Meine Mutter und ich sind verschieden. Zuweilen grundverschieden.
Doch auch, oder gerade weil, sich meine Mutter manchmal in ihren Anschauungen und Interessen so deutlich von mir unterscheidet, schätze ich ihren Rat über alle Maßen. Sie schafft es immer, dass ich am Ende die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachte und neuen Mut finde. Selbst wenn ich mich in meinem kleinen, traurigen Selbstmitleidsbad allzu wohl fühle, vermag sie es, mich wieder aufzurichten.
Ja, ich schätze und liebe den Rat meiner Mutter und ich gebe es zu, manchmal wünsche ich mir nichts mehr, als ein bisschen mehr wie sie zu sein. Heute war einer dieser Tage, denn heute hatten wir (mal wieder) eine Diskussion über meine Zukunft.
Zum allgemeinen Verständnis, ich hatte die letzten drei Jahre den Traum zu studieren, Psychologie, um genau zu sein, aber nach dem ich im letzten Jahr keinen Studienplatz bekam, verlor ich beinahe die Hoffnung. Doch zwei Wartesemster und ein paar ( ... dreizehn ... ) Bewerbungen später hatte ich Glück. Ich bekam eine Zusage, noch dazu an der Universität in meiner Nähe. Ich sollte glücklich sein. Sollte. Denn, wie es allzu oft mit lang erstrebten Zielen ist, merkt man bei ihrer Erfüllung, dass sie nicht mehr zu einem passen, dass man sich verändert und neue Interessen entwickelt hat.
So auch bei mir. Nach drei langen Jahren harter Arbeit an meinen Noten, merkte ich, dass mir kein Grund mehr für meinen Studienwunsch einfiel. Nichts. Nada. Niente.
Doch gleichzeitig überlegte ich, dass all die Arbeit völlig umsonst wäre, wenn ich jetzt, so kurz vor dem Ziel, aufgab und meine Chance nicht wahrnahm. Gesagt, getan. Ich hatte mich immatrikuliert, es gab keinen Weg zurück, doch das nagende Gefühl der Ungewissheit fraß mich langsam auf.
Sollte ich es wirklich tun oder doch den neuen Leidenschaften nachgehen? Diese Frage beschäftigte mich durchgehend und raubte mir den Schlaf.
Zögernd, und auch ein bisschen ängstlich, habe ich mich meiner Mutter anvertraut. Ängstlich, weil ich genau wusste, was mich erwarten würde. Mal wieder würde sie mich aus meinem kuscheligen und wohltemperierten Kummerbad zerren und mir stattdessen neuen Mut schenken.
"Es gibt verschiedene Arten von Menschen", fing sie an und ich stöhnte innerlich auf, hatte ich doch die böse Vorahnung, dass dieses Gespräch in eine Diskussion über die Klassifizierung von Charakteren ausufern würde.
"Es gibt Rennpferde und Bedenkenträger und du bist eine Bedenkenträgerin. Das ist eben so und das wird sich auch nicht ändern." Bei diesen Worten stutze ich, gab mir meine Mutter wirklich den Rat, dass ich mich, so sehr ich es mir auch wünschte, niemals ändern würde?
"Doch ein Bedenkenträger zu sein ist nichts Schlimmes", sprach sie unbeirrt weiter, "Es kann auch etwas Positives sein! Wenn man weiß, dass man ein Bedenkenträger ist, kann man sich vornehmen in Zukunft offener und eine Spur sorgloser zu leben und sich nicht in Worst-Case Szenarien zu verlieren.
Jeder findet seinen Weg und wenn du feststellst, dass das Studium nichts für dich ist, wenn du denkst, das hier ist mir zu schwierig, dann sag dir Shit happens! Natürlich sollte man sich nicht den einfachsten Weg aussuchen und für seine Zukunft arbeiten, aber dir stehen alle Wege offen. Das kann man als Fluch, oder auch als Segen betrachten, doch lass dich davon nicht verunsichern.
Wenn Psychologie nichts für dich ist, dann ist es eben so. Wenn du feststellst, dass ein Studium generell nichts für dich ist, dann ist es eben so. Niemand wird dir vorschreiben welchen Weg du zu gehen hast, es ist deine Entscheidung und in zehn Jahren wirst du zurückblicken und sie mit ganz anderen Augen betrachten. Vielleicht wirst du sie bereuen, vielleicht auch nicht.
Du darfst nicht mit dieser negativen Einstellung in dein Leben treten und annehmen, dass ohnehin nichts klappen wird. Stell dir mal vor, es kommt jemand in einen Raum, gebückt und miesepetrig und nach ihm jemand, der offenherzig auf die Menschen zugeht und der Welt sagt: Hier bin ich! Welche Chance bietet sich mir heute?
Auf wen wird das Leben eher zukommen? Zielorientiertes Denken ist der Schlüssel zum Erfolg! Setz dir ein Ziel und du wirst es erreichen, doch wenn du nach einer Zeit bemerkst, dass dein Ziel nicht mehr zu dir passen will, dann setz dir ein Neues. Daran ist nichts Schlimmes, im Gegenteil.
Sei offener, mal dir nicht mehr das Schlimmste aus und freu dich auf die tolle Zeit, die du erleben wirst. Egal was auf dich zukommen wird, dir steht immer dein freier Wille zu. Nur du kannst deinen Weg bestimmen."
Ich habe meine Mutter nach dieser Rede staunend angeblickt, zweifelnd ob ich es schaffen würde, ihren Rat zu beherzigen. Sie hatte Recht, ich musste offener werden, musste aufhören mir eine mentale Liste zusammenzustellen über die Dinge, die schief gehen könnten und anfangen, mein Leben zu schätzen.
Ich wusste schon vor dem Gespräch, dass ich auf jeden Fall das Studium beginnen würde, schien es mir doch als Verschwendung es nicht zu tun, doch meine Mutter nahm mir die unerträgliche Angst zu versagen.
Bisher lief es in meinen Gedanken so ab: Studium abbrechen - Keinen Zukunftsplan haben - Keinen Job haben - Kein Geld haben - Keine Wohnung haben - Kein Essen haben - Einsam und Allein unter einer Brücke sterben mit den Worten Hätte ich doch nur nicht das Studium abgebrochen auf den Lippen.
Das klingt ein bisschen katastrophistisch, und ich glaube das Wort meiner Mutter -Bedenkenträger- beschreibt mich mit am Besten, doch wenn sie Recht hat, und ich diese Seite an mir nicht vergessen kann, sollte ich zumindest das Beste daraus machen und erkennen, wann meine Ängste begründet sind und wann nicht. Ich möchte aufhören, über die Folgen jeder noch so kleinen Handlung nachzudenken und endlich beginnen mein Leben zu genießen, damit ich offenherzig in die Welt treten und erwartungsvoll rufen kann: Hier bin ich!