Warum beginnen traurige Geschichten immer mit einem wolkenverhangenen Himmel, schwarzen unheilvollen Wolken und einem Regenschauer? Weiß das Universum oder der scheinbar allmächtige Kaiser, dass jemand gestorben ist, dass man etwas verloren hat oder verlassen wurde? Irgendjemand schien es jedenfalls zu ahnen und schickte auch Killian am Grab seiner Großeltern erneut regnerisches Wetter. Eingewickelt in seinen hellen bodenlangen Mantel ließ er zwei weiße Lilien auf die letzte Ruhestätte der beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben fallen. Er tat das jedes Jahr.
Seine Großeltern waren kurz nacheinander verstorben, als hätte sie es nicht ohne den anderen aushalten können. Eigentlich eine romantische Vorstellung, doch wenn man ehrlich war, dann waren sie einfach alt gewesen. Killian, mittlerweile 22 Jahre alt, stand schon lange auf eigenen Beinen. Aus dem Jungen, der einem Märchen lauschte, war ein Mann geworden. Stattlich, aufmerksam und mit dunkelbraunen langen Haaren, die ihm bis zum Steiß den Rücken hinab fielen. Sicherlich etwas exzentrisch für die momentane Mode. Allerdings waren viele jungen Frauen der Kleinstadt neidisch. Sie beneideten ihn so sehr um seine Haarpracht, dass sie sich sogar Rat für die neuesten Flechtfrisuren suchten, auch das Geheimnis seiner Haarpflege versuchten die aufdringlichen Weiber herauszubekommen. Meisten vergeblich.
In Aspura, seiner Heimatstadt war er eine kleine Berühmtheit und das nicht nur aus positiven Gründen. Viele hielten ihn für einen Spinner und es wurde gemunkelt, er wäre genauso ein Tagträumer wie es sein Großvater gewesen war. Aus dem Märchen der Wünsche, war sein Alltag geworden, gewissermaßen. Heute gedachte er dessen Todestag und der Verlust wurde ihm nur allzu bewusst. Viele hielten ihn für verrückt, in die Fußstapfen des alten Glücksritters zu treten. Aber er hatte die Hoffnung niemals aufgegeben.
Killian war tief in Gedanken versunken, als er eine leise Melodie vernahm. Der helle Klang einer Flöte wehte über die alten und neuen Gräber und schien keinen Unterschied, zwischen den Lebenden und den Toten zu machen. Ob noch jemand anders, die feinen Klängen wahrnahm? Von der Straße aus konnte man fast nichts von dem Gelände einsehen, eine hohe Hecke und alte große Bäume gaben den hier ruhenden Seelen und ihren Besuchern die nötige Privatsphäre. Lediglich die kleinen runden Steine zeigten an, wer wo seinen ewigen Platz gefunden hatte. Der Rest des Friedhofs war von Blumen, Büschen und Gras überwuchert.
Killian brauchte nicht lange zu raten, um herauszufinden, wer ihn störte. Dafür kannten sie sich schon zu viele Jahre und er wusste ebenso gut, was von ihm erwartet wurde. Die Hände zu Fäusten geballt und leise schnaubend wandte er seinen Blick von dem Grab seiner Familie ab und sah sich um. Lauschend folgt er der Melodie, die irgendwie von überall zu kommen schien.
»Wie ich es hasse! Ich bin keine Ratte, also warum steige ich überhaupt darauf ein?«
Sein Gemurmel war nur wenige Schritte weit zu hören gewesen, doch kurz verstummte der liebliche Klang der Querflöte und ein leises Lachen wurde mit dem Wind heran getragen. Mit wehenden Haaren und knatternden Mantel begann Killian zu rennen, die Melodie zu jagen und dies, obwohl er wusste, das er keine Chance hatte. Er konnte die Macht spüren, die von der Melodie ausging. Selbst wenn er gewollt hätte, er konnte sich nicht wehren, dafür war es zu spät. Die Klänge der Flöte, waren blanker Hohn in seinen Ohren.
Killian kannte das Gelände gut, eigentlich wie jede Ecke in seinem Heimatdorf. Sehr groß war es ja nicht und so wusste er, wo er nach ihm suchen musste. Trotzdem konnte er an der nächsten höheren Hecke, gerade noch einem langen Bein ausweichen, welches ihn mit großer Sicherheit zu Fall gebracht hätte. Mit einer schnellen Hechtrolle flog er ein Stück gerade aus, schlitterte einen Moment über den matschigen Boden und stand sofort wieder auf den Beinen. In solchen Momenten kam ihm sein trainierter Körper zu Gute. Er war sicherlich kein Muskelmann, aber für seine Größe auch alles andere als dürr. Killian sorgte regelmäßig dafür, dass er nicht aus der Form geriet und sich auch im Kampf behaupten konnte. Momentan herrschte Frieden, doch man wusste nie, ob man nicht doch einmal überfallen oder eingezogen wurde.
»Wenn mein Mantel auch nur einen Fleck hat Jaroth, dann mach ich dir einen Knoten in deine Querflöte. Hat man niemals seine Ruhe?«
Die Antwort war ein Lachen und ein triumphierender Tusch auf der Flöte. An einen alten, fast abgestorbenen Baum gelehnt, ein Bein lässig angewinkelt, stand sein Kindheitsfreund. Jaroth war fast so groß wie Killian selbst, aber sah weniger männlich aus. Sein Körperbau glich einem Tänzer, sanft und sinnlich. Jedenfalls beschrieben die jungen Mädchen, die ihn anhimmelten mit diesen Worten und davon gab es reichlich. Seine Haare waren so blond, dass sie fast weiß erschienen, und reichten ihm bis zur Mitte des Rückens, seine Augen waren dafür dunkelbraun, im richtigen Licht fast schwarz.
»Ich bin sehr zufrieden mit mir. Schließlich habe ich dich wieder mal dran gekriegt. Verrückt wie sehr du auf diese Melodie anspringst. Du wirst immer sofort wütend, ein gelungenes Experiment!« Jaroths tiefe Stimme war die Belustigung deutlich anzuhören und die aufgeplusterten Wangen und das Schmollen Killians, lies ihn erst recht laut lachen. Der Schwarzhaarige atmete tief durch. Sein Freund hatte recht, er hatte genau das richtige Musikstück gewählt, um ihn zu locken. Das Lied war das Erste gewesen, dass Jaroth damals gelernt hatte und für ihn gespielt hatte, um ihn aufzumuntern. Irgendwann, hatte er es dafür benutzt ihn nur noch zu ärgern, war ihm durch das halbe Dorf gefolgt und ihn damit gequält, wenn er seine Ruhe haben wollte.
»Nun schau nicht so Killian, dafür koche ich heute Abend. Was meinst du?«
Auf dem Heimweg redeten sie kein Wort miteinander. Jaroth trug ein selbstgefälliges Grinsen zur Schau, Killian eine mürrische Miene. Er war in Gedanken und fragte sich wie so oft, warum er ihn eigentlich ertrug. Sein Freund war eingebildet, angeberisch und manchmal geradezu selbstsüchtig. Trotzdem konnte er sich nicht vorstellen, wie es sein würde wieder allein zu leben.
Nach dem Tod seiner Großeltern vor fünf Jahren, hatte er das Haus umgebaut und zu seinem eigenen gemacht. Die Kochstelle und der Kamin waren natürlich geblieben, aber er hatte sich endlich ein eigenes Zimmer einrichten können, nachdem er sonst in der Wohnstube geschlafen hatte. Den niedrigen Keller hatte er ausgeräumt und nutzte ihn nun fast vollständig zur Vorratshaltung. Sein Großvater hatte dort noch Dinge gebastelt und gebaut, doch seine zwei linken Hände verboten ihm solcherlei Arbeiten von selbst. Er hatte einmal versucht, einen Stuhl zu bauen. Es war ein Desaster gewesen und Killian hatte einsehen müssen, dass er dafür kein Talent hatte. Alles in allem war er trotzdem zufrieden. Auch für Jaroth hatte er einen Raum geschaffen, welcher zwar etwas kleiner war als sein eigener, aber trotzdem ausreichend. Der Hauptwohnraum bot ihnen beiden genug Platz. Nicht alle in ihrer Umgebung hatten das Glück ein richtiges Haus aus Stein zu besitzen, mit einem relativ festen Dach und einem eigenen Brunnen im Hinterhof.
Aspura war ein Dorf mit ungefähr 800 Seelen nicht weit von der Hauptstadt des Reichs entfernt, aber weit genug, um nicht groß beachtet zu werden. Die Gegend war von Landwirtschaft und Handel geprägt, da eine wichtige Handelsstraße nur etwas mehr als eine halbe Wegstunden entfernt entlangführte und so einlud hier Rast zu machen. Reich gemacht hatte es sie trotzdem nicht. Wenige Straßen waren fest gepflastert, eine Mauer fehlte ganz und so mussten sie mit einer Holzpalisade vorliebnehmen. Abgerundet wurde das Bild von einem Gebetsplatz in der Mitte des Ortes mit der klassischen Abbildung von Sonne und Mond und einer Versammlungshalle, in der an jedem fünften Tag der Woche der Dorfvogt die Bewohner mit einer Bürgerversammlung zu tote langweilte. Alles in allem ein Ort wie jeder andere.
Vor der Haustür angekommen öffnete Jaroth für sie und sofort stieg Killian ein unglaublicher Duft in die Nase. Schnuppernd sah er zu seinem weißhaarigen Freund.
»Du hast schon gekocht!« Jaroth schmunzelte bei der Feststellung und entzündete einige der Kerzen, die dann den Wohnraum erhellten. "Es ist sein Todestag oder? Da koche ich immer dein Lieblingsessen und nur diese zwei Mal im Jahr, weil ich es so furchtbar eklig finde. Also genieß es." Killian lächelte und seine blauen Augen strahlten vor Vorfreude, wie bei einem kleinen Kind.
»Ja ich weiß, aber trotzdem überrascht du mich immer wieder damit und ich hab keine Ahnung warum.« Mit einer sanften Geste strich er Jaroth über den Rücken. Ein ruhiger Abend stand ihnen bevor.