Als sein Hofmeister in der Eingangshalle ankündigte, dass er den Ball in einer Minute eröffnen würde, erwachte Hiram auf der Galerie wieder aus seiner Starre, die ihn gefangen gehalten hatte, seit der Graf das Schloss betreten hatte.
Eilig huschte er unbemerkt über eine hintere Treppe hinunter in den Küchentrakt, von wo aus man ungesehen in den Rittersaal gelangen konnte.
Vor einem Spiegel versuchte er, seinen etwas verrutschten, weit fallenden Mantel zu richten und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
Er hatte ein einnehmendes Wesen. Hatte er schon immer gehabt. Sie würden ihm aus der Hand fressen, ganz gewiss. Er warf seinem Spiegelbild ein Lächeln zu, das seine perfekten Zähne aufblitzen ließ und kicherte.
Wie die Lämmer waren sie gekommen, wie die Motten zum Licht. Dieser ganze Aufwand nur, um eine geeignete Person zu finden. Doch er hatte sie gefunden. Jetzt musste nur die Seele des jungen Mannes noch zu seinem exquisiten Äußeren passen, dann war es perfekt.
Seine guten Ohren verrieten ihm, dass alle Gäste sich im Saal versammelt hatten. Die letzten Dienstboten eilten an ihm vorbei, um sich bereitzustellen, das Essen zu servieren und der Kapellmeister pfiff im Nebenzimmer zum Rittersaal leise, um sich einzustimmen.
Hiram straffte ein letztes Mal die Schultern und öffnete die Tür, die in den großen Raum führte. Dieser war warm ob der ganzen atmenden Menschen darin, es roch nach Winterwald, Gewürzen und unterschwellig auch nach den menschlichen Ausdünstungen und schlechtem Parfum, was allerdings nur der Engländer wirklich wahrnahm. Zumindest noch. Bald würden es alle riechen, dass einige der Anwesenden Körperhygiene nicht sehr ernst nahmen.
Zufrieden blickte er in die Menge und konnte den schönen jungen Grafen zusammen mit seinem Butler am hinteren Ende des Saales in der Nähe der Fenster, neben einer Gruppe kichernder Backfische, ausmachen. Hiram grinste innerlich. Graf Viktor würde also das Beste zum Schluss sein. Wie erfreulich.
Er betrat das Podest und blickte auf die vielen fremden Gesichter hinab, die alle zu ihm sahen und ihn abschätzten. Er konnte förmlich hören, wie sie seine Kleidung analysierten, die Farbe seiner Haare, seiner Haut, dass er anders aussah als sie, dass er sicher einen Akzent haben würde beim Sprechen, dass er ein Fremder war, der versuchte, unter ihnen Fuß zu fassen.
Und doch beunruhigte ihn das nicht. Sie hatten Vorurteile gegen ihn wie er sie gegen sie hatte. Sicher auch noch immer hatte, auch wenn einige bereits entkräftet werden konnten.
Er räusperte sich diskret und begann mit lauter, klarer Stimme seine Begrüßungsrede. Er sprach spontan und von der Leber weg, weil er wusste, dass einstudierte Sachen nie gut ankamen. Und in der Tat lichteten sich die düsteren Gesichter vor ihm etwas, als er ihnen Speis, Trank und Musik in Aussicht stellte. Er gab dem Kapellmeister einen Wink und dieser begann, beschwingte Musik zu spielen, während Hiram das Podest wieder verließ und zielstrebig die ersten Gäste zu begrüßen begann.
Er hatte vor, einige Wochen zu bleiben und wollte es sich mit niemandem verscherzen. Unmöglich konnte er sich einen so bunten Topf voller Gelegenheiten, Abenteuer und Köstlichkeiten entgehen lassen. Während er jeden einzeln mit einem höflichen Handschlag begrüßte, nach den Namen fragte und sich diese gewissenhaft einprägte, überblickte er das Angebot. Viele der außerordentlich gut genährten Adligen hatten ganz entzückenden, blutjungen und wunderschönen Nachwuchs, mit gesunden Körpern und olivfarbener Haut. Er musste sich zusammennehmen, um sich beim Anblick dieser unberührten Appetithäppchen nicht gierig über die Lippen zu lecken.
Der Tisch war reich gedeckt und wenn er es geschickt anstellte, würde nie ein Fleck auf seine weiße Weste tropfen, egal, was er auch anstellte.
Amüsiert beobachtete er das Schauspiel der Jugend, die jungen Mädchen in Trauben, die kicherten, und die jungen Burschen, die diese Trauben umkreisten und schüchtern auf eine Gelegenheit warteten, diese zu durchbrechen, eines der Mädchen an der Hand zu nehmen und aufzufordern.
Hiram wusste, dass er mit den entzückenden jungen Männern eine etwas andere Art von Tanz aufführen würde, eine, die diese sich niemals erträumt hätten und von der sie auch leider nie jemandem würden erzählen können, da er nicht nur ein fordernder Tänzer, sondern auch ein tödlicher Liebhaber war.
Es dauerte nahezu eine Stunde, bis er mit der Begrüßung und dem Austauschen einiger Floskeln fertig war. Der junge Graf, das Ziel, das er zu erreichen versucht hatte, hatte indes in einem Sessel an den Fenstern Platz genommen und einen Teller auf dem Schoß. Sein Butler hatte ihn mit einer Auswahl der Speisen vom Buffet versorgt, die nun auf dem kleinen Beistelltisch standen. Hiram musste unwillkürlich schmunzeln.
Dieser Graf war Gast in seinem Haus und dennoch wirkte er, wie er da saß und elegant etwas von dem Schweinebraten verzehrte, mit dem distinguierten Butler, der an seiner Seite stand, als wäre er und nicht Hiram der Herr dieses Hauses. Das beeindruckte den Lord. Diese Präsenz, die von dem jungen Mann ausging, diese Aura des Unnahbaren, als würde er über den Dingen und über allen, die hier im Schloss zugegen waren, stehen. Er wirkte übergeordnet. Aber auch einsam. Denn es war auch ersichtlich, dass er nicht wirklich dazu gehörte.
Niemand hatte sich zu ihm gesellt, um ein Schwätzchen mit ihm zu halten, obwohl es genug Herren gab, die in Gruppen zusammenstanden und redeten, während ihre Gemahlinnen etwas zu sich nahmen. Er sprach nur mit seinem Butler.
Womöglich hielten die anderen Gäste Abstand von ihm, weil er einen Trauerfall erlitten hatte. Es sollte ja Menschen geben, die es als schlechtes Omen ansahen für ihr eigenes Leben, wenn sie mit jemandem in Kontakt gerieten, der den Tod erlebt hatte.
Umso besser für ihn selbst. Er hatte keine Angst vor dem Tod oder vor irgendwelchen bösen Omen. Bei ihm war es lange her, dass er aufgehört hatte, an solche Ammenmärchen und Geistergeschichten zu glauben, die die Priester leichtgläubigen Dorftrotteln erzählten, um sie davon abzuhalten, sich im Heu mit den Mädchen zu wälzen.
Je einsamer Graf Draganesti war, desto leichter konnte es werden, etwas über ihn zu erfahren, ihm näher zu kommen, seine Freundschaft zu gewinnen. Denn er musste wissen, ob der Verstand und die Seele zu dem gottgleichen Antlitz passten, das er trug. Wenn das nicht überein kam, war dieser Mann nichts weiter als eine perfekt anzusehende Hülle und Hirams Plan, seine Hoffnung auf etwas, das ihn am Leben hielt, war dahin.
»Ihr seid der Letzte, wie mir scheint, den es zu begrüßen gilt«, wandte sich der Engländer an Viktor und lächelte diesen an, deutlich freundlicher als all die anderen Gäste.
Der Graf ließ sich von Sebastian eine Stoffserviette geben, tupfte sich den Mund und die Finger ab und überreichte dann seinen Teller dem Butler, bevor er sich erhob. Hiram dachte unwillkürlich, dass er größer war als anfangs gedacht.
Viktor verneigte sich leicht und reichte dem Lord die Hand zum Gruß.
»Lord Sandringham, Viktor Draganesti, der Dritte. Fürst von Bistrien. Es freut mich, nun endlich ein Gesicht zu haben zu der mysteriösen Einladung. Wir haben nicht oft Fremde hier, die von so weit kommen.«
Hiram ergriff die Hand und verbeugte sich darüber. Graf Viktor war der Fürst der größten Region Transsilvaniens und das Schloss, in dem sie sich befanden, stand auf seinem Land. Alle anderen waren lediglich angereist.
Der Engländer richtete sich wieder auf und er bemerkte, dass sein Gegenüber wesentlich weniger streng roch als viele der schwergewichtigen Herren, die ihre Walrosskörper in zu enge Kleider gepresst hatten und nun schwitzten wie die Tiere. Im Gegenteil roch er nach Seife und etwas, dass an Blumen erinnerte. Aber Hiram konnte nicht sagen, ob das von seiner Kleidung selbst ausging, von seinen Haaren, die viele Menschen zu parfümieren pflegten, oder von seiner Haut.
»Ich entschuldige mich in aller Form für die gestiftete Verwirrung und hoffe auf Eure Vergebung«, lächelte der blonde Mann und grinste innerlich, als er Viktors Mundwinkel zucken sah.
»Das hängt vom Verlauf des Abends ab«, antwortete dieser, nahm wieder Platz und griff nach einem Kuchenteller. »Es wäre mir eine Freude, wenn Ihr mit mir essen würdet. Sebastian? Bringst du uns bitte noch etwas?«
Der Butler blickte Hiram auf eine Art an, die man nur als frech bezeichnen konnte. Es hatte etwas Abschätzendes, als wollte der Mann zuallererst ergründen, welche Absichten Hiram gegenüber seinem Herrn hatte. Doch schließlich nickte er und machte sich mit einem »Ja, Herr« auf den Weg, noch mehr Essen zu holen, während der Lord im Sessel neben Graf Viktor Platz nahm.
»Nehmt meinem Butler sein Misstrauen nicht übel. Er hat mich praktisch großgezogen.«
»Ah, nun gut. Darauf wäre ich angesichts seiner jugendlichen Erscheinung nicht gekommen. Doch solange er weiß, wo sein Platz ist, sei es ihm gestattet. Ich würde wohl auch ein besonderes Auge auf jemanden wie Euch haben.«
Viktors Augenbraue zuckte und das Schlucken fiel ihm einen Augenblick lang schwer, doch davon bekam Hiram nichts mit, da er gerade selbst einen Dienstboten geschickt hatte, auf dass er Wein brachte.
»Nun, Lord Sandringham. Was bringt einen Engländer aus dem kalten England in das noch kältere Rumänien?«
»Der Schnee? Wisst Ihr, in England ist es zwar kalt, aber nicht so, dass es viel schneit. Meist ist es ein Gemisch aus Schnee und Regen und überall ist es dann nass und matschig.«
»Also seid Ihr schon einmal nicht auf der Flucht...«
Hiram lachte und lehnte sich im Sessel zurück. »Wovor, meint Ihr, sollte ich fliehen? Höchstens vor der Verantwortung, die mein Name mit sich bringt. Aber das kümmert mich nicht.«
»Also gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr das 'Lord' nur zur Zierde tragt? Wäre es anders, gäbe es sicher Leute, die von Euch abhängig wären. Was es unmöglich machen würde, eine längere Reise zu unternehmen.«
»Ihr seid außerordentlich scharfsinnig. Und offenbar sehr direkt. Andere hätten es umschifft, dieses Thema. Aber ja, in der Tat. Der eigentliche Lord ist mein Bruder. Ich bin der Schandfleck, also darf ich machen, was ich möchte.«
Viktor schmunzelte und leckte sich dezent etwas Zuckerguss von den Fingern.
»Und es ist ja viel eleganter, als Lord irgendwo aufzutauchen. Aber gut, ich kann Euer Geheimnis bewahren.« Der junge Graf zwinkerte verschwörerisch und lächelte dann.
»Und ich bin sehr verbunden. Auch wenn dies im Grunde nicht nötig ist. Ich repräsentiere meinen Bruder und das Haus Sandringham auf Auslandsreisen, die, wie Ihr so richtig bemerkt habt, meinem Bruder wegen seiner Verpflichtungen nicht möglich sind. Auch weil seine Gemahlin ihn vermutlich nicht einmal für eine Woche weglassen würde, weil er gleich bei der nächsten Dirne landen würde.« Hiram lachte peinlich berührt. »Verzeiht, das wollt Ihr sicher nicht hören.«
Viktor winkte ab und nippte an dem Glas Wein, das neben den Tellern mit dem Essen auf dem Tischchen stand.
»Aber nein. Es ist amüsant. Erstaunlich, wie ähnlich die Skandale der Fürstenhäuser doch sind. Ähnliche Fälle könnte ich Euch auch von diesen Leuten hier erzählen. Man bekommt eindeutig zu viel Klatsch mit, selbst wenn man sich für sechs Monate aus der Gesellschaft zurückzieht.«
Sebastian kehrte mit einigen Tellern zurück und servierte diese an die beiden Männer, die wie alte Freunde zusammen in den Sesseln saßen und die anderen Gäste beobachteten, wie diese sich amüsierten, tanzten und lachten.
Selbst etwas essend, betrachtete der Butler ganz genau, wie Hiram seinen Herrn zu umschmeicheln versuchte. Dieser würde, sofern er es denn bemerkte, später sicher abstreiten, dass es so war, doch er genoss es. Nicht die Aufmerksamkeit an sich, sondern die Aufmerksamkeit, die ein attraktiver Mann ihm geschenkt hatte. Doch auf den Genuss würde wie immer die Reue folgen, das schlechte Gewissen, dass er dieser Sehnsucht nachgegeben hatte, die endlosen Gebete um Erlösung von seiner Schuld, um Entbindung von dieser Sünde, die wie ein Mal auf ihm lag, das niemand sehen konnte, doch was schwer auf ihm lastete.
Sebastian seufzte leise. Graf Viktor würde ohnehin nicht auf ihn hören.