»Ich will dich nicht verlieren, also werde ich dir die Erinnerung an das hier nehmen«, sagte Lysander und ließ Riley keine Chance, etwas zu entgegnen. Mit sanfter Gewalt schob der Vampir den jungen Mann rückwärts in die Suite und zwang ihn, auf dem grauen Sofa Platz zu nehmen. Der Unsterbliche setzte sich neben Riley und atmete tief durch.
Unruhig hin und her wibbelnd versuchte dieser aufzustehen, aber Lysander drückte ihn knurrend wieder auf die Couch.
»Was soll das hier werden? Willst du mich jetzt auch anfallen wie den Kerl im Flur? Den würde ich an deiner Stelle auch nicht da liegen lassen. Wenn das einer mitbekommt ...« Rileys Stimme klang ungewohnt schrill. Er hatte wahrlich Mühe, nicht völlig die Fassung zu verlieren. Was wollte Lysander von ihm? War Riley vorhin noch relativ gelassen gewesen, trotz seiner Unsicherheit, so kroch jetzt langsam die nackte Angst in ihm hoch. Das konnte der Unsterbliche ganz deutlich riechen und spüren. Das Herz des Dunkelhaarigen schlug viel zu schnell und jagte das Blut förmlich durch dessen Körper. Wenn Lysander aber eines nicht wollte, dann dass der Mann, den er liebte, sich vor ihm fürchtete.
»Mon amour, hör mir zu.« Die Stimme des Vampirs war leise und sanft, als er eine Hand an Rileys Wange legte und so seinen Kopf langsam zu sich drehte. Lysander ließ die Finger auch noch dort verweilen, nachdem der junge Mann sich ihm zugewandt hatte und ihn ansah, einfach, um zu vermeiden, dass der Dunkelhaarige sich wieder abwenden würde.
»Ich will, dass du alles vergisst, was du in der letzten Stunde hier gehört und gesehen hast. Du bist aufgewacht, ins Bad gegangen und anschließend hast du dich wieder schlafen gelegt, weil ich noch nicht zurück war. Und jetzt wirst du dich noch einmal hinlegen.«
Riley lauschte dem melodischen Singsang von Lysanders Stimme, während der ihm tief in die Augen schaute. Dem Vampir gefiel das, was er hier tun musste, überhaupt nicht, aber er hatte keine andere Wahl. Er musste Riley vergessen lassen, was der gesehen hatte.
Der Unsterbliche war sich sicher, dass irgendwann eine Zeit kommen würde, um sich dem jungen Schweden zu offenbaren, ihm sein wahres Wesen zu zeigen. Aber dieser Zeitpunkt war nicht jetzt und schon gar nicht sollte es auf solch eine Art und Weise passieren. Und es war nicht nur Riley, der Lysanders Meinung nach noch nicht so weit war, er selbst war es auch nicht.
Als der Unsterbliche schließlich verstummte, lächelte Rye und sagte leise: »Ich werde mich wohl noch ein wenig in die Kissen kuscheln. Weck mich, wenn du das Essen geholt hast.« Damit machte er sich von Lysander los und drückte ihm einen Kuss auf den Mund, bevor er aufstand und hinüber ins Schlafzimmer ging. Dort ließ er sich auf das Bett sinken, streckte sich gähnend und rollte sich schließlich wie ein Baby auf der Matratze zusammen. Der Unsterbliche, der ihm schweigend gefolgt war, zog die Decke über ihn, bevor er noch einen Augenblick auf der Bettkante Platz nahm.
»Es tut mir so wahnsinnig leid, Chéri«, flüsterte er, während er Riley liebevoll über die Wange strich, »aber ich hatte keine Wahl.«
»Was tut dir leid?«, brummte der junge Mann schon im Halbschlaf.
»Nichts, alles gut. Träum was Schönes« Mit diesen Worten erhob Lysander sich wieder von der Matratze und verließ mit einem letzten Blick auf den Schlafenden die Suite.
Zurück vor der Tür sah der Vampir sich erst einmal um und lauschte, aber er konnte keine Menschen in unmittelbarer Nähe wahrnehmen. Erleichtert atmete er durch und kniete sich dann neben den immer noch bewusstlosen Hotelangestellten. Mit ein paar leichten Schlägen auf seine Wangen brachte Lysander den jungen Mann dazu, die Augen aufzuschlagen. Doch bevor der wirklich zu sich kommen und sich besinnen konnte, was geschehen war, nahm der Vampir auch ihm die Erinnerung und gab ihm eine neue.
Als das geschehen war, half Lysander dem Anderen hoch. »Ich werde Sie nach unten bringen, damit man Sie dort verarzten kann. Sie haben eine ziemlich hässliche Platzwunde am Kopf.«
Noch immer etwas benommen und wacklig auf den Beinen lehnte der junge Mann ab. »Nein, bringen Sie mich einfach bis zum Fahrstuhl, Monsieur. Den Rest schaffe ich dann schon. Ihr Essen wird sonst kalt. Den Servierwagen können Sie später einfach wieder auf den Flur stellen. Er wird dann dort abgeholt werden.«
»Sicher, dass Sie das alleine schaffen?« Lysander war ehrlich besorgt. Er selbst hatte sich ziemlich erschrocken, als der Hotelangestellte, nachdem der Vampir sich etwas von dessen Lebenssaft einverleibt hatte, hektisch rückwärts gestolpert und über seine eigenen Füße gefallen war. Bei dem Versuch, sich im Fallen an dem Servierwagen festzuhalten, war dieser weggerollt und der junge Mann war dabei unglücklich auf dessen Kante aufgeschlagen, was die Wunde an seinem Hinterkopf verursacht hatte. Wirklich schlimm war die nicht, eher oberflächlich, aber derartige Verletzungen konnte durchaus heftig bluten.
»J-Ja, ich bin mir absolut sicher, Monsieur. Nur bis zum Aufzug.«
»Nun gut«, seufzend nickte Lysander. »Einen Moment.«
Leise öffnete der Unsterbliche die Türe zur Suite und schob den Wagen mit dem Essen hinein, bevor er sich mit dem Hotelangestellten auf den Weg zum Fahrstuhl machte.
Zum Glück begegnete ihnen niemand, denn an der Uniform des Mannes, die zu einem Großteil in dunklen Farben gehalten war, waren sichtbare Blutspuren zurückgeblieben. Wer also genau hinsah, würde erkennen, dass hier etwas nicht stimmte - vom durchaus desolaten Gesamteindruck, den der Hotelangestellte machte, einmal ganz abgesehen.
Auch der Aufzug war zu Lysanders Erleichterung leer.
»Sind Sie wirklich sicher, dass Sie den Rest alleine schaffen?«, fragte er noch einmal, nachdem der junge Mann den Fahrstuhl betreten hatte.
»Aber ja. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Bevor der Unsterbliche noch etwas erwidern konnte, hatten sich die Türen vor seiner Nase geschlossen.
»Merde!«, fluchte Lysander leise und es war ihm gerade völlig egal, ob das jemand hören konnte oder nicht. In so einer misslichen Lage war er schon ewig nicht mehr gewesen. Er konnte Louis‘ spöttisches Grinsen schon vor seinem inneren Augen sehen, wenn der davon erfahren würde. Vielleicht wäre es besser, das Ganze einfach für sich zu behalten, zumindest erst einmal. Vor sich hin knurrend, eilte Lysander den Gang hinunter, zurück zu seiner Suite. Für den Unsterblichen war jetzt nur eins wichtig, nämlich sich um Riley zu kümmern.
Als Lysander das Schlafzimmer betrat, lag dieser wider Erwarten nicht im Bett, sondern stand am Fenster und beobachtete die feinen Flocken, die seit einer Weile kontinuierlich aus dem Himmel fielen und die Straßen mit einer dünnen, pulvrigen Schicht bedeckten.
»Kannst du nicht mehr schlafen?« Die Stimme des Unsterblichen direkt an seinem Ohr, ließ den jungen Mann erschaudern.
»Nein, ich tu mich da immer etwas schwer in fremder Umgebung. Außerdem, wer lässt sich dieses Schauspiel da draußen entgehen? Du weißt doch, dass ich Schnee liebe und es lenkt mich ab«, antwortete Riley und lehnte sich gegen Lysander.
Dieser schmunzelte, legte die Arme um den jungen Mann und den Kopf auf dessen Schulter.
»Es lenkt dich ab?«, wiederholte er dann leise, »Von was, Chéri?« Der Vampir spürte, wie sein Magen sich zusammenkrampfte, während er diese Frage stellte.
Was, wenn Riley sich doch erinnerte? Was, wenn die Manipulation seiner Gedanken schiefgegangen war? Der junge Mann hatte einen starken Willen und da konnte so etwas auch schon mal scheitern oder einfach nicht so funktionieren, wie es sollte. Aber würde Riley sich dann nicht anders verhalten?
Lysander atmete tief durch und versuchte, sich wieder zu entspannen. »Also, was ist los?«
»Ach, ich hab nur den Anflug einer Migräne. Ich hab gerade schon eine Tablette genommen und wenn wir etwas gegessen haben, dann werden die Schmerzen schon verschwinden. Ansonsten leg ich mich wieder hin - mit dir - und du darfst mir eine Entspannungsmassage verpassen.«
Die Anspannung fiel wie eine zentnerschwere Last von dem Vampir ab. Er zog Riley enger an sich und erwiderte: »Aber ja, das kann ich machen. So oder so. Du bekommst alles, was du willst und brauchst. Übrigens, es gibt hier ganz in der Nähe einen Weihnachtsmarkt. Was hältst du davon, wenn wir morgen, sobald ich von meinem Geschäftstermin zurück bin, dort hingehen?«
»Das ist eine sehr gute Idee. Am besten, wenn es dunkel wird, dann wirken diese Orte so magisch.«
»Da hast du recht. Ich werde wohl auch erst am späten Nachmittag wieder hier sein, dann passt das«, sagte Lysander leise und küsste den Nacken des Dunkelhaarigen, bevor er fortfuhr: »Gut, dann lass uns jetzt essen, duschen und uns wieder ins Bett verkriechen.« Er löste die Umarmung, legte seine Hände auf Ryes Hüften und drehte den jungen Mann zu sich herum.
Dieser schmunzelte, als er Lysanders Gesichtsausdruck sah. »Was ist los mit dir? Du bist irgendwie ... komisch.«
»Nein, es ist alles gut. Ich bin nur ein bisschen nervös wegen dieses Termins morgen.«
Riley hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Na, wird schon nicht so wild werden. Komm, lass uns nach nebenan gehen. Ich hab nen Bärenhunger.«
»Das ist gut«, Lysander zupfte an einer Haarsträhne des jungen Mannes und sah ihm in die bernsteinfarbenen Augen, »hab ich dir eigentlich heute schon gesagt, dass ich dich liebe, Riley Andersson?«
Einen Moment stutze Rye, bevor er zu grinsen begann. »Du bist komisch drauf. Aber was auch immer der Grund dafür ist, wenn ich dadurch solche schönen Sachen gesagt bekomme, soll es mir recht sein. Und ...«, der junge Mann schnurrte regelrecht, als er weitersprach, »... ich liebe dich auch. Aber jetzt komm.«
Mit diesen Worten machte Riley sich von Lysander los und auf den Weg in das angrenzende Wohnzimmer. Der Unsterbliche sah seinem Freund noch einen Moment hinterher, bevor er leise seufzte und ihm folgte. Er kam sich wie ein mieser Verräter vor.
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In Visby hatten Louis und Eric gerade ihr Abendessen beendet und der Franzose streckte die langen Beine unter dem Couchtisch aus. Mittlerweile ging es dem Stallmeister etwas besser, wenn auch der kleine Schluck aus dem Fläschchen nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein gewesen war. Aber da die Pferde gleich noch ihre nächtliche Ration Heu bekommen mussten, würde er sich dort einfach noch ein wenig Lebenssaft abzapfen. Die Tiere waren stark und es machte ihnen nichts aus, wenn Louis sich an ihnen bediente. Außerdem war ihr Blut sehr bekömmlich und Eric dadurch weiterhin sicher vor ihm.
»Was ist so amüsant?« Die Frage des Blonden riss den Stallmeister aus seinen Gedanken.
Er wandte seine Aufmerksamkeit dem jungen Mann zu, der neben ihm saß und an seinem Tee nippte.
»Hmm? Wie meinen?«
Eric fixierte den Älteren einen Moment lang mit seinen grünen Augen, bevor er antwortete. »Du siehst aus, als ob du etwas aushecken würdest. Also, was ist los?«
»Nichts! Es ist alles in bester Ordnung. Ich hatte nur gerade daran gedacht, dass die Pferde noch gefüttert werden müssen und ich das gerne übernehmen möchte. Du kannst natürlich mitkommen.«
»Ach so und deshalb grinst du wie ein Kobold?«, bohrte der Blonde weiter, doch plötzlich weiteten sich seine Augen. »Oh nein, das kannst du vergessen. Geh du mal in den Stall, wenn du das so gerne machen willst. Ich bleibe hier. Das Wetter ist ja zum Abgewöhnen. Und Rummachen können wir auch hier im Warmen, wenn du die Tiere versorgt hast.« Jetzt war es Eric, auf dessen Gesicht sich ein freches Grinsen ausbreitete.
»Was zum ...?« Louis fing an zu lachen. »Du hast vielleicht eine schmutzige Fantasie, Chéri. An so etwas wie eine schnelle Nummer im Stroh hatte ich gar nicht gedacht.«
»Nein, natürlich nicht«, feixte der Blonde, während er seine Tasse auf dem Tisch abstellte, »du bist die Unschuld in Person.«
»Du glaubst mir nicht?« Der Stallmeister tat entrüstet und als Eric den Kopf schüttelte, stürzte Louis sich auf den jungen Mann, drückte ihn auf das Sofa und begann, ihn durchzukitzeln. Der junge Mann quietschte und kicherte und wehrte sich spielerisch, doch schließlich gab er sich geschlagen und blieb völlig außer Atem liegen - Louis über sich. Dessen Gesicht war nur wenige Millimeter von Erics entfernt und einen Moment lang schauten die beiden sich schweigend in die Augen, bevor der Blonde die Hand in Louis‘ Nacken legte. Sanft, aber bestimmend zog er den Stallmeister zu sich herunter und presste seine Lippen fordernd auf dessen Mund.
Für einen kurzen Augenblick ließ Louis sich darauf ein, dann jedoch löste er sich von Eric und stand auf.
»Was ...? Hab ich was falsch gemacht?« Der Blonde klang irritiert und genauso schaute er auch.
Der Franzose vermied dieses Mal den Blickkontakt, schüttelte den Kopf und sagte leise: »Nein, hast du nicht. Aber ich möchte erst noch hinüber zum Stall gehen und dort alles erledigen. Danach können wir gerne weitermachen. Einverstanden?«
Eric brummte unwillig, gab aber nach. »In Ordnung. Dann beeil dich. Ich räume in der Zwischenzeit schon mal den Tisch ab.« Damit stand er auf und als er sich an Louis vorbeischieben wollte, um seinen Worten Taten folgen zu lassen, packte der Stallmeister ihn und zog ihn an sich.
»Du wirst deine Geduld nicht bereuen, Chéri. Ich werde dir die beste Nacht deines Lebens bescheren«, hauchte er dem Blonden ins Ohr und zwickte ihm sanft in den Nacken, bevor er ihn wieder von sich schob, seine Jacke überwarf, um schließlich hinaus in den Sturm zu verschwinden. Eric sah ihm nach und begann grinsend das Geschirr in die Küche zu tragen.
»Die beste Nacht meines Lebens. Na, da bin ich ja mal gespannt, Monsieur Dubois.«
Louis schlug den Kragen seiner Jacke hoch und stapfte über den Hof hinüber zu dem kleinen Offenstall. Mit leisem Schnauben begrüßten ihn die beiden Nordschwedischen Kaltblutpferde, als er die schwere Holztüre hinter sich schloss.
»Gott, was ist das bloß für ein Wetter?«, schnaufte Louis, schlug sich den Schnee von der Sachen und machte sich daran, das Heu aus der Kammer zu holen und in die Box der beiden Tiere zu bringen. Nachdem die zwei zufrieden kauten, schloss der Stallmeister das hintere Tor, das hinaus auf den Auslauf führte. Bei dem Chaos draußen musste das nämlich nicht über Nacht offen stehen, auch wenn die Pferde solche Temperaturen gewöhnt waren. Louis legte den Riegel von innen vor und ging nach einem kurzen Moment des Zögerns hinüber zu Rileys Pferd. Sanft strich er dem Tier über das weiche Fell und beobachtete eine Weile, wie es das Heu aus der Raufe zupfte.
»Du wirst kaum etwas spüren, mein Freund. Ich mache das nicht gerne, aber es muss sein.« Leise redete Louis auf den Wallach ein, als ob er das mächtige Tier beruhigen wollte. Dann ging ein Ruck durch den Körper des Vampirs und er schlug seine Fänge in Bravehearts Hals, der nicht einmal zuckte. Mit jedem Schluck Blut, den Louis sich genehmigte, merkte er, wie seine Anspannung immer weiter nachließ und ein wohliges, warmes Gefühl breitete sich in ihm aus.
Im Haus hatte Eric derweil sämtliches Geschirr ab und in den Spüler geräumt und das Gerät eingeschaltet. Wurst, Käse und Co. wanderten in den Kühlschrank, bevor der Blonde sich daran machte, noch etwas Holz im Kamin nachzulegen. Seufzend stand Eric schließlich aus seiner gehockten Stellung auf und sah auf die Uhr über der Feuerstätte. Was machte Louis so lange im Stall? Füttern, Tränken und vielleicht noch etwas Stroh aufstreuen dauerte nur wenige Minuten.
»Vielleicht sollte ich doch mal nachschauen gehen, ob er Hilfe braucht«, murmelte der junge Mann zu sich selbst, zögerte aber noch einen Augenblick, bevor er seine Jacke und Schuhe anzog und sich auf den Weg zu den Pferden machte.