Der blonde Engländer blickte dem jungen Grafen wohlwollend ins Gesicht. Wie jung er wirkte, wenn er ihn so fragend betrachtete. Wie vollkommen.
Ungeduld und eine lange nicht mehr gespürte Anspannung regte sich in ihm. Er wollte dieses makellose Gesicht, die Haut von der Farbe dunklen Marmors, berühren, und wenn er dafür seine Seele würde verkaufen müssen!
Hunger und ein Verlangen, das die Menschen seiner Zeit als widernatürlich betrachteten, tobte in ihm. Doch er ließ sich von dem Sturm im Inneren nichts anmerken.
»Ich würde mich freuen, Euch beim Dinner Gesellschaft zu leisten«, beantwortete er des Grafen Frage mit einem Lächeln.
»Dann sollten wir uns in den Salon zu einem Umtrunk begeben, der die Kälte aus den Knochen treibt.«
Gemeinsam traten sie dem Rückweg an und Viktor beantwortete frei heraus die Fragen, die Hiram über das Schloss und die Menschen stellte.
»Ist es Euch zeitweilig nicht zu einsam hier?«
»Einsam? Ich habe mehr Dienerschaft, als ich brauchen kann. Ständig schlichte ich irgendwelche Konflikte, von Streitereien über die Besitzrechte einer Decke bis hin zu Auseinandersetzungen zwischen zwei Männern, die um das gleiche Weib freien. Hier ist immer Tumult.«
»Und doch habt Ihr niemanden für geistreiche Konversation. Euren Leibdiener vielleicht einmal ausgenommen. Denn ich konnte auf meinem Ball sehen, dass Ihr trotz der Anwesenheit anderer lieber für Euch seid.«
Viktor nickte. »Ihr sagt es. Mir ist mehr an Ruhe gelegen. Gesellschaften, Bälle und Teepartien sind nicht meine Welt. Lieber ein Krug Wein und ein Buch oder meine Geige.«
Der junge Graf strich sich mit einem Ausdruck von Verlegenheit über die Augen. »Wie fürchterlich langweilig Ihr mich finden müsst«, lachte er.
Sandringham schmunzelte milde. »Mitnichten. Doch wenn mir die Unverfrorenheit gestattet ist, Ihr seid noch entschieden zu jung und zu attraktiv, um hier lebendig zu Stein zu werden. Ihr solltet nach Abenteuern streben, solange der Frieden und Euer Körper Euch das gestatten.«
»Abenteuer ... Ihr meint, romantischer Natur?«
»Unter anderem? Ihr seid ungebunden und sicher sehr gefragt ...«
Viktor zog die Brauen über den dunklen Augen zusammen. Gefragt mochte er ob seines Standes, seines Reichtums und nicht zuletzt wegen seines Aussehens sein. Und bereits jetzt, nicht ganz sechs Monate nach dem Verscheiden seiner Gemahlin, fingen einige in seinem Bekanntenkreis zu spekulieren an, ob, wann und wen er sich als neue Gräfin an seine Seite holen mochte. Auswahl an schönen jungen Bewerberinnen aus erstklassigem Hause gab es schließlich ausreichend.
Transsylvanien bot genug ausgezeichnete und vermögende Grafenfamilien. Und genaugenommen war es seine, Viktors, Pflicht, als Letzter einer der ältesten Familien, sich zu vermählen und Nachkommen zu schaffen. Er sah diese Verpflichtung jedoch bereits als erfüllt an. Es war Gottes Wille gewesen, ihm den Sohn und die Gefährtin zu nehmen und er war sich gewiss, dass er niemals wieder eine Gemahlin finden würde, die ihn nicht wegen seiner Neigungen und dem sündhaften Wunsch; diese nicht zu unterdrücken; hassen, verurteilen, vielleicht sogar anprangern würde. Er mochte ein Graf und ein mächtiger Fürst sein, doch für Gott und die Kirche zählte allein seine Sünde. Und niemals würde er riskieren, dass das Reich Kenntnis von seiner Verderbtheit erlangte!
»Ich denke, ich hätte kein sehr großes Interesse an bedeutungslosen Affären mit irgendwelchen Damen ...«, sagte er schließlich und gemeinsam betraten er und der Engländer das Schloss durch einen Seiteneingang. Der Korridor dahinter war nur spärlich durch das wenige winterliche Tageslicht erhellt. Hiram streifte im Hineintreten Viktors Arm und seine Stimme war leise, schmeichelnd, fast wie das Schnurren einer großen Katze, als er sprach: »Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, heißt es. Und verbotene Früchte schmecken süßer. Ich lebe nach der Devise, dass alles erlaubt ist, wenn beide einverstanden sind. Und das schließt mit ein, dass man als Mann nicht einzig auf Frauen festgelegt sein muss. Erlaubt ist, was Lust macht, Graf Draganesti.«
Der Engländer bewegte sich etwas weiter in den Gang hinein, während Viktor die Tür zuzog.
Er war benommen und fühlte sich schwindelig. Wann immer jemand etwas laut aussprach, an das Viktor nicht einmal zu denken wagte, schlug sein Herz fester gegen seine Brust und raubte ihm den Atem. War Lord Sandringham seiner Neigung auf die Schliche gekommen? Hatte er, Viktor, seine Abneigung gegenüber dem ehelichen Beischlaf zu deutlich gezeigt?
Abschätzend und gleichzeitig hoffend, dass seine Wangen nicht zu stark errötet waren ob der in ihm tobenden Erregung, wandte er sich wieder seinem Besucher zu.
»Ihr sagt also, Ihr billigt von der kirchlichen Lehre, von der Natur, abweichendes Beischlafverhalten ?«, erkundigte er sich, hoffend darauf, dass sein Ton plauderhaft wirkte.
»Oh Himmel, ja. Würden die Menschen sich an all das halten, was Pfaffen und Priester ihnen vorschreiben, würde die Menschheit aussterben. Selbstkasteiung, Enthaltsamkeit und das Verurteilen eines Liebesaktes abweichend von dem, was man uns lehrt, hat noch niemandem das Himmelreich beschert. Bringe ich einen Mann um, weil ich sein Geld oder seinen Besitz begehre, dann ist es eine Sünde, ja. Doch küsse ich ihn, weil ich ihn liebe und ihm nahe sein will ... sagt mir, Graf, wie kann Liebe Sünde sein?«
»Glaubt Ihr wirklich daran oder sucht Ihr nur einen Weg, ein Thema für eine Diskussion zu finden?«
»Ich sage es, weil ich es meine.«
»Dann seid Ihr ... sehr frei in Eurem Denken.« Graf Viktor murmelte diese Worte undeutlich und Hiram verdankte nur seinen guten Ohren, dass er ihn überhaupt verstand. Offenbar hatte er da bei dem jungen Bojaren einen wunden Punkt getroffen. In dem Engländer wuchs zunehmend die Gewissheit, sich mit Viktor den Richtigen ausgewählt zu haben. Er würde nicht nur die Zeit mit ihm überdauern können, sondern auch sein Bett teilen. Nicht durch Suggestion oder Pflichtgefühl, sondern aus seiner eigenen, scheinbar schamhaft unterdrückten Neigung heraus. Graf Viktor liebte und begehrte Männer. Und Hiram war nur zu gern bereit, dieses Bedürfnis in ihm zu befriedigen. Bis in alle Ewigkeit.
Sebastian, der Leibdiener und Privatsekretär des Grafen, deckte umsichtig die Tafel für seinen Herrn, da das Abendessen in Kürze serviert werden könnte. Vorausschauend wie er war und weil er Graf Viktor kannte, hatte er auch ein zweites Gedeck aufgelegt für den Gast, diesen unverschämten Engländer, dessen blaue Augen Sebastians Herrn schlaflose Nächte und einen Selbstmordversuch eingebracht hatten. Zahllose Tränen und eine gehörige Portion Selbsthass noch dazu, für die Sünde, diesen Mann als anziehend empfunden zu haben.
Sebastian hätte erwartet, dass sein Herr den Kontakt zu dem fremden Edelmann begrenzt halten würde. Andererseits war Graf Viktor erst wieder in die Gesellschaft zurückgekehrt. Sich nun brüsk einem Neuankömmling zu verweigern, hätte die anderen Bojaren beschämen können. Mit negativen Folgen für Bündnisse und Geschäfte.
Sebastian hoffte nur, dass die unverschämte Schäkerei des Engländers seinem Herrn nicht etwas vorgaukelte, was diesen verletzten könnte. Durch den Tod von Gräfin Julieta hatte Graf Viktor seinen Rettungsanker verloren, der ihn abgehalten hatte, etwas Dummes zu tun. Der Butler befürchtete, dass ein weiterer Schlag in die labilen Gefühle seines Herrn, diesen dazu antreiben könnte, das nächste Mal nicht auf Sebastian zu hören und tatsächlich zu springen.
Doch daran wollte dieser nicht einmal denken! Er hatte seinem Gönner, dem alten Grafen Draganesti, geschworen, stets auf dessen einzigen Sohn achtzugeben. Er hatte Viktor aufwachsen sehen, das Leid seiner fehlgeleiteten Neigung mit ihm ertragen und alle Schicksalsschläge, die Gott ihn hatte erdulden lassen. Er würde nicht zulassen, dass ein Fremder von weit her seinem Herrn, der bisher alles hatte ertragen können, verletzte und vielleicht am Ende in den Selbstmord trieb. Auch wenn der Engländer von dieser Sache gar nichts wissen konnte und sicher auch keine solche Absicht verfolgte.
Etwas rauer als angedacht stellte er die Teller aus kostbarem Porzellan auf den Tisch, als die Tür zum Esszimmer geöffnet wurde.
Wie als hätte er sie herbei gewünscht, betraten Graf Viktor und der unsägliche Lord Sandringham das Zimmer.
»Oh, wie ich sehe, hast du einmal mehr geahnt, um was ich dich anhalten wollte, Sebastian.«
Der Angesprochene nickte und verneigte sich formvollendet vor den zwei Männern
»Bitte, nehmt doch schon einmal Platz. Ich sage den Mädchen, dass sie dann auftragen können.«
Der Diener half erst dem Gast mit seinem sperrigen, aber bequemen Stuhl und anschließend dem Grafen.
»Darf ich etwas Bestimmtes an Getränken bringen, Herr?«
Viktor schmunzelte über Sebastians Eigenart, besondere Etikette zu zeigen, wenn Gäste anwesend waren. Erst recht dann, wenn diese ihm unsympathisch waren. Waren Herr und Diener allein, ging es wesentlich zwangloser zu und er erlaubte sich auch das eine oder andere Lachen oder einen Scherz.
Sebastian hatte Lord Sandringham ganz offensichtlich - zumindest für Viktor - noch nicht vergeben, dass er diesen, ohne sein Wissen, in die Verzweiflung getrieben hatte in der Nacht nach dem Ball.
Dem Grafen war der weniger förmliche Sebastian lieber, den er erlebte, wenn niemand weiter anwesend war. Der, den er bereits fast sein ganzes Leben lang kannte.
»Bring' bitte etwas Tee. Es ist sehr kalt draußen. Und Milch. Und Wein natürlich. Oder wünscht Ihr etwas anderes, Lord?«
Dieser hob bescheiden die Hände. »Die Einladung zum Essen ist schon der Gastfreundschaft zu viel. Doch wenn es gestattet ist, wäre denn Bier zu haben?«
Sebastian nickte höflich. »Ich lasse die Mädchen servieren.« Mit diesen Worten verließ er das Esszimmer, atmete vor der Tür einmal tief durch und tat seine Arbeit.
»Interessanter Mann, Euer Leibdiener.«
Viktor schmunzelte. »Viel mehr als Ihr glauben würdet.«
Hiram legte ein lausbubenhaftes Lächeln auf, das der Graf erst verständnislos betrachtete und schließlich bis zum Haaransatz erröten ließ.
»Bei Gott, doch nicht auf diese Art!«, keuchte er zutiefst verlegen und der Engländer lachte.
»Für Eure Gedanken bin ich nicht verantwortlich.«
»Und ob!«, presste Viktor hervor, der unter der milchkaffeefarbenen Haut noch immer die Hitze der Verlegenheit spüren konnte.
Sandringham betrachtete Viktor aufmerksam und kam nicht umhin, daran zu denken, dass sich die Wangen des Grafen vermutlich ebenso köstlich röteten, nachdem er die Freuden des Liebesspiels genossen hatte. Die Anspannung, die er bereits am Nachmittag gespürt hatte, brach wieder durch und der Engländer seufzte leise.
Viktor, der mit seiner Verlegenheit kämpfte, bemerkte Hirams genaue Musterung kaum.
»Verzeiht mir meine Neckereien. Ich sollte sie unterlassen. Es ist unschicklich und ziemt sich nicht angesichts der Tatsache, dass wir einander kaum kennen ...«
»Ich sollte dem wohl zustimmen. Und doch fühlt es sich gut an, fernab der Trauer einmal wieder so etwas Lebendiges wie Verlegenheit zu spüren.«
»Auch wenn dies immer wieder auf zotige Art und Weise Eure Neigungen infrage stellt?«
Der junge Adlige blickte auf seinen Gast, musterte ihn und dachte einmal mehr, wie außergewöhnlich attraktiv er war mit seiner ebenmäßigen Haut, dem breiten, sinnlichen Mund, den hohen und ausgeprägten Wangenknochen und den meeresblauen Augen.
»Ich schätze, was meine Neigungen betrifft, steht für Euch angesichts meiner offensichtlichen Verlegenheit nichts mehr in Frage, sondern ist ... nun, offensichtlich. So scharfsinnig, wie ich Euch einschätze, ist es für Euch längst klar.« Der Graf räusperte sich. »Es besteht für Euch natürlich keinerlei Verpflichtung und doch bitte ich Euch um Vertraulichkeit ...« Demütig senkte er den Blick auf seine Hände. Sie waren verschwitzt.
Hiram lächelte warm. »Erlaubt ist, was Lust macht. Wie ich sagte. Welches Recht habe ausgerechnet ich, der ich selbst verdorben genug bin, über Euch zu richten?«
»Aber ...«
»Gebt es auf, Graf. Von mir erhaltet Ihr keine Verachtung. Christus sagt, wer frei von Sünde sei, der möge den ersten Stein werfen. Ich bin nicht frei davon. Im Gegenteil. Ich habe gesündigt. Schwerer als Ihr, dessen bin ich sicher. Und auch auf die Art, von der Ihr glaubt, dass Ihr dafür nur Verachtung verdient hättet ...«
Viktor hob den Kopf verwundert, worauf der Engländer ihm verschwörerisch zuzwinkerte.
»Ihr seid nicht der Einzige, der die Gesellschaft von Männern auch im Schlafgemach vorzieht. Was meint ihr, warum rede ich so abfällig von meiner Gemahlin, die körperlich betrachtet einiges zu bieten hat für den, der dies mag? Und dennoch würde ich stets einen feingliedrigen Burschen ihren derben Reizen vorziehen.«
Graf Viktors Wangen röteten sich erneut vor Verlegenheit, Aufregung, Spannung, aber auch Sorge. Lord Sandringham sprach frei von der Leber weg über etwas, das ihnen Schandkragen und Pranger einbringen konnte, bis hin zum Galgen, wenn es jemand mitbekam.
Der Engländer lachte mit einem Glucksen. »Ein erfreulicher Zufall, in dieser rauen Wildnis auf einen Gleichgesinnten zu treffen. Hätten wir Wein, ich würde einen Trinkspruch darauf anbringen.«
In der nächsten Sekunde öffnete sich die Tür und die Bediensteten begannen, das Abendessen - Fasan, Schweinebraten, gekochtes Gemüse, Brot und einen Eintopf - aufzutragen. Sebastian servierte den Herrschaften Tee, Milch und stellte einen Krug mit schäumendem Bier vor Lord Sandringham ab.
»Vielen Dank«, nickte dieser mit einem feinen Lächeln.
»Mein Herr, das Schneetreiben hat sich deutlich verstärkt. Es ist nicht abzusehen, dass es aufhört. Die Straße wird unpassierbar sein heute Nacht.«
Viktor nippte an dem Kelch mit Glühwein, den Sebastian gebracht hatte. Das Getränk war mit Nelken und orientalischem Zimt gewürzt.
Lord Sandringham machte angesichts der Worte des Leibdieners ein bestürztes Gesicht, doch der Graf winkte ab.
»Richte unserem Gast ein Zimmer her, vorsorglich, und sorge dafür, dass sowohl sein Kutscher ein Bett für die Nacht erhält, als auch seine Pferde untergestellt werden. Es ist ja nicht so, als hätten wir keinen Platz.«
»Ja, mein Herr.« Sebastian verneigte sich und eilte, seine Arbeit zu verrichten, während der junge Graf seinen Gast dazu aufforderte, reichlich zuzugreifen.