Einige Zeit war vergangen seit ihrem überstürzten Aufbruch aus Aspura. Zu ihrem Glück hatten sie das Gespräch zwischen dem Gesandten des Kaisers und dem Hauptmann der Roten Sonne mitgehört und wussten, dass er in die Hauptstadt zurückbeordert worden war. Dies ließ nur eine logische Richtung zu: die Entgegengesetzte. Um eine falsche Fährte zu legen, waren sie erst ein Stück nach Nordosten geritten und somit praktisch parallel zu Haupthandelsroute, die sich durch das Land zog, nur um dann wenige Wegstunden später einen etwas unbekannteren Schmugglerpfad zurück in Richtung Süden einzuschlagen. Eigentlich waren sie fast dabei im Kreis zu reiten und wenn Killian ehrlich war, hatte er es schon lange Jaroth überlassen, einen vernünftigen Weg zu finden. Als er seinen Freund bei einer kurzen Rast darauf ansprach, lachte dieser nur und offenbarte ihm, dass er selbst keine Ahnung hatte, wohin sie genau unterwegs waren.
Natürlich war es daraufhin zum Streit gekommen, bis Jaroth erklärte: »Ist doch ganz logisch Killian. Wenn wir selbst nicht wissen wohin wir reiten, woher sollte es dann die Rote Sonne erfahren? Abgesehen davon, suchen wir immer in allen Himmelsrichtungen nach den Deziras. Keiner weiß genau, wo sie zu finden sind. Es ist also völlig egal wohin wir reiten, solange wir nicht in die Nähe der Hauptstadt geraten.«
Killian hatte geflucht und die Klappe gehalten. Wer konnte schon gegen so bescheuerte, aber in ihrer verdrehten Art logische, Argumente ankommen. Den Rest des Tages redeten sie nur das Nötigste miteinander.
Nach ungefähr zwei Wochen ohne festes Ziel beschlossen sie, dass es Zeit war vernünftige Pläne zu schmieden und vor allem ein paar Tage nicht auf dem Rücken der Pferde zu verbringen. Beide waren keine schlechten Reiter, trotzdem begannen ihre Körper die ungewohnte Belastung von vielen Stunden im Sattel langsam mit allerlei Verspannungen und Schmerzen zu quittieren. Als die Sonne dabei war unterzugehen, erreichten sie eine kleine Anhöhe, von der aus ein Dorf und ein großzügiger See im Tal zu sehen war. Die Straße auf der sie sich befanden, führte genau dorthin. Die Abendsonne hinterließ malerische Farben auf der Wasseroberfläche und ließ Killian innehalten.
»Ein schöner Anblick oder?«
Jaroth zügelte seinen Rappen neben ihm und sah ebenfalls in die Richtung des Sonnenuntergangs.
»Ja, aber noch schöner ist es, dass wir eine etwas größere Siedlung gefunden haben. Wir brauchen Vorräte und ich habe nichts gegen eine Nacht in einem Bett.«
Killian seufzte und streichelte seinem Pferd sanft über den Hals. »Shion du verstehst mich oder? Du bist nicht so ein fieser Eisklotz ohne Sinn für Romantik.«
Die braune Stute schnaufte zustimmend und neigte ihren Kopf den Streicheleinheiten entgegen. Jaroth grinste zu den beiden hinüber.
»Wenn du ihr sagen würdest, dass auch ihre Lieblingsäpfel fast alle sind, würde sie mir zustimmen.«
Killian streckte ihm die Zunge heraus und es fühlte sich wieder an, als wären sie Kinder. Manchmal vergaß er, wie viel sie schon erlebt hatten, und wie lange sie sich schon kannten. Ihr Blick ging meistens in ihre Zukunft, nicht die Vergangenheit.
»Dann lass uns versuchen einen Platz für die Nacht zu ergattern, denn was das Bett angeht, bin ich ganz deiner Meinung.«
Seite an Seite ritten sie ins Tal hinab und durch das noch geöffnete Tor des leichten Palisadenzauns. Es war offensichtlich, dass sich die Einwohner damit lediglich gegen wilde Tiere sichern wollten und nicht gegen Armeen oder andere Angreifer, denn Menschen hätte das Gebilde nicht aufgehalten. Einige Bewohner nickten ihnen zu, andere sahen argwöhnisch zu ihnen hinauf. Es war wie in ihrem Dorf. Durchreisende waren nichts Ungewöhnliches, aber trotzdem wurden sie aufmerksam in Augenschein genommen und mit Sicherheit, hatte man auch bereits den ein oder anderen informiert, der sie im Auge behielt. Als sie die Dorfmitte erreichten und damit auch den Gebetsplatz und die Versammlungshalle, die das Herz jedes Ortes bildeten, erspähten sie einen der Priester. Wenn der Geruch nach Wasser und Fisch nicht gewesen wäre, hätte es genauso gut Aspura sein können. Höflich grüßten die beiden jungen Männer den Geistlichen und ließen sich den Weg zum nächsten Wirtshaus weisen. Überraschenderweise, hatten sie sogar Auswahl, aber der Priester riet ihnen eindringlich dazu, lieber das »Haus am See« zu wählen, und so ritten sie in die angegebene Richtung.
»Weißt du was ich glaube?« fragte Killian, als sie den Geistlichen etwas hinter sich gelassen hatten. »Das andere Gasthaus, das er uns so vehement ausgeredet hat, ist bestimmt ein Bordell. Er ist beinahe rot geworden, als er uns erzählte, dass das Essen dort nicht sehr gut sei und die Gäste selten länger als ein paar Stunden bleiben.« Killian musste schmunzeln.
»Ob die Damen und Herren hier überhaupt genug verdienen, es wirkt nicht als kämen hier oft Reisende vorbei, aber der erste Eindruck kann auch täuschen.«
Jaroth grinste breit. »Ich glaube, du könntest recht haben. Da wir nicht genau wissen wo wir sind, könnten wir auch am eher südlichen Teil der Handelsroute sein oder an einer der Verbindungsstraßen, zwischen den größeren Städten. Eigentlich glaube ich sogar, dass wir uns nicht mehr im Kaiserreich befinden, sondern bereits irgendwo über die Grenzen zum Königreich geritten sind.«
»Hm, seit dem Krieg ist ja einige Zeit vergangen und der Frieden hält. Es gibt ja auch im Grunde keine Reisebeschränkungen mehr seit dem Fiasko mit dem Geld. Das wäre sehr gut möglich. Wir haben uns bisher auf unseren Reisen immer mehr nach Norden und die Berge orientiert, als weit nach Süden. Die Geschichten ließen bisher nie darauf schließen, dass es sie hier unten auch gegeben hat. Vorausgesetzt wir sind im Süden.« Killian konnte nicht anders als diese kleine Spitze gegen die Orientierungsfähigkeiten seines Freundes zu schießen.
»Malik hat uns nicht gefunden oder? Also ist es ein Erfolg.«
Sie folgten der Beschreibung des Priesters und gelangten über einige engere Gassen ans Ufer des Sees. Es war nun fast dunkel, aber die Laternen, die vor dem großen Gebäude hingen, wiesen ihnen den Weg. Das Gasthaus war beeindruckend. Der hintere Teil, teilweise mit einer Stallung, stand auf festen Boden, der Großteil jedoch ragte in den See hinein und war auf Pfählen erbaut. Es hatte zwei Etagen und war größer, als man es in so einem Ort erwarten konnte. Der Stall war von Land aus zu erreichen und ebenerdig, während man auf die Terrasse die zum Eingang führte, nur über eine Treppenkonstruktion kam. Es war wunderschön.
»Wir sollten als Erstes die Pferde unterbringen, so vornehm wie das hier aussieht, haben sie sicher einen Stalljungen. Ich befürchte allerdings auch, dass wir uns das nicht lange werden leisten können. Es sieht kostspielig aus.«
Jaroth streichelte Taiga, seinem Rappen, beruhigend über den Hals, während sie die Uferböschung hinauf ritten. Killian konnte recht haben mit seiner Befürchtung. Aber wenigstens eine Nacht mussten sie sich gönnen. Nicht nur für ihre geschundenen Hintern oder ihre Pferde, sondern auch weil sie wissen mussten, wohin es sie verschlagen hatte.
Wie vermutet bei dieser Art Unterkunft trafen die beiden Freunde einen Stalljungen an, der die Tiere entgegennahm und gerade genug Fragen stellte, um ihnen das Gefühl zu geben, die beiden Pferde in guter Pflege zurückzulassen. Nachdem sie sicher sein konnten, dass vor allem Shion ein paar Äpfel abbekommen hatte, machten sie sich mit ihren Satteltaschen über den Armen auf den Weg in die Gaststube.
»Kommt es dir auch so vor, als würde der Boden sich bewegen und leicht schwanken?« fragte Killian irritiert.
Jaroth nickte langsam, auch er konnte es spüren und er war nicht sicher, wie er das finden sollte. Sie hatten einmal versucht in einem Boot einen See zu überqueren und es hatte keine fünf Minuten gedauert, bevor er grün im Gesicht über der Reling gehangen hatte.
Als sie das Gasthaus betraten, kamen ihnen die typischen Gerüche nach Essen, Alkohol und Menschen entgegen. Doch anders, als in so manchen Spelunken in denen sie sonst übernachtet hatten, roch es trotz allem irgendwie sauber. Anders konnte man es nicht beschreiben. Der Gastraum war nicht so groß, aber aus dem gleichen hellen Holz wie die Pfähle draußen. An den Wänden des rechteckigen Raumes waren die Tische in kleinen Alkoven angeordnet, so das man sich ungestört dorthin zurückziehen konnte. Wer es öffentlicher mochte, konnte an den drei Tischen in der Raummitte sitzen. An der dem Eingang entgegengesetzen Wand befand sich die Theke, rechts davon eine Treppe nach oben und links davon eine Tür, die wahrscheinlich in die Küche führte. Das »Haus am See« mochte nicht den kreativsten Namen tragen, aber es machte einen guten Eindruck.
An diesem Abend waren einige Tische besetzt, die meisten mit Paaren, die sich in das halbdunkel der Alkoven zurückgezogen hatten. Aber die wenigsten nahmen Notiz von den beiden jungen Männern, die nach einigen im freien verbrachten Nächten nicht so aussahen, als würden sie hierher passen. Ohne Hast gingen die beiden auf die Theke zu und wurden sofort von einem etwas steifen, älteren Herrn in Empfang genommen.
»Guten Abend die Herren, ich sehe sie haben Satteltaschen als Gepäck. Darf ich davon ausgehen, sie haben ihre Pferde bereits bei Ann abgegeben und möchten nun ein Zimmer?« Die Stimme des Dunkelhaarigen war tief und klang gelangweilt. Falls er der Besitzer war, schien er seiner Arbeit nicht mehr mit sehr viel Eifer nachzugehen. Jaroth legte den Kopf schief und nickte nur langsam.
»Wenn Ann der Stalljunge ist, dann habt ihr richtig geraten. Wir haben zwei Pferde dabei und nehmen gerne ein Doppelzimmer. Aber dürfen wir fragen, wie viel es uns kosten würde?« Den letzten Teil hatte er etwas leiser gefragt. Sie waren nicht arm, aber sie konnten auch keine Unsummen für eine Nacht ausgeben.
»Ann«, begann der Mann hochnäsig, »ist unser Stallmädchen, kein Junge. Es soll ja auch Mädchen geben, die sich für Pferde interessieren.«
»Wir meinten das sicher nicht als Beleidigung, wir haben es nur nicht gesehen.« Mit einem entschuldigenden und entwaffnenden Lächeln sah Killian zu dem mürrischen Mann. Jaroth war immer wieder verblüfft, wie gut er Leute umgarnen konnte, besonders Männer.
»Ja nun. Die Zimmer sind oben, das Bad befindet sich für den ganzen Stock am Ende des Flurs.« Mit einem Stift kritzelte er Zahlen auf einen Zettel, scheinbar rechnete er die Posten zusammen.
»Mit Essen sind wir für eine Nacht bei diesem Preis.«
Langsam schob er Killian und Jaroth diskret den Beleg über die Theke. Beide sahen sich an und es war, als würden sie eine stille Unterhaltung führen. Es war nicht billig, aber für ein oder zwei Nächte konnten sie es sich sicherlich leisten.
»Zwei Nächte, wenn ihr ein Zimmer habt,« entschied Killian.
Kurz danach hatten sie einen Schlüssel mehr, Münzen im Geldbeutel weniger und das Versprechen, das ihnen bald Essen hoch, in den ersten Stock wo die Zimmer lagen, gebracht werden würde. Keinem der beiden war nach Gesellschaft zumute. Sie hatten Dinge zu besprechen.