Geschockt und einen Moment unfähig, sich zu bewegen, starrte der Diener nur auf die geöffnete Tür, durch die der nächtliche Wind in das Gemach drang, der die Stoffbahnen tanzen und die Kerzen flackern ließ, die Sebastian entzündet hatte.
Wie ein Stromstoß durchfuhr es ihn, als er hinaus eilte und über die Brüstung in die Tiefe blickte. Das Herz wurde ihm schwer, als er unten zwischen den Bäumen das Bündel ausmachen konnte, etwas dunkler als der Schnee um es herum.
»Was habt Ihr getan?«, flüsterte der Leibdiener, griff sich die Laterne von der Kommode und rannte gehetzt die Stufen des Turms hinunter.
Außer Atem und mit kaltem Schweiß auf dem Rücken durchbrach Sebastian die Schlossmauer durch eine Tür, die man von außen nicht öffnen konnte. Er blickte nach oben und Übelkeit wühlte in seinem Magen, als er sehen konnte, wie hoch es tatsächlich war. Er watete durch den Schnee, der ihm annähernd bis zu den Knien reichte, um an die Stelle zu gelangen, an der sein Herr aufgekommen sein musste. Suchend hob er die Laterne, doch finden konnte er nichts. Nur den zerwühlten und durch einen Aufschlag eingedrückten Punkt in der weißen Masse. Ein paar Blutstropfen waren im Schnee zurückgeblieben, doch von Graf Viktor fehlte jede Spur.
»Viktor?«, fragte er in die Dunkelheit.
»Nun, mein alter Freund«, hörte Sebastian die vertraute Stimme in der Finsternis hinter sich, »es steht zumindest fest, dass du dir niemals wieder Sorgen machen musst, dass ich vom Balkon springe.«
Der Leibdiener drehte sich in Richtung seines Herrn, der an der Schlossmauer lehnte und sich etwas Blut von der Nase wischte, offenbar die einzige Verletzung, die der Sturz bei ihm verursacht hatte.
»Denn es hat offensichtlich nicht mehr die gewünschte Wirkung«, flüsterte der Adlige mit einem gehässigen Lachen.
»Mein Herr, das war sehr unvernünftig von Euch«, rügte ihn Sebastian und reichte ihm ein Taschentuch, mit dem der Graf seine Nase säubern konnte.
»Unvernünftig? Wie nennst du diese ... neue Existenz? Wünschenswert?«
Der Leibdiener legte ein leichtes Lächeln auf, als ihm ein Gedanke kam. »Nun, zumindest braucht sich das Geschlecht der Draganestis jetzt keine Sorgen mehr zu machen, dass es nach Eurem Tode ausstirbt.«
Der Graf schnaubte nur und putzte sich die Nase. »Oh ja ... und wie erklärst du, dass der letzte Spross nicht stirbt, wo er es doch eigentlich sollte?« Ungläubig den Kopf schüttelnd blickte auch Viktor zum Turm hoch, wo man die weißen Stoffgardinen der Balkontür wie Gespenster im Mondlicht wehen sehen konnte.
»Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist, mein Herr. Zuerst sollten wir wieder hinein gehen. Ich habe Schnee in den Schuhen und es ist kalt.«
»Ich spüre gar nichts«, flüsterte Viktor und schaute auf seine nackten Füße, die in der kalten Masse standen und nicht den geringsten Anschein erweckten, als würden sie auf die Eiseskälte reagieren.
»Ich ... werde ein paar Dinge für Euch nachschlagen. Aber vermutlich liegt es daran, dass Ihr ... nun ja ...«
»Dass ich eigentlich tot bin? Großartige Aussichten. Aber gehen wir wieder hinein, bevor dir noch etwas abfriert.«
Sebastian ging hinter seinem Herrn her, dessen Schritte den Schnee weniger eindrückten als die des Dieners.
»Interessante Sache«, murmelte Viktor nur und sah dem anderen Mann zu, wie der das Portal in der Mauer wieder verriegelte.
Schweigend gingen sie nebeneinander her, ein sonderbares Gespann abgebend, wie ein Gespenst und sein Fährmann, der mit der Laterne den Weg ins Jenseits ausleuchtete.
»Was wirst du mit dem Mädchen machen?«, fragte der Graf schließlich, als sie in die Verschwiegenheit der gräflichen Räume zurückgekehrt waren und der Diener so frei war, seine nassen Schuhe auszuziehen. Er lehnte sie an den Rost des Kamins und wandte sich dann seinem Herrn zu.
»Ich könnte sie in den Wäldern verschwinden lassen. Die Wölfe würden das Übrige tun ... ich könnte sie allerdings auch verbrennen und ihre Asche verstreuen, wie sich das gehört ...«
Viktor nickte. »Tu’ das ... damit gehen wir auch sicher, dass ... nichts weiter passieren kann. Feuer wird die Sünde bereinigen.« Der Graf blickte in die Flammen und stand, wie von einer unsichtbaren Schnur hochgezogen, auf und trat an die Feuerstelle heran.
»Was habt Ihr vor, Herr? Noch einen Selbstmordversuch heute Nacht kann ich nicht gutheißen.«
»Ich möchte nur ...« Der junge Adlige hielt seine Hand in das Feuer und es dauerte nur kurze Zeit, bis ein unangenehmer Geruch sich ausbreitete und er die Finger zurück riss. »Das tat weh«, murmelte er und klang dabei fast erheitert. Sebastian seufzte und holte vom Balkon eine Handvoll Schnee, die er seinem Herrn auf die verwundeten Finger legte und mit einem Tuch umwickelte.
»Was war das für eine Übung?«
»Nun, ist es nicht ein gutes Zeichen, dass ich noch fühlen kann? Auch wenn die Kälte mir nichts ausgemacht hat, konnte ich doch deutlich fühlen, wie die Flammen über meine Haut leckten.« Graf Viktor streckte seine gesunde Hand zu seinem Diener aus, die dieser ergriff und darüber strich.
»Fühlt Ihr das?«
»Ja ...« Der Graf nickte und knurrte kurz, als Sebastian ihn kniff. »Das auch ...«
»Sehr gut ... vielleicht kommt Euer Empfinden zurück. Vielleicht ... haben wir all die Jahre falsch gedacht, was Strigoi angeht. Denn Ihr seht nicht wie das Monster aus, das ich immer vor mir gesehen habe, wenn ich an ein solches Wesen gedacht habe.«
Viktor ließ sich auf einem der Sessel vor dem Feuer nieder und nickte leicht. Auch er hatte erwartet, dass man, wenn man diesem Fluch einmal erlegen war, zu einer unberechenbaren, hässlichen und monströsen Bestie verkam, die weder Furcht noch Trauer noch Reue empfand, sondern die Nächte einzig und allein auf der Suche nach Opfern und Blut durchstreifte.
»Vielleicht ... bin ich auch gar keiner ...«, ein Quäntchen Hoffnung schwang in der Stimme des Grafen mit, doch Sebastian legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Wollt Ihr lieber den Verstand verlieren? Denn anders wäre Euer Übergriff auf das Dienstmädchen dann nicht zu erklären.«
»Warum fürchtest du dich nicht?«
Der Leibdiener nahm gegenüber seinem Herrn in dem zweiten Sessel Platz, eine Handlung, die ihm eigentlich nicht zustand, wenn er nicht dazu aufgefordert wurde, und nahm die verletzte Hand in seine.
»Ich habe Eurem Vater geschworen, immer an Eurer Seite zu sein, wie lange Euer Leben dauern mag. Das Versprechen hat er mir abgenommen, lange bevor der Tod ihn holte und Ihr Herrscher wurdet. Ich verdanke ihm, dass ich noch lebe und ich liebe Euch wie einen Bruder, nachdem ich meine Familie verloren habe. Wie könnte ich Furcht vor Euch empfinden? Ich kenne alle Eure Ängste und Eure Schwächen und nie habt Ihr mich für meine verurteilt. Wenn nicht mir, wem solltet Ihr vertrauen können?«
»Ich kann - ganz offensichtlich - nicht sterben. Zumindest nicht auf den üblichen Wegen ... wie willst du deinen Schwur halten, wenn ich tatsächlich zu einem Strigoi verkommen bin?«
Sebastian lächelte. »Macht Euch darüber bitte keine Sorgen«, er seufzte, »offengestanden bin ich - und ich schäme mich dafür - fast froh um diesen Umstand. Denn wenn Ihr nicht mehr sterben könnt, werde ich nicht eines Tages ohne Aufgabe dastehen ...«
Viktors Kopf zuckte leicht und er zog die Augenbraue hoch. »Hast du mich verhext? Das aus mir gemacht?«
Der Leibdiener wurde blass und schüttelte ehrlich erschüttert den Kopf. »Wie könnt Ihr ... ich ... ich weiß, wie sehr Ihr Euch vor solchen Dingen fürchtet. Traut Ihr mir zu, Euch so etwas anzutun? Ich hätte alles gegeben, Euch davor zu schützen, wenn ich es gekonnt hätte. Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, wie ich das hätte anstellen sollen.«
»Verzeih’ mir, Sebastian. Ich verstehe es nur nicht ... wie konnte ich durch ein Fieber zu diesem ... Ding werden?« Unbewusst kratzte der Adlige sich am Hals. Die Male, letzte Zeugnisse seiner Nacht der Sünde mit dem englischen Lord, waren inzwischen deutlich verblasst, jedoch noch immer zu erahnen. Sebastian zog die Braue hoch.
»Würdet Ihr mir ins Magiezimmer folgen, Herr?«
»Warum? Du weißt, ich hasse diesen Raum. All diese Relikte der Hexerei und Ketzerei machen mich nervös. Er existiert überhaupt nur noch, weil du es so haben wolltest, elender Hexer.« Viktor schmunzelte leicht, was sein Diener mit einem dankbaren Nicken erwiderte.
»Ich bitte Euch. Ich muss ... etwas nachschlagen.«
»Na schön. Doch zuerst hilf mir in etwas wärmere Kleidung, bitte. Dieses Nachthemd ist feucht vom Schnee und der Hitze des Fiebers.«
In Hemd, Hose und Stiefeln gewandet folgte der Graf schließlich seinem Diener in den Korridor, der in den Geheimgang führte, in dem das Ketzerzimmer verborgen lag. Viktor hatte es in seinem Leben nur ein oder zwei Mal betreten, denn ihm machten die sonderbaren Masken an den Wänden Angst, die Folianten, die offenbar in menschliche Haut eingebunden waren, die Pergamentrollen, die auch nicht aus Ziegen gemacht waren, wie es üblich war, sondern aus anderen, gruseligeren Materialien und all die Schädel und Gefäße mit undefinierbarem Inhalt. Dem Grafen kam es immer so vor, als würden Stimmen durch den Raum geistern, die ihm unheilige Dinge ins Ohr flüstern wollten, und leise Schreie aus den Büchern und Gläsern dringen, als hätte man sie konserviert und darin gefangen. Er hatte nie verstanden, was sein Diener an diesem Zimmer so faszinierend fand.
Sebastian steckte einige der schwarzen Kerzen in Brand, die dunkler waren als normale, und entzündete den Leuchter, der in der Mitte des Raumes hing, etwa auf Brusthöhe, und um den alle Tische herumgestellt waren.
»Was ist das für ein Ding?« Viktor deutete mit angespannten Schultern auf eine Wurzel, die sonderbare Ähnlichkeit mit einem menschlichen Körper hatte, dem man ein Bein abgehackt hatte. Sie lag auf einer der Tafeln, locker eingewickelt in ein Stück Stoff, ein Messer sowie ein Mörser daneben.
»Eine Zauberwurzel, Herr. Eine Alraune. Ich habe Euren Schlummertrunk daraus gemacht. Und aus diversen anderen Kräutern.« Sebastian wickelte die Pflanze fester in das Tuch und legte sie fast sanft in eine Kiste, die in einem der unteren Fächer des Tisches stand.
»Das war vor Tagen ... wie kommt es, dass sie nicht verdorben ist?«
»Mein Herr, seid Ihr sicher, dass Ihr solche Dinge wissen wollt?«
Der Graf presste die Lippen zusammen und sah sich in dem kreisrunden und relativ großen Zimmer um. An den Wänden standen Regale voll mit den unsäglichsten Büchern, in denen Dinge standen, die sie ganz sicher auf den Scheiterhaufen bringen würden. Kleinere Schübe, deren Oberflächen als Ablagen genutzt wurden, waren ebenfalls damit voll gestellt. Pergamentzeichnungen von schaurigen Ritualen und anderen Darstellungen waren an die Wände geheftet.
»Ist das hier ... Grundgütiger«, Viktor schnaubte und konnte sich gerade noch beherrschen, bevor er sich bekreuzigt hätte.
»Das ist ein Fruchtbarkeitsritual, Herr.«
»Das ist ein Geschlechtsakt!«
»Natürlich. Aus der Verschmelzung von Mann und Frau entsteht Leben. Das ist Natur. Und gleichzeitig uralte Magie. Nichts ist mächtiger als das. Manche Gelehrte sagen, dass der Mensch wahre Göttlichkeit erlangt in dem Moment des geschlechtlichen Höhepunktes. Und würdet Ihr da nicht zustimmen? Ist das nicht der Moment höchsten Glücks?«
Viktors Bestürzung über die unverblümte Darstellung einer Vereinigung zweier Menschen wich der Verlegenheit und der Wärme in seiner Brust. Doch er nickte.
»Ja, das stimmt.« Er versuchte, das unwohle Gefühl zu verdrängen, dass die Teufelsmasken an den Wänden ihn beobachteten, und nahm auf einem freien Stuhl Platz, während Sebastian an einem der Regale entlang ging und nach einem bestimmten Buch zu suchen schien. Viktor sah sich weiter um.
»Ich hoffe für dich, diese ... eingelegten Tierbabys hast du nicht selbst getötet und da in diese ... Brühe getaucht.«
»Aber Herr, wo denkt Ihr hin? Ich töte doch keine Welpen. Die sind noch von Eurem Großvater, nehme ich an. Und ich denke nicht, dass er sie selbst getötet hat. Man bekommt so etwas zu kaufen. Wenn man weiß, wo.«
»Wie bitte?«
Der Diener nickte, ohne den Grafen anzusehen. »Man nutzt so etwas für schwarze Magie. Damit habe ich weniger am Hut. Allerdings kann man auch Zaubermittel daraus herstellen. Ich dachte mir, ich kann nie wissen, wann ich so etwas einmal brauche, also habe ich sie behalten. Man kann sie auch als Seelenfänger verwenden.«
»Du hast Recht, Sebastian. Ich will nichts davon wissen. Diese komische Menschenwurzel da ist doch sicher auch deswegen noch nicht verdorben, weil damit etwas nicht ganz ... mit rechten Dingen zugeht, habe ich Recht?«
»Richtig. Eine Alraune ist ein magisches Gewächs. Wenn man sie gut einwickelt und warm hält, verdirbt sie nicht.«
»Und das hast du mir zu schlucken gegeben ...«
»Ich tat es in der Hoffnung, sie würde Euren Schmerz und den Fieberwahn lindern. Aber natürlich hilft sie nicht gegen Vampirismus. Dagegen gibt es kein Kraut.« Der Leibdiener zog ein dickes Buch aus dem Regal, dessen heller lederner Einband mit sonderbaren, dunklen Flecken übersät war. Und die sahen nicht nach Tee aus. Der Graf erhob sich, während Sebastian die Seiten durchblätterte.
»‚Schweinereien für den Kochtopf’, lese ich das richtig? Was soll das sein?«
Der Diener wandte den Kopf und sah, wie sein Herr ein schmales Buch hervor zog und es aufschlug. Sebastian musste leicht grinsen, als Graf Viktor etwas bleicher um die Nase wurde.
»U-ungeborenes Lamm ... leicht ... gedünstet«, würgte er entgeistert hervor.
»Oh blättert einmal zur der Blutschaumsuppe, das wird Euch gefallen«, gluckste der Leibdiener und der junge Adlige stellte das Schriftstück unsanft wieder in das Regal zurück.
»Was ist das?«
»Ein Kochbuch ... ganz offensichtlich. Für Hexen. Da stehen allerhand eklige Sachen drin ... von einem rohen Hirsch bis hin zu Pasteten aus ... Säuglingsfleisch.«
»Grundgütiger, womit hat sich mein Großvater da nur beschäftigt?«
»Nun, in der gegenwärtigen Situation ist es gut, dass er es getan hat ... hier habe ich es ... Strigoi ...«, las Sebastian, »der Verwandlung kann der anheim fallen, der Laster auf sein Leben legte, eines unrühmlichen Todes starb oder ... gebissen wurde.« Diener und Herr sahen sich einen Augenblick an.
»Sandringham!«