Ihre hochgezogene Augenbraue sowie ihr Gesichtsausdruck sagten mehr als tausend Worte. Frank hatte ihr alles erzählt, was er in Erfahrung gebracht hatte, auch wenn er sich dämlich vorkam, als er das Geschwätz des Alten erwähnte.
„Und was halten Sie davon, Mister Enris?“, fragte Cassilda irritiert, nachdem sein Bericht voll-endet war.
Frank atmete tief durch. „Sollte auch nur die Hälfte dessen stimmen, was ich erfahren habe, dann könnte von diesem Kult durchaus eine Gefahr ausgehen. Eine weitere Beobachtung wäre kritisch, da ich nicht weiß, wie schnell Sie reagieren können oder ob sie die Unterstadt von jetzt auf gleich umkrempeln wollen.“
Cassilda dachte einen Moment lang nach und legte ihre Stirn in Falten. Sie griff in eine Schublade, holte einen Umschlag hervor und reichte ihn Frank. „Öffnen Sie ihn“, wies sie ihn an, als sie seinen fragenden Blick sah.
Im Umschlag befand sich eine Einladung für ein Theaterstück namens Der König in Gelb – Ein Abend in Carcosa und direkt auf der Eintrittskarte sah Frank wieder das Zeichen aus der Kathedrale. Es lief ihm kalt den Rücken runter, es konnte sich hierbei nicht um einen Zufall handeln.
„Dieser Brief erreichte mich vor wenigen Tagen. Den Absender konnten wir nicht ausfindig machen“, sagte Cassilda, als sie Franks Reaktion bemerkte.
„Lassen Sie mich raten, ich soll ins Theater gehen und mir das Stück ansehen?“
Cassilda nickte. „Aber seien Sie vorsichtig, Mister Enris. Ich habe das ungute Gefühl, dass es sich um eine Falle handelt.“
„Meinen Sie?“
Wieder nickte Cassilda. „Es geht das Gerücht um, dass das Theaterstück jeden, der es nur liest, wahnsinnig macht.“
„Und wie soll es dann aufgeführt werden?“
Frank erhielt als Antwort nur ein Schulterzucken. „Ich weiß es nicht, aber passen Sie bitte auf sich auf! Sobald etwas Merkwürdiges geschieht, verschwinden Sie!“
Frank nickte nur bestätigend, stand auf und verließ das Büro.
Der Übergang zwischen der Ober- und der Unterstadt war nicht plötzlich, sondern unauffällig und fließend. Viele Gebäude waren verfallen und die wenigen Polizeiwagen, die hier auf den Straßen patrouillierten, erweckten den Anschein, dass es hier noch sicher wäre.
Ein angetrunkenes Liebespaar schlich an Frank vorbei und bog in eine Seitengasse. Eine Gruppe zwielichtiger Gestalten dahinter folgte den beiden. Frank wusste, wieso der parkende Streifenwagen auf der anderen Straßenseite nun wegfuhr. Ebenso wie Frank konnten die Polizisten sich wohl ausmalen, was gleich in dieser Seitengasse geschehen würde.
Frank zog seinen Hut tiefer ins Gesicht und ging weiter Richtung Theater. Manchmal war es bei gewissen Dingen besser, die Augen zu verschließen, als sich selbst in Gefahr zu begeben. Aus keinem anderen Grund war selbst der Streifenwagen nun verschwunden.
Das Olympus-Theater lag direkt auf der imaginären Linie zwischen den Welten und bildete eine Art Grenzposten. In seinen besten Zeiten war es berühmt gewesen, bot vielen bekannten Persönlichkeiten eine Bühne und wer damals zur oberen Klasse gehören wollte, musste das Olympus mindestens ein Mal besucht haben. Diese Zeiten schienen im Grunde längst vorbei; doch was noch vor einiger Zeit ein Gerücht war, verbreitete sich bald wie ein Lauffeuer und schnell waren die Zeitungen voll mit Berichten über das anstehende Stück, das dem Olympus wieder zu altem Glanz verhelfen sollte.
Überall blitzte es auf, das Symbol – auf den Plakaten, auf den Titelseiten der Zeitungen und schließlich auch über dem Eingang des Theaters, vor dem Frank nun stand. Ein unbekannter Regisseur hatte viel Geld bezahlt, um dieses baufällige Gebäude wieder soweit herzurichten, um dort sein Stück aufführen zu können, das konnte man deutlich sehen.
Franks Herz schlug ihm bis zum Hals, als er auf den Schalter des Olympus zuging, wo ein älterer Portier ihm den Weg zu seinem Sitzplatz wies. Der Modergeruch, der aus den alten Sesseln aufstieg, ließ ihn würgen. Frank hatte einen Platz in der hinteren Loge bekommen, wo er den ganzen Theaters-aal überblicken konnte. Dieser füllte sich langsam mit jenen besonderen Menschen, die sich das Stück Der König in Gelb ansehen wollten.
Er musste wieder an die Worte des alten Mannes aus der Gasse denken. Aber er konnte noch nicht gehen. Es war nicht nur sein Auftrag, der ihn zwang, sitzenzubleiben, sondern auch eine perfide Neugier, herauszufinden, was sich hinter den Gerüchten, die sich um das Theaterstück rankten, verbarg.
So wartete er geduldig, bis alle Gäste Platz genommen hatten, sich der verwitterte Vorhang hob und Wahnsinn den Theatersaal flutete. Schalmeien krakeelten von nun an in dichter werdenden Bewegungen um Frank herum. Aus der Dunkelheit der Bühne drang das Schema eines schwefelfarbe-nen Umhangs. Frank glaubte, in dessen Innern hastige Rhythmen auszumachen und kurz war er unsicher, ob nicht der Pulsschlag seiner Schläfen diese Rhythmen vorgab. Er wusste nicht genau, was ge-schah, er wusste nur, dass sein Innerstes, seine Seele ein unvorstellbares Martyrium durchlebte.
Zwischen dem Gelächter und dem Flehen nach Erlösung, das sich mit den Schalmeien zu einer unvorstellbaren Kakophonie vermischte, gesellte sich lieblicher Frauengesang, der nicht von dieser Welt zu sein schien. Aber schmeichelte der Gesang in einem Moment seinen Ohren, so verwandelte auch er sich im nächsten in unmenschliches Gekreische, das urplötzlich verstummte.
Er schüttelte träge den Kopf und schärfte seinen Blick. Zahlreiche Torbogen begannen sich links und rechts zu erheben. Sie waren gesäumt mit den Götzenbildern eines gefallenen provinziellen Herr-schers. Aus den Köpfen dieser Vielgestalten blickten ihn dutzendfach dieselben Augen an. Augen, die er sehr wohl kannte. Frank spürte, wie die Eruption der Luft all diese tönernen Blicke zu einem entstell-ten Antlitz seiner selbst verwandelte. Ehe er sich abwenden konnte, übermannte ihn der Schwindel.
Als er wieder zu sich kam, fiel sein erster Blick auf die Bühne. Dort saß auf einem beinernen Thron eine in gelbe Lumpen gehüllte Gestalt, deren Gesicht von einer bleichen Maske verdeckt war. Obwohl sich die Gestalt nicht rührte und auch nicht sprach, hörte Frank die Worte des letzten Königs von Carcosa, ebenso, wie sie jene vernahmen, die überlebt hatten, als ihnen die Wahrheit offenbart wurde.
Ein jeder bekam eine Aufgabe zugeteilt, denn das Auferstehen des Einen sollte mit Taten und Worten verbreitet werden. Jetzt wurde es ihm klar. Frank war der Empfänger einer vermessenen Botschaft. Sicher war das der Grund, warum er so schrie. Das Auferstehen des Einen; es war eine besondere Botschaft, eine Aufgabe, die viel wichtiger war als die der anderen im Saal, die ihn jetzt voller Schreie und Hysterie umgaben.
Zwar würden manch andere das Theaterstück in ihren Bücherregalen finden und es in ihrem Wahn verteilen; zwar würden wieder andere wie besessen Ungläubige töten und mit dem Blut ihrer Opfer das Zeichen des Königs verbreiten. Einige aber würden besondere Aufgaben bekommen. So auch Frank. Seine Stimme hier bebte doch am lautesten. Das war ganz klar zu hören. Sie fand ihn, diesen einen Ton in Harmonie mit der Stimme in seinem Kopf.
Die, welche ihm eben befohlen hatte, in die Unterstadt zurückzukehren, um dort die Kommunion des Gelben Zeichens zu empfangen.