Sie verließen mit Kragmar an der Spitze den Mantelturm, ohne dass sie jemand aufgehalten hätte. Der neue Kommandant der Orks hatte beim Verlassen des Turmes wüst klingende Worte in seiner Sprache gebrüllt, die die Umstehenden aufgenommen hatten. Nun wurden sie von einem Sprechchor begleitet zur Grenze des Orkgebiets gebracht, wo die Wachen Neverwinters nervös die Waffen bereit hielten.
Alice sprang rasch an die Spitze des Zuges und hielt entwarnend die Hände hoch. „Ruft Hauptmann Jarson, sagt ihm, Kragmar Deepscar, Kommandant des Vielpfeil-Stammes erwartet ihn, um über sein Angebot zu verhandeln.“ Zögernd ließen die Wachen die Waffen sinken und schickten einen Boten zum Hauptmann, der rasch, mit Feldwebel Creed als Anhang, zu ihnen eilte, um sich selbst von der Wahrheit der Nachricht zu überzeugen.
Unschlüssig verharrte er hinter der Reihe seiner Wachen und beäugte die Orkrotte prüfend. Auf einen seiner gemurmelten Befehle hin, zogen sich die Wachen langsam zurück und bildeten eine Gasse, durch die Kragmar in das Lager der Neverwinterarmee eintreten konnte. Seinen eigenen Soldaten wurde der Zugang mit erhobenen Lanzen verwehrt. Der Kommandant hielt seinen Morgenstern griffbereit und in dem anderen Arm hielt er Harbek wie ein Katzenjunge am Kragen. Der Zwerg war noch immer zu schwach zum Laufen, doch wenigstens hatte er die Augen geöffnet und bemühte sich nicht allzu hilflos auszusehen.
Einer der Soldaten nahm ihm Harbek ab und brachte ihn schnell außer Sichtweite. Alice sah dem Mann nach und wollte ihm schon hinterher, doch Keeda griff nach ihrem Arm und zog sie unsanft zurück an ihre Seite. Sie ließ ihren Arm nicht los und zerrte sie hinter Kragmar und Jarson zum Lagerfeuer und dem halbeingestürzten Haus. Jeder Soldat an dem sie vorbei kamen sah den Kommandanten wütend, jedoch auch eingeschüchtert an, doch dieser ignorierte die bohrenden Blicke mit hoch erhobenem Haupt, bis er im Schutz des Hauses aus ihrer Reichweite war.
Jarson hielt bedachten Abstand, baute sich allerdings selbstbewusst und gebieterisch vor dem Orkanführer auf. „Kommandant Kragmar Deepscar, es ist mir eine Ehre und Überraschung euch hier begrüßen zu dürfen, doch sagt mir, was ist mit eurer Vorgängerin geschehen?“ Er warf Alice einen fragenden Blick zu, doch diese schüttelte den Kopf.
Kragmar verzog keine Miene während er antwortete, „Vasil Bloodscar hat ihren Kampf beendet und speist mit unseren Vätern im Jenseits. Eure Boten erreichten mich und auch ich war über euer Angebot überrascht, weiß ich doch, wie ungern euer Volk die Waffen nieder legt, oder sollte ich sagen das Volk der Menschen, Elfenhauptmann?“
Hauptmann Jarson lächelte besonnen und hob warnend die Hand, als Creed zornig nach vorne trat. „Weshalb sollten wir unterscheiden zwischen Elf und Mensch, Zwerg und Ork? Wir alle leben in diesem Land, bedroht durch den Schatten des Todes und sehnen uns nach Frieden. Ich war zunächst ebenfalls skeptisch, ob es überhaupt eine Möglichkeit gäbe, mit eurem Volk harmonisch zusammen zu leben und ich hatte meine Boten schon tot geglaubt.“
„Doch ich stehe hier.“
„Ja, hier stehen wir.“ Jarson legte nachdenklich den Kopf schräg, „Und die Zeit arbeitet schneller den je gegen uns.“
„Wie meint ihr das Hauptmann?“, fragte Kragmar donnernd und sah zu Keeda hinüber, die ebenfalls mit den Schulter zuckte.
„Valindras Armee steht vor den Mauern der Protectors Enclave und ich habe Befehl abzurücken und zurück zu kehren, um mich der Streitmacht gegen sie anzuschließen.“
Alice keuchte schockiert auf, ihre Stimme versagte und auch Keeda schien bestürzt. „Valindra greift die Enclave an?“
Jarson nickte bedächtig und beobachtete wie die Gedanken in Kragmars Kopf Gestalt annahmen, „Wenn wir diese Schlacht verlieren, fällt Neverwinter und Valindra wird über dieses Gebiet herrschen. Sie wird jeden eures Volkes töten, skrupellos und unaufhaltsam. Ich war zunächst besorgt, ob ihr tatsächlich Frieden schließen wollt und nun seid ihr hier und bestätigt meine Hoffnung. Allerdings haben sich die Umstände geändert, Frieden allein genügt nicht, wir benötigen eure Unterstützung im Kampf, um endlich Frieden zu schließen.“
„Man kann keinen Frieden durch Gewalt schließen, das habe ich endlich erkannt“, lautete Kragmars tonlose Antwort. Jarson zuckte entschuldigend mit den Schultern und lächelte spöttisch.
„Dieser letzte Kampf ist von Nöten und es ist nicht so, als ob ihr eine Wahl hättet. Entweder kämpft ihr an unsrer Seite, oder ihr sterbt allein.“
„Hauptmann, zügelt eure Zunge!“, zischte Keeda wütend und trat zwischen ihn und Kragmar. Creed knurrte warnend und legte seine Hand auf den Schwertriff, doch Kragmar zog die Drow sanft zurück.
„Ich nehme eure Bedingungen an.“
Keeda fuhr ruckartig zu ihm herum, „Kragmar, ihr verkauft eure Männer an Neverembers Armee! Das ist kein Frieden.“
Der Kommandant schüttelte lächelnd den Kopf und sah kalt zu Jarson hinüber, „Es ist wie er sagte, ich habe keine Wahl. Der ungerechteste Frieden, ist besser als der gerechteste Krieg und meine Männer haben nur noch die Kraft für diese letzte Schlacht. Dort soll es sich entscheiden.“
Keeda riss sich von ihm los und bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. Fassungslos schüttelte sie den Kopf und wandte sich an Alice. „Wir gehen!“
Grob zerrte sie Alice aus dem Besprechungsraum und vermied dabei die Blicke des Hordenführers. „Er verkauft seine Männer, ich fasse es nicht, und Jarson! Er war skrupellos, hartherzig und es war, als würde er sich über Valindras Angriff freuen! Merkst du nicht, das wir die Drecksarbeit für ihn erledigt haben? Nicht nur, dass er der Konflikt im Turmviertel beendet wird, nun bekommt er noch eine zusätzliche Armee, die er und Neverember als Kanonenfutter gegen Valindra verwenden werden“ Sie eilte fauchend durch das Turmviertel, auf der Suche nach Harbek.
„Keeda, beruhige dich“, versuchte Alice sie zu beschwichtigen, „Letzten Endes wird es Frieden geben.“
„Und zu welchem Preis? Durch welche Mittel? Jarson ließ ihm keine Wahl, das war skrupellos, aber das gleiche denkst du auch über mich.“
„Keeda, warte.“ Alice griff nach Keedas Arm, doch die Drow riss sich los und eilte weiter. Abermals griff sie nach ihr und dieses Mal drehte sich die Dunkelelfin fauchend zu ihr um.
„Was ist Alice? Es ist mir gleich, was du über mich zu wissen glaubst, aber lass mich bitte damit zufrieden, ja?“
„Es tut mir leid“, flüsterte Alice und ließ nicht zu, dass sich Keeda spöttisch abwandte, „Es tut mir Leid, alles. Ich hätte dich in Vasils Räumen nicht anschreien dürfen oder überhaupt sauer auf dich sein.“
„Endlich sagst du etwas vernünftiges“, grummelte Keeda und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. Alice rang mit den Händen und versuchte ihre Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen.
„Ich war wütend, weil du Recht hattest und ich nicht aus meiner Haut konnte, verstehst du?“
„Nein, tue ich nicht.“
„Du wusstest das der Mantelturm eine Falle war, während ich es als Paranoia abtat. Ich bin eine brillante Kämpferin … “
„Und so bescheiden“, murmelte Keeda leise.
„ … doch mein Herz ist weich geworden. Ich war schockiert als ich sah wie mühelos du die Orks abgeschlachtet hast, selbst als sie flohen und ich weiß, dass das grausam von dir war, doch es musste getan werden. Das Gleiche bei dem Verwundeten, ohne deine Strenge hätte er nie geantwortet, während ich nur wollte, dass es ihm besser ging. Dir fällt es so leicht das zu tun, was getan werden muss, während ich nur dann glänze, wenn es um unmenschliche Monster geht oder unser Leben unmittelbar in Gefahr ist.“
„Möchtest du etwa sagen, dass du eifersüchtig bist? Auf mich?“ fragte Keeda schockiert und vergaß ihre Wut. Alice zuckte beschämt mit den Schulter und nickte leicht. „Ich bin die letzte, die du beneiden solltest. Sieh dich doch an, du bist wunderschön, stark, talentiert und noch dazu ein guter Mensch. Was habe ich im Gegenzug vorzuzeigen? Ein dunkles Herz und eine noch dunklere Vergangenheit, ich bin es, die dich beneidet.“
Sie standen sich für einen Moment verlegen gegenüber, bis Alice der Drow mit tränennassen Augen um den Hals fiel. Keeda ließ sie gewähren und tätschelte ihrer Freundin zaghaft den Rücken, bis diese sich von ihr löste.
„Wir sollten Harbek finden und aufbrechen, schließlich wartet eine Armee darauf, dass wir sie aufhalten.“ Keeda trat unsicher einen Schritt von Alice zurück.
„Nichts, was wir nicht schon getan hätten.“ Alice lächelte dankbar und drückte Keedas Hand. Die Drow erwiderte den Händedruck und ein echtes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.