Wo war es bloss?
Sie erinnerte sich daran, wie sie diese seltsame Ohnmacht ergriffen hatte, doch dann war da wieder dies kindliche Stimme, welche nach ihr rief. Sie hatte diese Stimme gerade ganz klar gehört und noch eine andere, ihr zutiefst vertraute Stimme. Es waren die Stimmen von ihrem Sohn David und ihrem Mann Nathaniel gewesen. Endlich erinnerte sie sich wieder klar!
Aber… wie war sie bloss hergekommen?“ „Wer bist du?“ fragte sie an den Tiger gewandt. Warum trägst du mich?“ Der Tiger verlangsamte nun seinen Trab, ging in Schritt über und blieb schliesslich stehen. Lea kletterte von seinem Rücken und sah dem wundervollen Tier direkt in seine eisblauen Augen. „Ich bin ein guter Freund. Ich wollte nicht zulassen, dass dich das Monster noch weiter in die Finsternis herabreisst. Ich habe dich gerettet.“ „Wo ist das Monster jetzt?“ Lea schaute sich erneut gehetzt um. „Weit weg, doch es wird wiederkommen, das ist dir schon klar, oder? Irgendwann wirst du etwas gegen dieses Monster machen müssen, es lässt dich sonst nie in Ruhe.“ „Das klingt aber nicht sehr ermutigend.“ „Ich spreche nur dass aus, was du eigentlich schon lange selbst weisst. Ich bin ein Teil von dir.“ „Ein Teil von mir... das sagte das Monster vorhin schon. Aber ich will nicht, dass es Teil von mir ist. Es ist so schrecklich und es will meine Seele zerstören.“ „Nur wenn du dies auch zulässt Lea“, sprach der Tiger. Seltsamerweise war die Frau gar nicht erstaunt, dass der Tiger sprechen konnte, hier in dieser Welt war vieles möglich. Sie erwiderter: „Irgendwie habe ich das ungute Gefühl, dass ich da wohl irgendwann keine Wahl mehr haben werde. Das Monster ist einfach zu stark. Ich habe… solche Angst lieber Tiger, solch schreckliche Angst. Ich fühle mich so ohnmächtig.“
„Du bist zu weit mehr fähig als du denkst Lea“, erwiderte der Tiger freundlich. „Ich bin das beste Beispiel dafür. Ich bin nur gekommen, weil du es zugelassen hast. Du hast gekämpft trotz deiner Hilflosigkeit, deiner Angst, deiner Ohnmacht. Du hast nicht aufgegeben.“ „Doch…“ erwiderter Lea traurig „Ich habe schon aufgegeben, sonst wäre ich nicht hier.“ „Hättest du ganz aufgegeben, wärst du nicht hier. Dann wärst du an einem andern Ort.“ „Du meinst in der Hölle oder sowas? Selbstmörder kommen doch in die Hölle, sagte man früher jedenfalls.“ „Glaubst du das denn wirklich?“ „Nein eigentlich nicht, aber diese Welt hier ist auch nicht gerade gemütlich. Es ist irgendwie kalt geworden und nichts lebt an diesem Ort wirklich. Dabei hat es vor kurzer Zeit noch ausgesehen, als ob sich etwas verändern könnte. Als ich… mit dem goldenen Ritter zusammen war, da… blühten hier auf einmal Blumen, und Schmetterlinge und andere Insekten begannen aufzutauchen. Dann aber kamen diese dunklen Wolken wieder und… ich vergass fast alles, was ich an Schönem hier erlebt habe. Alles verschwand und das Monster kehrte zurück. „Ja, es ist, wie ich sagte ein Teil von dir, so ungern du das auch annehmen willst.“ „Aber wie kann ich diese schreckliche Kreatur jemals als Teil meiner selbst annehmen? Das ist schlichtweg unmöglich. Es reisst mich immer von Neuem in den Abgrund. Es ist manchmal… als würde ich am Rand eines brodelnden Vulkankraters balancieren und jeden Moment hineinstürzen. Das ist kein Leben. So geht das nicht! Darum, kann ich niemals zurückkehren in meine alte Welt. Auch wenn ich mich nun an so vieles wieder erinnern kann und mich sehne nach meinem Kind, meinem Mann, all meinen Liebsten, die ich wohl nie mehr sehen werde.“
„Willst du sie denn wiedersehen?“ fragte der Tiger mit einem wissenden Ausdruck in seinen Augen. „Ja, ich glaube schon. Ich hatte vorhin auf einmal so einen klaren Moment, da konnte ich sie hören, ganz deutlich und da waren auch noch irgendwelche andere Menschen, vielleicht ein Arzt und eine Krankenschwester. Ich glaubte ganz nahe daran zu sein, meine Liebsten wieder zu sehen, doch dann war es wieder vorbei. Ich konnte nichts dagegen machen. Was nur soll ich tun?“ Auf einmal brannte heisse Tränen in ihren Augen. „Ich bin verloren, ich werde hier niemals wegkommen. Wie das Monster sagte, ich habe das selbst gewählt.“ „Alle wählen ihr Schicksal selbst Lea, sei es gut oder schlecht. Du kannst es schaffen wenn du glaubst, wenn du vertraust.“ In was denn vertrauen, in göttlichen Beistand, in mich selbst? Also ich weiss nicht. Ich kann vor allem mir selbst schon lange nicht mehr vertrauen.“
„Vertraue auf die Liebe, vertraue auf das Licht. Es ist nicht verschwunden, du kannst es gerade nur nicht sehen, aber wenn du deine Augen aufmachst, wirst du es sehen. Mach deine Augen auf Lea! Du bist stärker als du denkst, doch musst du auch daran glauben.“ Diese Worte berührten die Frau tief und auf einmal fühlte sie sich auf wundersame Weise getröstet. Sie schaute sich um und plötzlich glaube sie erneut eine Veränderung in ihrer Umgebung wahr zu nehmen…
Die Wolken am Himmel rissen auf und tatsächlich tauchte dort eine helle Sonne auf, welche alles mit ihrem warmen Licht übergoss. Alles wurde erneut farbiger und lebendiger. Voller Freude und Ehrfurcht, schaute die Frau nach oben. Das Sonnenlicht wärmte sie wunderbar, die ganze Klammheit und Kälte wich aus ihrem Körper und sie sank tief bewegt und voller Dankbarkeit in die Knie. Ihre Freudentränen fingen das Licht der magischen Sonne ein und liessen sie wie Diamanten aufleuchten. „Es scheint… man hat mich doch nicht ganz vergessen, “ sprach sie mit erstickter Stimme an den Tiger gewandt. „Nein, du wirst niemals vergessen! Alles ist da Lea, aber du selbst darfst dich auch selbst nicht vergessen! All das hier, du hast es bewirkt, du hast das Licht wieder in dein Herz gelassen und das ist der beste Schritt dazu, die Grotte der Heiligen Wasser zu betreten. Wir sollten uns auf den Weg machen, so schnell als möglich. Es ist nicht mehr weit, komm!“
Lea nickte und stieg wieder auf den Rücken des mächtigen Tieres. Es setzte sich elegant in Bewegung. Die Frau staunte über seine Anmut und seine Kraft und spürte wie seine Muskeln sich unter dem glänzenden, schwarzweissen Fell bewegten. Bei dem Tiger fühlte sie sich wahrlich sicher.
Es dauerte nicht lange und sie erreichten eine mächtige Schlucht, welche sich tief in das dunkle Gebirge eingrub. „Wir sind gleich da“, sprach der Tiger und tauchte in das Halbdunkel der Schlucht ein. Sein Fell war ein Wechselspiel aus Licht und Schatten. Hoch über sich, sah Lea den oberen zerklüfteten Rand der Schlucht, nur wenig Licht drang zu ihnen vor, doch immer wieder erblickte sie die goldene Sonne und diese leuchtete weiterhin tröstend auf sie herab. Es war schön hier, sehr still und friedlich. Sie drehte sich um und legte sich auf den Rücken. Veträumt schaute sie nach oben, während der Rücken des Tigers unter ihr sanft hin und her wippte. Sie betrachtete die Konturen der Felsen, ihre verschiedenen Formationen. Eigentlich fühlte sie sich im diesem Augenblick sehr wohl und in sich ruhend.
Doch dann kam ihr auf einmal wieder das Erlebnis mit der Grotte in den Sinn, wo sie anfangs gelandet war. Dort hatte das Monster auf sie gelauert und die Steinstatuen hatten sich angefangen zu bewegen und sie ebenfalls bedroht. Auf einmal zog wieder Schrecken in ihr Herz ein. Doch sie kämpfte mit aller Macht dagegen an. Sie drehte sich wieder um und klammerte sich an den Tiger, wie ein kleines Kind an seine Mutter. Sie hatte auf einmal Angst, das edle Tier würde auch noch verschwinden, wie der wundervolle, goldene Ritter den sie so sehr liebte.
Als würde das Tier ihre Gefühle erahnen sprach er: „So einfach lasse ich dich nicht allein Lea. Meine Funktion ist klar und ich werde dich zur Grotte der heiligen Wasser führen, koste es was es wolle. Wir werden es schaffen, verlier nicht den Mut! Du bist der Herrscher deiner eigenen Welt, niemand kann dir die Macht darüber entreissen, du bist die Königin hier, denk daran!“ Schon wieder brannten Tränen der Verzweiflung in Leas Augen. Doch als der Tiger das mit der Königin sagte, bekam sie wieder neuen Mut und seltsame Kraft zog in ihr Inneres ein. Sie wischte ihre Tränen voller Entschlossenheit von den Wangen. Ja, sie wollte zur Grotte des Heiligen Wassers… koste es was es wolle!
Kurz darauf erreichten die beiden das Ende der Schlucht. Vor ihnen ragte eine weitere mächtige Felswand aus graurotem Gestein empor und in diese Wand, war ein riesiges, schmiedeeisernes Tor eingefügt, mit vielen Schlössern. So wie es der goldene Ritter gesagt hatte.
Lea wollte schon wieder der Mut sinken, als sie vor dem Tor stand, sie fühlte sich klein und hilflos im Angesicht dieses mächtigen Hindernisses. Sie rüttelte am Tor, doch es bewegte sich keinen Zentimeter. Na toll! Was sollte sie tun? Vermutlich war sie doch nicht würdig die Grotte der heiligen Wasser zu betreten...