Wie Graf Viktor vermutet hatte, war die Verlautbarung, dass er seinen Titel und damit sein Fürstentum freizugeben suchte, eine Nachricht mit der Gewalt einer Bombe. Die Boten, die ihm Briefe zukommen ließen, gaben sich beinahe die Klinke in die Hand, doch der junge Adlige dachte nicht daran, schwerwiegendere Gründe für seinen Rücktritt anzugeben als eine angestrebte, lange Reise, um die Last der Trauer endlich zu besiegen und wieder auf andere Gedanken zu kommen.
Trotz der vielfältig ausgesprochenen Aufforderung, der Regentschaft nicht zu entsagen, wusste der junge Graf, dass das nur Floskeln waren. Hinter diesen freundlichen Worten standen Männer, die sich die Hände rieben, weil sie insgeheim immer verärgert darüber gewesen waren, wie Viktor im Alter von nur einundzwanzig Jahren der Fürst über eine der reichsten Regionen Transsylvaniens hatte werden können. Schließlich wäre er das niemals geworden, wenn er sich ordnungsgemäß zur Wahl hätte aufstellen lassen. So einem jungen Spund vertrauten die alten Bojaren nicht. Und doch hatte Viktor seinen Posten besser erfüllt als mancher der Vorgänger seines Vaters. Neid darüber, wie gut es den Menschen in Bistrien ging, war schon früh ein Thema. Ebenso die Mildtätigkeit des jungen Grafen, der niemals ein Todesurteil ausgesprochen hatte und bereit gewesen war, weniger für sich zu fordern, damit es für alle reichte.
Manche schüttelten darüber den Kopf, andere bewunderten Viktor dafür. Und alle strebten danach, den Reichtum des Fürstentums für sich zu beanspruchen. Denn bis auf die Ortschaften und Ländereien, die direkt unter der Herrschaft und in Besitz des Hauses Draganesti lagen und das auch bleiben würden, würde alles in die Obhut des neuen Fürsten übergehen.
Viktor hatte, nach reiflicher Abwägung der Für‘s und Wider‘s, schließlich eingesehen, dass es das Beste war, zu gehen. Er würde hier in Bistrien nicht glücklich werden. Der Geist der Vergangenheit, die Last des Verlustes nicht nur von Frau und Kind, sondern auch von den Eltern und allem, was ihm lieb gewesen war, wog einfach zu schwer. Die vertrauten Mauern seines geliebten Heims drohten, ihn zu erdrücken und er brauchte eine Luftveränderung, musste die Welt sehen, reisen, den Kopf und die Erinnerungen mit neuen Eindrücken füllen, die ihm sein Schloss nicht zu geben vermochte.
Es kümmerte ihn nicht, wie sich die Bojaren entscheiden würden, wer der neue Fürst werden sollte. Er würde seinen Besitz, die Ländereien, Wälder und Weiler behalten, die seit Alters her seiner Familie gehörten, und hatte vor, diese weiterhin den Dörflern zur Nutzung zu überlassen, gegen eine Pachtzahlung. Ganz wie immer. Für das Gesinde auf Schloss Draganesti kam die Entscheidung ihres Herrn, die Burg für unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, zu verlassen, freilich überraschend und wurde schwermütig aufgenommen. Die Aussicht, nach so langer Tätigkeit in den bekannten Mauern, auf der Straße zu stehen und einen sicheren Arbeitgeber zu verlieren, traf viele hart. Graf Viktor jedoch hatte jedem Einzelnen ein Empfehlungsschreiben und eine kleine Abfindung überreicht, die den Übergang in eine neue Anstellung erleichtern sollte. Das schlosseigene Vieh wurde auf die Dienstboten verteilt, deren Familien nicht auf der Burg lebten, sondern in einem der umliegenden Dörfer. Die Aufsicht über das Schloss und die Einnahmen aus Pacht und Abgaben ging in die Verantwortung des Verwalters über, der in Nezru lebte und seinem Herrn über alles schriftlich Rechenschaft abzulegen hatte. Ebenso waren die Wachleute behalten worden, die täglich mehrfach nach dem Rechten zu sehen hatten. Auch die Männer lebten jetzt im Dorf, da der Betrieb auf Schloss Draganesti eingestellt worden war. Der Graf ließ sich ihre Dienste großzügig etwas kosten.
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Viktor stand am geöffneten Fenster des Musikzimmers und sah in den Nachthimmel hinauf. Das tintenfarbene Firmament war übersät mit glitzernden Lichtern und der Schein der Fackeln ließ auch den Schnee funkeln wie Edelsteine. Er seufzte leise. Die Dienerschaft und alle anderen vom Gesinde, mitsamt dem Vieh, hatten das Schloss bereits verlassen. Geblieben waren nur er, Sebastian und die Pferde, die die Kutsche ziehen würden. Nicht zu vergessen der Kater Rasputin, den der Diener niemals weggegeben hätte.
»Bedauert Ihr schon, dass Ihr die Burg verlassen wollt, mein Herr?« Sebastian war in den Raum getreten, lange nicht mehr so überraschend wie früher, jetzt, da Viktor seinen Herzschlag bereits auf der Treppe hören konnte.
»Nein. Ich muss es tun. Nicht nur, um dem Gerede zu entgehen, sondern auch, weil ich hier lebendig begraben bin. Ich verabscheue es, Sandringhams Worte zu benutzen, doch er hatte Recht. Ich bin noch zu jung, um hier in einem prächtigen Mausoleum auf mein Ende zu warten. Es ist besser so. Ich kann an diesem Ort kein Glück finden, denn alles, was es dazu gemacht hat, ist tot. Für uns beide gibt es hier nichts, das siehst du doch selbst, oder?«
Sebastian nickte. »Habt Ihr Euch bereits überlegt, wo es hin gehen soll?« Der Diener überblickte den Stapel voller Landkarten, die sein Herr zuvor studiert haben musste.
»Ich habe irgendwie genug von Schnee und Kälte ... Ich dachte an Italien oder Griechenland. Mir ist nach Kultur, Musik. Und Wärme.«
»Mein Herr, meines Wissens nach ist es dort auch gerade Winter.«
»Doch sicher ist es milder als hier im Gebirge.«
Der Leibdiener schmunzelte und räumte einen Teil der Karten beiseite, um sein Tablett mit dem Tee abzuräumen.
»Mir wird es fehlen. Das Schloss. Das war das erste richtige Zuhause, das ich hatte. Mein Elternhaus konnte man ja kaum so nennen. Hier erfuhr ich zum ersten Mal, wie sich Sicherheit anfühlt.«
Viktor nickte. Er erinnerte sich an viele dieser Tage aus ihrer gemeinsamen Jugend, als Sebastian hier ankam, mit nichts als den zerfetzten Kleidern am Leib und einem riesigen Loch in Magen und Herz.
»Nun, wir sind ja nicht aus der Welt, nicht wahr? Das Gebäude wird bleiben. Ähnlich wie wir. Hast du sichergestellt, dass alle Möbel abgedeckt sind in den Räumen? Alle Fenster sorgfältig verriegelt, damit keine Feuchtigkeit hinein kommt?«
»Ja, Herr. Bis auf Euer Schlafgemach und meine Kammer ist alles erledigt. In der Küche werde ich diese Handgriffe noch tun, bevor wir aufbrechen.«
Viktor wandte sich wieder dem offenen Fenster zu. Es war bitterkalt, doch wo er noch vor wenigen Tagen gefroren hätte, nahm er es jetzt kaum als unangenehm wahr.
»Es ist sonderbar, das Schloss so leer zu wissen. Es war immer so laut, durch all die Diener, die in ihren Kammern miteinander sprachen, die sich stritten, sich liebten. Das Lachen und Weinen der Kinder, das Knurren und Pöbeln der Burschen draußen in den Ställen, das Scharren der Hufe, die Geräusche des Viehs, das Klirren der Waffen von den Wachen. All das ist fort und es ist still wie ein Grab.«
»Man merkt erst, wie groß der Komplex ist, wenn er verlassen ist, da muss ich Euch Recht geben.«
»Nun denn ... künftig soll er den Fledermäusen gehören. Ich möchte lieber noch nicht daran denken, wie es hier aussehen wird, sollten wir irgendwann zurückkehren«, Viktor gluckste, »ich wette mit dir um ein Goldstück, dass es dann Unmengen für dich zu putzen gibt.«
»Ihr tatet gut daran, das Schloss bewachen zu lassen und den Verwalter mit der Aufsicht zu betrauen. Eine voll ausgestattete Burg ist sicher Ziel für viele ...«
»Da ist es doch gut, dass all das, was uns lieb und kostbar ist, in den versteckten Kammern der Geheimgänge verborgen werden konnte. Alles, was es jetzt noch zu holen gibt, ist schnöder Tand.«
Der Graf und Sebastian hatten die Kutsche gemeinsam mit den Habseligkeiten beladen, die sie auf die Reise mitnehmen wollten. Doch außer Kleidertruhen, diversen Geldbeuteln, an unterschiedlichen Stellen überall versteckt, Viktors Violine und ein paar kostbaren Büchern und persönlichen Kleinigkeiten war das nicht viel. Sorgfältig in der Kutsche verborgen waren die Schmuckstücke, Edelsteine und weiteres Gold gebunkert, um ein komfortables Leben an einem anderen Ort zu sichern. Und sollte das nicht reichen, würde man sich an den Vermögensverwalter in Bistritz wenden. Allein Graf Viktors gesellschaftlicher Stand würde ihm leicht die Türen öffnen.
Der Leibdiener war so frei, sich in den zweiten Sessel vor den Kamin zu setzen. Er und sein Herr waren nun die einzigen lebendigen Seelen außer der Tiere im Schloss, da würde es niemanden mehr kümmern, ob er die Form wahrte oder nicht. Viktor tat es nicht.
»Ich denke mir, die pompöse italienische Mode wird Euch ausgezeichnet kleiden, mein Herr ...«, der Diener gluckste und machte seinen latenten Spott zunichte. Der Graf drehte sich mit einem spitzbübischen Lächeln, das seinen gepflegten Bart zucken ließ, zu ihm um und nahm neben ihm Platz. Sebastian schenkte Tee ein.
»Du glaubst doch nicht, dass ich, nachdem ich mich hier zwanzig Jahre vor dieser fürchterlichen Art der Männermode gedrückt habe, dort damit anfange, oder? An einem Ort, wo Herren noch aufdringlicher gekleidet sind als die Damen? Nein, nein ...«
»Ich muss gestehen, ich bin sehr aufgeregt.« Sebastian nahm sich ebenfalls Tee und führte die Tasse mit Blick auf das Feuer an seine Lippen. Viktor tat es ihm gleich.
»Da ist es doch gut, dass man uns früher gezwungen hat, all diese Sprachen zu lernen, meinst du nicht? Zumindest mit Italienisch, Griechisch und Englisch werden wir nicht allzu viele Probleme haben.«
»Ich war noch nie aus Rumänien weg und hätte man mir vor zweiundzwanzig Jahren, als ich vor meinem Vater floh, gesagt, dass ich einmal ans Mittelmeer reisen würde, als der Leibdiener eines edlen Grafen, in einer Kutsche, gut gekleidet und höchst zufrieden mit meinem Leben, ich hätte diese Person ausgelacht. Oder geweint, weil ich es gemein gefunden hätte, mir diese Dinge zu sagen, die doch niemals wahr werden würden.«
»Du schmeichelst mir, Sebastian. Das Leben mit mir ist doch sicher unglaublich nervtötend ...«
Der Diener erlaubte sich ein Lachen. »Mit Verlaub, es gab Zeiten, da war es so. Aber das ist lange her. Inzwischen seid Ihr kein Knabe mehr, den man nicht aus den Augen lassen kann oder der einem am Rockzipfel hängt, während man eigentlich andere Dienste zu verrichten hat. Ich betrachte mein Leben mit Euch nicht als Belastung. Ich bin gern, was ich bin.«
»Nun, dann werde ich mich bemühen, dass es so bleibt. Aber jetzt werde ich mich besser hinlegen. Ich möchte zeitig aufstehen, es gibt noch einige Dinge zu erledigen, bevor wir aufbrechen können. Achte auf den Kamin, wenn du gehst.«
»Natürlich, Herr.«
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Die Sonne war noch nicht über den Karpaten aufgegangen, als Graf Viktor mit wattigen Nebelwölkchen vor den Lippen im Hof stand und einen letzten Blick auf die Burg seiner Vorfahren warf. Noch in der Nacht und in den frühen Morgenstunden hatte Sebastian die Küche aufgeräumt und alle Möbel in den zuletzt genutzten Räumen mit Tüchern bedeckt, um den Staub wenigstens etwas fernzuhalten. Es berührte den Grafen wehmütig, all das zurückzulassen, und auch ein Funken Furcht war da in seiner Brust - Furcht davor, wie er das Schloss vorfinden würde, sollte er jemals wieder zurückkehren. Es war unzweifelhaft, dass er gehen musste, wenn er nicht lebendig zu Staub werden wollte hier, doch gleichzeitig war dies der Ort seiner Kindheit. Von seinen achtundzwanzig Lebensjahren hatte er nur wenige Jahre nicht hier verbracht und die Macht der Gewohnheit, die Geborgenheit, die diese hellen Mauern ausstrahlte, war ungeheuer stark. Etwas in ihm wollte nicht fort von hier. Doch der stärkere Teil, der, der sich über die Notwendigkeit gewiss war, wenn er den nächsten Schritt tun wollte, wusste, dass es getan werden musste. Auch wenn es weh tat.
»Geht es Euch gut?«
»Dir denn? Sag mir nicht, dass es dich nicht ähnlich dauert, fortzugehen. Gestern noch sagtest du es selbst.«
»Natürlich. Ich würde lügen, würde ich sagen, es wäre anders. Doch diese Reise wird Euch gut tun. Uns beiden.«
»Ich weiß. Bist du so weit?«
»Ja, Herr. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr einsteigen. Ich war so frei, den Korb mit Rasputin in die Kutsche zu stellen. Auf dem Kutschbock ist es zu kalt für ihn.«
»Natürlich ...«
Sebastian setzte die Pferde in Bewegung, indem er am Zaumzeug des Leittieres zog, und manövrierte das Gefährt vom Hof. Anschließend verschloss er das mächtige Portal mit einiger Kraftanstrengung und verließ das Schlossgelände durch eine verborgene Tür in der Mauer, die von außen unmöglich zu sehen war, wenn man nicht wusste, dass sie da war.
»Ich glaube, Herr, mehr können wir nicht tun, um unser Zuhause zu sichern. Eure Leute werden sich schon gut kümmern.«
Viktor, der noch nicht in die Kutsche gestiegen war, blickte noch ein letztes Mal die hellen Mauern entlang, die in der Morgensonne zu erstrahlen begannen.
»Sandringham meint, er hätte mir nichts weggenommen. Doch womöglich war das, was er mir genommen hat, das Kostbarste überhaupt. Aber vielleicht auch das, was mich über kurz oder lang umgebracht hätte. Denn sehen wir der Realität ins Auge, Sebastian. Meine anhaltende Melancholie seit dem Tod von Julieta und Gabriel hätte mich vielleicht nicht morgen und vielleicht nicht nächstes Jahr, aber doch sicher lange vor meiner Zeit zu ihnen geführt. Ich fühlte nichts mehr außer Schmerz und Resignation und das kann nicht gesund sein.«
»Also wollt Ihr andeuten, er hätte Euch mit dem Fluch am Ende doch etwas Gutes getan?«
»Nein. Doch es war ein Weckruf. Ich habe ein Leben und ich sollte nicht vergessen, es auch zu nutzen. Es ist traurig, dass ich erst sterben musste, um das zu begreifen. Doch es ist, wie es ist. Nun machen wir das Beste daraus.«
»Jawohl, Herr.«
»Bring’ uns weg von hier.«
Und mit der Sonne im Rücken entfernte sich die Kutsche von dem Ort, der für Graf Viktor stets Geborgenheit bedeutet hatte, aber auch Leid, Einsamkeit und Verlust.