noch eine Waschmaschine anschließen und sie haben wohl auch noch ein Sofa organisiert sowie die Sachen zurückgebracht, die noch ins Haus gehören, wie Gardinen, die Matratzen und anderen Kram. Bis wir da ankommen, haben die alles erledigt, dann können wir uns einrichten.«
Eric nickte. »Ich find es schon toll, was deine Schwester so alles für uns tut. Ich meine, klar, du bist ihr kleiner Bruder, aber selbstverständlich ist es trotzdem nicht.«
Rye schaute ihn nachdenklich an. »Ja, sie war schon immer sehr fürsorglich.«
Sie frühstückten zu Ende und räumten gerade den Tisch ab, als es an der Tür der Unterkunft klopfte. Eric ging hinüber und öffnete.
»Guten Morgen, ihr zwei Hübschen. Ich dachte, ich könnte ein paar eurer Sachen mit hoch zum Haus nehmen.« Lily stand vor ihm und hielt ihm strahlend zwei Kartons unter die Nase.
»Dir ebenfalls einen guten Morgen. Komm rein«, erwiderte Eric.
»Ich sag doch: Fürsorglich«, lachte Rye, kam aus der Küche herüber und begrüßte seine Schwester mit einer Umarmung.
Nachdem Lily in Ruhe einen Kaffee getrunken hatte, nahm sie die Sachen in Empfang, die die Jungs währenddessen zusammengepackt hatten.
»Gut, dann mach ich mich mal auf den Weg und wir treffen uns dann am Nachmittag am Haus?!«
Riley nickte. »Ja, so machen wir das. Ich bring dich noch zu deinem Auto.« Damit nahm er seiner Schwester einen Karton mit Klamotten ab. »Dann brauchst du nicht zweimal zu laufen.«
Nebeneinander gingen sie über den Hof und packten, an Lilys Wagen angekommen, die Sachen in den Kofferraum.
»Gut, dann bis später.«
Die junge Frau setzte sich hinters Lenkrad und startete den Motor. »Bis nachher.«
Sie lenkte ihr Auto vom Hof und warf dabei im Rückspiegel noch einen letzten Blick auf ihren Bruder, der ihr hinterher sah. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Die beiden Jungs würden sich wundern, denn Lilys Freund Chris hatte mit ein paar Kumpels den Offenstall für die Pferde wieder komplett auf Vordermann gebracht. Das war richtig viel Arbeit gewesen und keiner hatte wirklich daran geglaubt, dass es in der kurzen Zeit klappen würde, alles wieder hundertprozentig in Schuss zu bekommen, aber es hatte funktioniert - trotz der teilweise katastrophalen Wetterverhältnisse.
Auch alles andere hatte erstaunlich gut geklappt. Und selbst das neue Sofa und die Waschmaschine waren pünktlich angekommen. Lily war zufrieden. Das Haus war für den Einzug bereit.
Während seine Schwester ihr Auto vom Stallgelände lenkte, machte Riley sich auf den Weg zurück zur Unterkunft, aber auf halbem Weg kam Eric ihm entgegen.
»Wo willst du hin? Kehrt Marsch, die Arbeit wartet. Schubkarren auf den Mist fahren wirst du wohl können. Den Rest mach ich schon.«
»Sicher, das sollte auf jeden Fall gehen«, erwiderte Rye und gemeinsam verschwanden sie Richtung Stall.
Drei Stunden später war die Arbeit erledigt.
»Na, hat doch alles ganz gut funktioniert. Hätte nicht gedacht, dass du so lange durchhältst.« Eric lehnte sich grinsend neben seinen Kollegen an die Wand und musterte ihn.
»Ich auch nicht. Lysanders Medizin hat echt was bewirkt und dafür bin ich sehr dankbar. Aber wir sollten uns umziehen und dann langsam auf den Weg machen. Ich möchte nicht erst im Dunkeln rüberreiten.«
»Na, bis es dunkel wird, ist es noch ne Weile hin, aber ja, wir sollten uns und unsere Pferde fertig machen, damit wir in die Gänge kommen. Dann kann ich deine Schwester nachher fragen, ob ich einen Teil meiner Sachen aus der Werkstatt mit ihrem Auto rüberbringen kann. Daran hab ich vorhin gar nicht gedacht«, erwiderte der Blonde. Riley nickte und gemeinsam verließen sie das Gebäude. Sie liefen hinüber zur Unterkunft, wo sie sich umzogen und dann mit den letzten persönlichen Sachen, die in ihre Satteltaschen und Rucksäcke passten, auf den Weg zurück zum Stall machten. Sie legten ihren Kram in die Sattelkammer und holten ihre Pferde von den Paddocks, wobei Eric leichte Probleme hatte, weil sein Wallach sich partout nicht einfangen lassen wollte. Nach einer geschlagenen halben Stunde hatte er es schließlich endlich geschafft und stapfte ziemlich sauer hinter Riley und Braveheart her.
Nachdem sie die beiden Tiere kurz gestriegelt und dann gesattelt hatten, machten sie sich auf den Weg in Richtung ihres neuen Zuhauses. Bevor sie allerdings den Hof verließen, schauten sie noch bei Johanna vorbei, um sie zu einem kleinen Umtrunk am Abend einzuladen.
»Schade, dass Hermann gerade an diesem Wochenende nicht da ist. Er hätte sich bestimmt gefreut, mitzukommen«, merkte ihre Chefin an, nachdem die Jungs ihr Anliegen vorgetragen hatten.
»Na ja, er kann ja auch noch an einem anderen Tag vorbeikommen, wenn er sich das Ganze mal ansehen will«, erwiderte Rye schulterzuckend.
»Das stimmt natürlich«, antwortete Johanna, »und ich könnte Sarah fragen, ob sie Zeit und Lust hat, mitzukommen. Quasi als Ersatz. Ihre Mutter wird bestimmt ein paar Stunden alleine bleiben können.«
»Klar, frag sie«, sagte Eric grinsend und beobachtete Riley, der sein Gesicht leicht verzog. Der Blonde wusste, dass sein Kollege die etwas nervige Sarah lieber auf Entfernung sah, seit sie anfänglich versucht hatte, ihn anzugraben. Und auch wenn sie sich jetzt von ihm fernhielt, ihre Gefühle für Rye waren immer noch vorhanden.
»Riley?«
Der Angesprochene hob den Blick, schaute seine Chefin an und seufzte. »Na ja … Ja, bring sie halt mit, wenn sie will. Mir soll‘s recht sein.«
»Gut, wann soll das Ganze starten?«
»Wenn ihr gegen 19:30 Uhr da seid, ist das prima. Bissl später ist aber auch nicht schlimm«, gab Eric zurück, »aber wir sollten uns lieber auf den Weg machen. Bis nachher.«
Johanna nickte, hob die Hand zum Abschied und sah den beiden nach, als sie den Hof verließen. Dann drehte sie sich um und ging zurück ins Haus, um Sarah anzurufen.
~
Es war schon früher Nachmittag, als Lysander sich aus seinem Bett quälte. Nach einer kalten Dusche ging er hinunter in die Küche, wo Louis damit beschäftigt war, das verspätete Mittagessen zu kochen.
Als der Unsterbliche den Raum betrat, drehte der Stallmeister sich um und grinste seinen Boss an.
»Sind wir auch schon wach? Hat der Hunger dich aus dem Bett getrieben? Essen ist gleich fertig. Was liegt denn heute noch an? Kommt dein Schatzi wieder vorbei?«
Der Vampir verdrehte genervt die Augen. »Hast du nicht noch ein paar mehr Fragen? Was hat es dich eigentlich zu interessieren, ob Rye herkommt? Und nein, tut er nicht, denn wir sind heute Abend auf einen kleinen Umtrunk eingeladen, du und ich. Riley hat mir vorhin geschrieben, ob wir vorbeikommen und ich habe zugesagt.«
»Natürlich hast du das und dabei ganz vergessen, mich zu fragen, ob ich Zeit und Lust habe, mitzukommen«, Louis zog einen Schmollmund und versuchte, ernst zu bleiben, was ihm nicht leicht fiel. Entgeistert sah Lysander ihn an und schnaubte gereizt. »Natürlich gehst du mit und natürlich frage ich dich nicht vorher. Als ob du was Wichtigeres zu tun hättest.«
»Du bist ganz schön anmaßend, mein Lieber. Aber ja, ich tu dir den Gefallen und komme mit.«
»Schön! Wir fahren gegen 19:00 Uhr, also sieh zu, dass du dann mit allem fertig bist.«
»Jawoll, Chef. Ganz wie Ihr wünscht.« Louis verbeugte sich lachend, verließ den Raum und schließlich das Haus. Der Stallmeister ging hinüber zu der kleinen Winterkoppel, wo die beiden Pferde in der Sonne dösten, lehnte sich auf den Zaun und beobachtete die Tiere. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er über Lysander und Riley nachdachte. Der hatte den Vampir nach den paar Tagen schon gut im Griff - Rye pfiff und Lysander sprang. Das hatte bisher noch keiner fertiggebracht. Zumindest nicht seit Louis seinen Boss kannte und das war schon eine ganze Weile. Aber Riley tat Lys gut, so viel war klar, und der Stallmeister wünschte sich, dass das so bleiben möge. Er löste sich von der kleinen Idylle vor seiner Nase und machte sich auf den Weg zum Stall, um dort alles so weit vorzubereiten, damit er die Pferde später nur noch hinüberbringen musste.
Als er alles erledigt hatte, ging Louis wieder zurück ins Haus, um sich zu duschen und umzuziehen.
Lysander hatte sich, nachdem er etwas gegessen hatte, im Wohnzimmer in den dunklen Ledersessel am Kamin gesetzt und starrte in die Flammen. Ein seltsames Gefühl rumorte in seinen Eingeweiden. Als ob noch irgendetwas Unangenehmes passieren würde. Schon in der Nacht war er mehrfach wach geworden, weil wirre Träume ihn gequält hatten. Der letzte war besonders unangenehm gewesen und hatte den Vampir in Schweiß gebadet hochschrecken lassen. Zwar konnte er nicht mehr sagen, was es genau gewesen war, aber es hatte etwas mit Riley zu tun gehabt. Lysander rieb sich über die Augen und zuckte heftig zusammen, als Louis ihn ansprach.
»Sag mal, was ist eigentlich mit dir los? Du bist gereizt wie schon lange nicht mehr und jetzt sitzt du hier und grübelst. Solltest du nicht vor Glück tanzen?«
»Wenn ich das wüsste. Eigentlich scheint endlich mal wieder alles in den richtigen Bahnen zu laufen, aber etwas stört meinen inneren Frieden und ich habe keine Ahnung was. Es ist so eine ... Unruhe ...«, der Vampir seufzte, »ach, ich weiß es nicht. Ich will auch jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Wie spät ist es?«
»Fast vier. Wir haben also noch etwas Zeit. Soll ich uns einen Kaffee machen? Oder lieber Tee?«
Lysander quälte sich aus dem Sessel hoch. »Mach uns einen Kaffee, davon werde ich vielleicht halbwegs wach. Nicht, dass ich nachher auf Rileys kleiner Feier auf dem Sofa einschlafe.«
Der Stallmeister nickte und grinste. »Ja, das wäre natürlich fatal. Nicht auszudenken, wenn du bei deinem Schatz vielleicht noch übernachten müsstest.«
»Du bist ein Idiot, Louis. Verschwinde in die Küche und lass mich noch einen Moment alleine«, erwiderte der Vampir, konnte sich aber ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen, weil du schlecht geträumt hast. Das heißt nicht, dass wirklich etwas passieren muss«, sagte der Stallmeister und ging langsam Richtung Wohnzimmertür.
Lysander, der im Begriff gewesen war, zum Fenster hinüberzugehen, hielt in der Bewegung inne. »Woher weißt du, dass ich schlecht geträumt habe?«
Louis drehte sich um und sah in die heterochromen Augen seines Freundes. »Weil du im Schlaf geschrien hast und ich davon wach geworden bin.«
Der Vampir hielt den Blickkontakt einen Moment aufrecht, dann wandte er sich wortlos ab, ging zum Fenster und schaute hinaus, während er über Louis’ Aussage nachdachte.
Zweieinhalb Stunden später waren sie auf dem Weg nach Visby. Zum Glück war kein neuer Schnee gefallen, denn der Q5 hatte auch mit den vorhandenen Massen genug zu kämpfen und suchte sich, wie ein kleiner Pflug, seinen Weg. Lysander war froh, als sie auf die Hauptstraße einbogen, die zur Stadt führte. Hier war wenigstens geräumt worden und somit normales Fahren möglich.
Pünktlich um halb acht erreichten Louis und er das neue Zuhause von Riley und Eric, auf einer kleinen Anhöhe hinter der Sunfield-Farm. Ein schmaler Weg führte zu dem Gebäude, das auf einem Gelände direkt an der Stadtmauer Visbys errichtet worden war. Lysander parkte sein Auto vor dem Haus und die beiden Männer stiegen aus.
»Nettes Häuschen.« Louis ließ den Blick über das große, graue Backsteinhaus gleiten. »Und vor allem so schön abgelegen.«
Den Kopf schüttelnd erwiderte der Vampir: »Red keinen Müll. Komm jetzt.«
»Oje, ist die Sehnsucht so groß?«, frotzelte der Stallmeister, machte aber dann, dass er wegkam, denn Lysander gab ein ungehaltenes Knurren von sich, was dem anderen signalisierte, dass es jetzt genug war.
Kichernd lief Louis zum hell erleuchteten Eingang des Hauses und betätigte den schweren, bronzenen Türklopfer.