Gelangweilt ging der Graf seine Post durch, die Sebastian ihm mit einer Kanne Tee und etwas Gebäck in die Bibliothek gebracht hatte.
»Oh, sieh an, der alte Schuft will das vierte Mal heiraten. Vielleicht sollte er es aufgeben, wenn ihm immer die Frauen weglaufen«, gluckste der junge Mann und las amüsiert die Vermählungsankündigung eines alten Freundes seines Vaters, der die Sechzig bereits überschritten hatte und nun gedachte, eine gerade einmal zwanzigjährige Dame zu ehelichen.
»Nun, Herr, vielleicht ist es dieses Mal für immer?«, bemerkte der Diener leise. Der Graf zuckte mit den Schultern.
»In seinem Alter und bei seiner Fettleibigkeit wäre es ein Wunder, wenn er den Hochzeitstermin im Frühjahr noch erlebt. Trägst du den Termin bitte in den Kalender ein?« Er reichte seinem Leibdiener die Karte, der sie mit einem Nicken annahm.
Erfreut legte er den Brief seines langjährigen Freundes Friedrich zur Seite, der in Österreich lebte und aus einer angesehenen Soldatenfamilie stammte. Sie hatten sich als Burschen kennengelernt, als sein Vater Viktor mit auf eine Reise dorthin genommen hatte. Das Schreiben würde er später in Ruhe lesen. Er hatte Friedrich durch die Trauerzeit etwas vernachlässigt.
»Was gibt es Interessantes an Klatsch und Einladungen?«, wagte Sebastian seinen Herrn zu fragen und dieser seufzte.
»Nichts Besonderes. Eine Teegesellschaft bei Madame Julianova, aber bei dieser kann ich mich entschuldigen. Mir liegt im Moment nicht viel an der Gesellschaft überparfümierter, älterer Damen, die wie Backfische ihre Brüste hochschnüren. Und...« Die schlanken Finger des Grafen blätterten in der Korrespondenz, »hier ist eine Einladung für den Abend vor Weihnachten. Ein britischer Edelmann, wie der Name annehmen lässt, gedenkt, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren und lädt alle Fürsten der Region zu einem Weihnachtsball ein. Ich bin nicht sicher, was ich davon halten soll.«
Der Diener nahm das dargebotene Schreiben, das in einer exquisiten Handschrift und akkuratem Rumänisch abgefasst wurde, und las es ebenfalls.
»Sir Hiram Sandringham, Lord of Wickham«, murmelte er, »Sandringham, mein Herr, da klingelt etwas bei mir. Ist das nicht ein Zweig der englischen, königlichen Familie?«
»Wenn er das Lugosy-Jagdschloss zu seinem Wohnsitz erklärt hat und dort einen Ball ausrichten lässt, hat er zumindest keine leeren Taschen. Trag' den Termin ebenfalls ein und bring mir Papier und Feder. Ich werde persönlich eine Antwort auf die Einladung schreiben.«
Sebastian verließ die Bibliothek wieder und Graf Viktor starrte in die Flammen. Die Kälte seiner Finger hatte nachgelassen, so würde seine Feder beim Schreiben nicht zittern. Das war gut. Unsichere Schrift war ein Indiz für einen ängstlichen Charakter und Viktor war ganz und gar nicht ängstlich.
Es geschah nicht oft, dass sich Adlige aus dem Westen in das kalte Rumänien mit seinen düsteren Legenden und seinem rigiden Glauben verirrten. Schon gar nicht im Winter, wo es Wochen gab, in denen Schlösser, gerade in den Bergen, so eingeschneit waren, dass es keinen Weg nach draußen gab.
Was versprach sich Lord Sandringham von einem Winter in Siebenbürgen? Ein Abenteuer? Schneemassen, wie man sie in England nie zuvor gesehen hatte? Wollte er die düstere Folklore erkunden? Auf die Jagd gehen nach den Wesen, die angeblich nachts aus den Gräbern steigen und kleine Kinder rauben?
Graf Viktor lachte leise in sich hinein. Sein Vater hatte ihm, wenn er als Kind ungehorsam gewesen war, immer damit gedroht, dass des Nachts ein Strigoi käme, um ihn zu holen, als Strafe, weil er so frech gewesen war. Damals hatte das großen Eindruck auf ihn gemacht. Denn wer wollte schon von einem blutsaugenden Hexenwesen entführt und verschleppt werden?
Heute betrachtete er das Ganze etwas rationaler, auch wenn er wusste, dass gerade die einfachen Dorfbewohner unten am Hang oftmals gespenstische Rituale abhielten, um ihre Toten daran zu hindern, zurückzukehren. Oft hatte er schon schaurige Fackelzüge in den Dörfern aufleuchten sehen, mitten in der tiefsten Nacht, und es hatte daraufhin Gerüchte gegeben, dass wieder ein Strigoi in einem der Orte ausgelöscht wurde.
Es oblag jedoch nicht ihm, dieses Treiben zu unterbinden. Er mochte als Fürst für diese Menschen verantwortlich sein, doch wenn es um ihre Glaubenswelt ging, richteten sie sich an den Priester. Oder auch nicht, da dieser dieses Treiben als »ketzerisches Tun« verteufeln würde.
Der Graf seufzte. Wenn man mit diesem Glauben und dieser Folklore aufgewachsen war, war es sicherlich weniger spannend als für einen faden Engländer mit der Haut eines zu jungen Käses. Er schmunzelte über diesen Gedanken, als Sebastian zurückkehrte und ihm das gewünschte Schreibzeug brauchte.
»Ich danke dir«, nickte Viktor und breitete das kostbare Pergament, das sein fürstliches Wappen trug, auf dem Tisch vor sich aus. Die Tinte roch merkwürdig und war dick wie Blut. Der junge Mann rührte diese mit der Spitze seiner Schreibfeder etwas um, bis sie flüssig war. Sie machte einen großen Klecks auf das Löschpapier, bevor der Graf diese auf das Pergament ansetzte und zu schreiben begann.
Verehrtester Lord Sandringham,
mit Freuden erhielt Ich am heutigen Tage die Einladung zu Eurem Weihnachtsball. Selbstverständlich werde Ich Euch mit meiner Anwesenheit beehren, da mich die Spannung treibt, Eure Bekanntschaft zu machen.
Mit vorzüglicher Hochachtung,
Graf Viktor Ludowig Arian Draganesti III., Fürst von Bistrien
Zufrieden blickte der junge Mann auf das Schreiben mit der eleganten Schrift, formuliert in perfektem Englisch, und wartete, dass die Tinte trocknete. Er erhitzte den Siegellack und drückte, nachdem Schriftrolle und Lack vorbereitet waren, seinen Ring mit dem Wappen seiner Vorväter hinein.
»Schick noch heute einen Burschen los und lass dieses Schriftstück überbringen. Wer weiß, wie sehr es die nächsten Tage noch schneit. Das würde das Reiten nur erschweren.«
»Ja, Herr.« Sebastian nahm den Gegenstand an sich und eilte zu den Ställen, wo die Burschen sich aufhielten, die Aufträge für den Grafen erledigten, sofern sie nicht gerade die Tiere versorgten. Einzig und allein für Botengänge besaßen sie sogar kostbare Gehröcke, um einen guten Eindruck zu machen. Andererseits sahen sie auch sonst nicht wie dreckige Lumpen aus.
Der Diener rief einen der Stallburschen zu sich herüber, der augenscheinlich gerade eine Pause machte und mit einem Becher Wasser an einer der Pferdeboxen lehnte. Diesem hielt er die Schriftrolle hin und nannte ihm das Ziel.
»Eil' dich, dann bist du noch vor Einbruch der Nacht wieder hier«, mahnte der Kammerdiener den Jungen, der gerade die Siebzehn überschritten hatte. Der Bursche, Dimitri, blickte Sebastian etwas ungläubig an, da es bereits dämmerte, doch andererseits war das Jagdschloss des Grafen Lugosy, der dieses oftmals an wohlhabende Reisende vermietete, nur einige Meilen die Bistritz runter. Dimitri nahm die Rolle und zog den waldgrünen Gehrock aus gutem Stoff über sein sauberes Hemd, das nach Heu duftete. Dem Geruch des Jungen nach hatte er vor gar nicht allzu langer Zeit ein Bad genommen.
Sebastian holte indes eines der guten Pferde aus der Box. Sie waren schnell und trittsicher.
»Beeil' dich. Doch ohne Wagemut. Wir wollen weder dich noch das Tier in einer Gebirgsspalte verlieren, hast du verstanden?«
»Ja, Sebastian.« Dimitri schwang sich auf das tänzelnde Pferd und jagte aus dem Stall hinaus auf den leicht verschneiten Hof.
Der Diener strich einem der anderen, schnaubenden Pferde im Vorbeigehen sanft über die Nüstern und verließ den Stall wieder. Es war erstaunlich, dass Tiere ihn nicht fürchteten, wo es doch immer hieß, sie hätten eine Antenne für Schwingungen jeder Art.
In sich gekehrt betrat er die Bibliothek wieder, in der sein Herr ganz leger die Schuhe ausgezogen hatte und seine Füße dem Feuer entgegenstreckte. Offenbar war die Wanderung durch den Wald doch kälter gewesen, als er hatte zugeben wollen. Er wandte den Kopf zu seinem Diener.
»Ist das Schriftstück unterwegs?«
»Ja Herr. Dimitri bringt es. Sehr lange sollte es nicht dauern, das Jagdschloss ist ja nicht allzu weit entfernt.«
»Richtig ... Sebastian, ist es bereits an der Zeit, aus der Trauer zurückzukehren? Ist wirklich eine angemessene Zeit verstrichen?« Der junge Graf blickte in die Flammen und seine Augen hatten die Farbe des Feuers angenommen.
»Herr, diese Frage könnt Ihr Euch nur selbst beantworten. Wenn Ihr Euch noch nicht in der Verfassung fühlt, an fröhlichen Gesellschaften teilzunehmen ohne Eure Gemahlin, dann ist es Euer gutes Recht, diesen fernzubleiben. Wenn mir diese Aussage erlaubt ist.«
Viktor nickte. »Natürlich ist sie das. Du bist mein Vertrauter. Wer wäre ich, wenn ich dir deine Ehrlichkeit nicht zubilligen würde? Dann bräuchte ich niemanden, sondern könnte mit jedem beliebigen Speichellecker Vorlieb nehmen, der mir nach dem Bart schnattert.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
Sebastian schmunzelte. Sein Herr hatte in der Zeit seiner Trauer nur sehr wenig gesprochen und gerade Äußerungen und Bemerkungen, die humoristisch aufgefasst werden könnten, vermieden. Offenbar hatte er diese Phase überwunden, denn er schimpfte schon wieder wie vor der Typhus-Epidemie.
»Es ist nur so ... ich fühle mich noch immer sonderbar schuldig. Wie kann ich jetzt wieder auf Festlichkeiten gehen, gutes Essen genießen, Wein, Musik und den Frieden, der Gottlob im Land herrscht, während sie daliegen in der Kälte?«
»Die Schuld der Lebenden, mein Herr, die fühlt jeder von uns, der jemanden Liebes verloren hat. Ihr seid damit nicht allein. Doch es ist nicht richtig, deswegen Euer Leben aufzugeben. Ihr habt noch viele Jahre vor Euch, zu viele, um sie mit Trauer und Schuld zu belasten. Meint Ihr nicht?«
Graf Viktor schmunzelte und seine braunen Augen wanderten vom Feuer zu dem blassen Gesicht seines Leibdieners, der ihn schon kannte, als er selbst noch ein Junge gewesen war.
»So wie du etwas aufgegeben hast, mein Freund?«
Sebastian neigte den Kopf. »Ich habe verloren und ich habe gewonnen. Ich habe keinen Grund, zu klagen, Master.«
Der junge Mann betrachtete seinen Diener und vermutlich einzigen echten Freund auf der Welt noch einen Moment. Niemand würde ihm jemals ansehen, was er getan hatte. Selbst Viktor wusste nichts genaues, doch spürte schon lange, dass etwas mit Sebastian geschehen sein musste. Etwas, wegen dem er keinen einzigen Tag jammerte und lamentierte und auch sonst nicht darüber sprach. Er hatte sein Schicksal angenommen und sich abgefunden damit. Und er hatte Recht. Er, Viktor, hatte seine Familie verloren. Doch er selbst lebte. Es wäre eine Sünde, dieses Geschenk zu vergeuden, wenn er ebenso versuchen konnte, so intensiv zu leben, dass es auch für seine iubita und Gabriel gereicht hätte.
»Nun denn, Sebastian. Bis zum Ball des Lords sind es nur mehr zwei Wochen. Wollen wir sehen, dass ich eine gescheite Garderobe vorweisen kann. Lass' den Schneider rufen, wir wollen gleich anfangen!«