Überall in dieser einen Nacht schwelgten die Menschen in Dekadenz und Überfluss. Gründe und Arten dafür gab es viele. Die einen feierten das Ende einer selbst auferlegten Zeit der Enthaltsamkeit durch ekstatisches Tanzen, andere priesen die Tatsache, dass die Tage von nun an länger werden würden durch die Imitation von Ritualen, deren Sinn und Ursprung längst in Vergessenheit geraten waren. Der Vollmond stand am Himmel und schien auf die Erde hinab. Sein fahles Licht verdeckte zwar den Glanz der Sterne, aber gegen die Feuer, die überall auf dem Land brannten, wirkte sein Schein wie das Glimmen einer fast erloschenen Kerze. Obwohl in den Städten das Leben pulsierte, so lagen sie doch in dieser Nacht still und verlassen da. Vereinzelte Autos oder einzelne Züge fuhren durch die verlassenen Straßen und durchbrachen die gespenstische Stille für einen kurzen Moment.
Die Bahnstation Angels Mouth war fast leer. Nur eine Frau, die verfrüht von einem Maskenball den Heimweg angetreten hatte, saß auf der Bank. Ihr feuerrotes Haar hatte sie hochgesteckt, ihr schwarzes Ballkleid floss an ihrem schlanken Körper herunter und ihr Gesicht wurde von einer einfachen, weißen Fuchsmaske verborgen. Geduldig wartete sie, bis die Lichter des einfahrenden Zuges aus dem Tunnel näher kamen. Sie stand auf, nahm ihre Clutch aus ihrem Schoß und nahm in einem Zugabteil Platz. Außer ihr waren noch andere Menschen im Wagen. Ein junges Pärchen schlief eng umschlungen auf einer Bank, ein älterer Herr, der sich auf seinen Spazierstock stützte, starrte Löcher in die Luft und weiter hinten saß ein Mann mittleren Alters und las einen Brief. Die neu hinzugestiegene Passagierin durchquerte das Zugabteil, nahm an einem Fenster Platz und sah hinaus. Die Lichter der Stadt zogen an ihr vorüber und je schneller die Bahn fuhr, desto schwerer wurde es einzelne Punkte ausfindig zu machen. Einzig das Wahrzeichen der Stadt, die Drillingstürme von Neu-Babylon, stachen aus der verschwimmenden Masse hervor. Sie hatte jedoch keinen Blick für die Schönheit der vorüberziehenden Stadt übrig.
Vor ihrem geistigen Auge wichen die Lichter der Stadt denen der imposanten Kronleuchter, die im Ballsaal aufgehängt waren. Ein kleines Orchester spielte sanften Jazz während die Tanzpaare langsam über das Parkett schwebten oder sich leise an der Bar unterhielten. Sie selbst stand etwas abseits der Menge an einem der großen Fenster. Sie war eine der wenigen Damen, die eine Verabredung zu diesem Ball hatten und hielt sich daher bedeckt. Es gab genug Herren, die auf sie zukamen und sie auf ein Getränk einladen wollten, aber sie lehnte jedes Mal dankend ab. Mit jeder Sekunde, die sie länger wartete, wuchs ihre Unruhe. Sie konnte nicht ewig auf ihre Verabredung warten und eine weitere Versetzung war das Letzte was sie nun gebrauchen konnte. Sie ließ ein weiteres Mal ihren Blick über die Menge schweifen. Obwohl sich die Menschen zum Rhythmus der Musik bewegten, fielen einige aus dem Rhythmus und wichen kurz beiseite um Platz zu schaffen. Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch, als sie sah für wen der Platz geschaffen wurde. Ein kleiner, dicklicher Mann, der eine einfache weiße Maske und einen riesigen Zylinder auf dem Kopf trug, kam aus der Menge, blickte sich um und schritt schnurrstracks auf sie zu. Das war er also. Das war ihre Verabredung. Ihr Gegenüber ergriff ihre Hand, verbeugte sich leicht und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken.
>>Guten Abend, Gändigste. Verzeihen Sie meine Verspätung, Gnädigste. Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen?<<
Sie schüttelte nur den Kopf und lächelte ihn zur Antwort an.
>>Kommen Sie mit, ich möchte Sie ein paar Freunden vorstellen.<<
Er machte auf dem Absatz kehrt und eilte wieder durch die Menge. Sie folgte ihm so schnell es ging und orientierte sich dabei an der Spitze des Zylinders, der wie ein Torpedo durch die Menge pflügte. Er führte sie durch das Gebäude in einen kleineren Saal, in dem sich nur geladene Gäste aufhielten. Gemeinsam gingen sie zu einem großen Tisch, an dem mehrere Paare saßen. Ihre Verabredung stellte sie mit knappen Worten der Gesellschaft vor und setzte sich dann an den Tisch. Sie war durchaus beeindruckt wie bekannt ihr Begleiter war, denn an dem Tisch saßen sehr einflussreiche Personen aus Wirtschaft und Politik. Anfangs drehten sich die Gespräche noch um Kleinigkeiten und Alltägliches, während sich die Runde nach und nach ausdünnte. Manche gingen mit ihren Partnern tanzen, einige Damen gingen sich die Nase pudern, andere gingen an die Bar um Getränke zu bestellen. Sie wusste, dass auch die Zeit für Sie gekommen war den Tisch zu verlassen. Immerhin war sie nur schmückendes Beiwerk für ihren Begleiter gewesen. Jetzt ging es ums Geschäftliche und da hatten weder ihre Augen noch ihre Ohren etwas am Tisch verloren.
>>Gnädigste, wären Sie so gütig uns etwas zu trinken zu holen?<<
Das war die finale Aufforderung. Sie nickte nur und ging langsam durch den Raum zur Bar. Sie ließ sich Zeit und musterte die anderen Gäste unauffällig. Keiner nahm Notiz von ihr, was sie durchaus beruhigte. Denn auch wenn sie ein geladener Gast war, so gehörte sie doch nicht hierher und das konnte man erkennen. Sie lehnte sich an den gläsernen Tresen und wartete auf einen Ober, der ihre Bestellung entgegennehmen würde. Während sie noch überlegte was sie bestellen würde, fühlte sie ein leichtes Kribbeln im Nacken. Langsam drehte sie sich um und sah einen weiteren Gast, der sie ansah. Er lehnte locker an der Theke und seine schwarze Hasenmaske stand im starken Kontrast zum weißen Anzug. Obwohl seine Augen verborgen waren, so fühlte sie dennoch, dass er sie interessiert musterte. Schnell drehte sie sich wieder um. Sie wollte keine Probleme verursachen und ihre Verabredung sitzen zu lassen kam nicht in Frage.
>>Was darf ich ihnen bringen?<<
Die Frage des Obers unterbrach ihre Gedanken. Sie bestellte zwei Whiskeys auf Eis und wartete bis der Ober zurückkam.
>>Darf ich Sie auf ein Getränk einladen?<<
Der Mann mit der Hasenmaske war neben sie getreten und das Timbre in seiner Stimme verursachte einen angenehmen Schauer, der über ihren Rücken wanderte.
>>Nein danke, ich habe bereits bestellt.<<
>>Darf ich Ihnen dann etwas Gesellschaft leisten? Sie sehen aus als ob Sie etwas Gesellschaft vertragen können.<<
Sie lächelte leicht. Auch wenn ihr die Situation unangenehm war, so war er dennoch charmant.
>>Ich bin schon verabredet. Ich hole nur die Getränke.<<
>>Mit Verlaub, aber welcher Mann verzichtet auf Ihre Gesellschaft und lässt Sie die Getränke holen?<<
>>Ein Mann, der geschäftliches zu besprechen hat.<<
Mit diesen Worten nahm sie die Gläser, die der Ober brachte, entgegen und ließ den Verehrer stehen. Sie fühlte immer noch seinem Blick im Nacken, während sie die Theke verließ. Als sie in der tanzenden Menge verschwunden war, ging sie zu ihrer eigentlichen Aufgabe über. Sie öffnete ein kleines Geheimfach an ihrem Armband und löste eine kleine Dosis eines weißen Pulvers in den Getränken auf. Das Geschäft war immer noch nicht abgeschlossen und somit stellte sie nur die Getränke ab und entschuldigte sich unter dem Vorwand sich die Nase zu pudern. Am Ausgang blieb sie noch einmal kurz stehen und sah zurück. Ihr Blick kreuzte sich mit dem Blick des unbekannten Gasts. Er nickte ihr zu und erhob sein Glas, aber sie verließ den Raum.
Sie kehrte langsam wieder in die Realität zurück. Ihr Auftrag war zwar erledigt, aber dennoch bereute sie es, nicht den Mann mit der Hasenmaske näher kennengelernt zu haben. Es war nicht nur das angenehme Timbre seines Baritons gewesen, das sie an ihn denken ließ; nein es war seine gesamte Erscheinung. Ihm haftete etwas Mysteriöses an und insgeheim ärgerte sie sich, dass sie sich nicht auf das kleine Abenteuer, das sich ihr geboten hatte, eingelassen hatte. Aus ihrer Erinnerung tauchte wieder das Bild des Fremden auf. Sein Abbild saß nur fünf Sitzreihen entfernt und sah sie einfach nur an. Sie lächelte leicht über diese Vorstellung, aber als er dann ihr Lächeln erwiderte, lief es ihr kalt den Rücken herunter. War er ihr gefolgt? Warum saß er da, sah sie an und lächelte einfach nur? Sollte sie ihn darauf ansprechen? Sie wich seinem Blick aus. Es war besser, nichts zu tun und abzuwarten was geschehen würde. Sie schaute zwar aus dem Fenster, jedoch behielt sie seine Reflektion in der Scheibe stets im Auge. Als der Zug endlich die Haltestelle erreichte, an der sie aussteigen musste, atmete sie erleichtert auf. Ohne den Mann mit der Hasenmaske eines weiteren Blickes zu würdigen, stand sie auf und verließ den Zug. Ihr Herz blieb stehen, als sie merkte, dass auch er aufstand, und den Zug verließ. Langsam, aber dennoch entschlossen ging sie eine Treppe hinunter und achtete darauf, ob ihr der geheimnisvolle Fremde folgte. Aber sie hörte nichts. Anscheinend war er in eine andere Richtung gegangen.
Noch immer herrschte Stille in der Stadt. Nur ihre Schritte, deren Echo von den Häuserfassaden widerhallte, durchbrachen die Stille. Je näher sie ihrer Wohnung kam, desto entspannter wurde sie. Der Auftrag war erfüllt und falls sie verdächtigt werden würde, konnte sie immer noch untertauchen. Immerhin wusste niemand wo sie sich aufhielt. Nicht mal der Unbekannte mit der Hasenmaske. Erschrocken blieb sie stehen. Er war ihr also doch gefolgt. Er stand an einer Straßenecke und rauchte eine Zigarette.
Nein. Er hatte sie abgefangen. Ihr Herz schlug schneller und sie hörte nur noch das Rauschen ihres Blutes. Er musste wissen wer sie war und was sie getan hatte. Wer wusste schon, was sie erwartete, wenn sie auf ihm zuging. Sie zögerte nicht lang und bog in eine kleine Seitengasse ein. Sie wusste nicht wohin sie führen würde, aber alles war besser, als sich mit dem Unbekannten auf eine Konfrontation einzulassen. Wie sich herausstellte, war sie in eine Sackgasse gelaufen. Innerlich fluchend drehte sie sich um und sah zum Eingang der Gasse zurück. Noch war er nicht zu sehen, sie musste nur ein Versteck finden und sich still halten, dann würde er vorüber gehen. Sie eilte zu ein paar Mülltonnen und hockte sich dahinter. Langsam öffnete sie den Verschluss ihrer Clutch und griff hinein. Ihre Hand ertastete kaltes Metall, dessen Gewicht sie etwas beruhigte. Auch wenn sie Gewalt verabscheute, so musste sie sich schützen. Immerhin war sie in Trenchtown aufgewachsen, das direkt an die Unterstadt grenzte und sie hatte früh genug mitbekommen, dass man nicht ohne Schutz unterwegs sein sollte. Erst recht nicht, wenn man für andere Leute die Drecksarbeit übernahm. Entschlossen zog sie die kleine Pistole aus der Clutch und entsicherte sie. Während sie mit tiefen Atemzügen versuchte das Zittern in ihren Händen zu kontrollieren, dachte sie an das letzte Mal, als sie diese Schusswaffe verwenden musste.
Es war ein Auftrag in der Nähe des alten Olympus Theatre gewesen. Auf dem Rückweg wurde sie von einem schmierigen Typen in die Ecke gedrängt, der seine Lust an ihr stillen wollte. Eigentlich wollte sie ihm in den Bauch schießen, damit er leise verendete, doch sie schoss daneben und er schrie stattdessen wie am Spieß. Sie war dann einfach in blinder Panik davon gelaufen. Dieses Mal sollte es anders sein. Sie nahm sich fest vor auf das Knie zu zielen, denn da war es egal, ob sie zu hoch oder zu niedrig zielte. Sollte ihr der Unbekannte zu nahe kommen, würde sie dafür sorgen, dass er nie wieder Charleston tanzen würde. Aber er kam nicht. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie sich erhob und die kleine Gasse verließ. Die Straße war leer. Weit und breit gab es kein Anzeichen für den Mann mit der Hasenmaske. Mit zitternden Händen steckte sie die Pistole wieder in ihre Clutch und ging weiter, bis sie ihre Wohnungstür hinter sich verriegelte.
Ihr Schlaf war sehr unruhig gewesen, denn der Unbekannte verfolgte sie noch in ihren Träumen. Dabei war sie durch die Stadt gelaufen und war ihm an jeder Straßenecke begegnet. Es war egal wie viele Haken sie geschlagen hatte, wie viele Schleichwege sie gegangen war, er war ihr immer einen Schritt voraus gewesen. Sie erwachte als ihr ein kleiner Streifen Tageslicht durch einen Spalt zwischen den Vorhängen auf ihr Gesicht fiel. Obwohl sie sich gern noch einmal umgedreht hätte, stand sie dennoch auf. Sie wollte nicht wieder zurück zu ihren Träumen. Ein Kaffee würde die Müdigkeit vertreiben. Gähnend schlüpfte sie in den Morgenmantel und verließ das Schlafzimmer, um in die Küche zu gehen. Im Hausflur erstarrte sie. Vor ihrer Wohnungstür lag ein Briefumschlag, der an sie adressiert war. Das war an und für sich nichts Ungewöhnliches, aber die Tatsache, dass keine Briefmarke auf dem Umschlag klebte, ließ ihr Herz schneller schlagen. Mit zitternden Händen hob sie den Umschlag auf, öffnete ihn, entfaltete den Brief und begann zu lesen.
Sehr geehrte Miss Fox,
Sie gaben mir gestern nicht die Möglichkeit, Ihnen persönlich zur erfolgreichen Durchführung in Sachen Mister Henry Atter zu gratulieren. Es ist wirklich bemerkenswert, wie Sie es geschafft haben an ihn heran zu kommen, das haben schon andere Ihres Metiers versucht. Aber neben meiner Gratulation möchte ich Sie auch warnen. Mister Atter scheint zwar an einem Herzinfarkt gestorben zu sein, aber die Königin hat dennoch Verdacht geschöpft. Auch wenn mir niemand gefolgt ist und ich Ihre Adresse niemanden verraten werde, weiß ich nicht, ob Sie nicht dennoch observiert werden. Passen Sie bitte auf sich auf, denn ich würde Sie gerne wiedersehen, um Sie persönlich kennen zu lernen.
Hochachtungsvoll
R. Abbit