Tom?!
Ari stockte der Atem, sie blinzelte und sah genauer hin. Doch er war es, eindeutig.
„Ariel, willst du einen Kaffee?", unterbrach seine Mutter Aris Schockzustand, die in den Nebenraum verschwunden war. Blinzelnd riss sich die junge Frau von dem furchtbaren Anblick los und hob den Kopf.
„Ja", antwortete sie mit einiger Verspätung und brüchiger Stimme. „Gern."
Sie beugte sich mit klopfenden Herzen über seinen Mund und lauschte. Er atmete normal. Mit spitzen Fingern hob sie das Augenlid seines guten Auges und schwenkte das Licht einer Taschenlampe über die Iris. Die Pupillen zogen sich zusammen und Ari seufzte erleichtert. Noch nicht gänzlich beruhigt, legte sie dem Bewusstlosen mit zitternden Händen ein Blutdruckmessgerät an. Besorgt betrachtete sie sein misshandeltes Gesicht, während sie ihm Stillen zählte. Nachdem sich auch sein Blutdruck als stabil und nicht besorgniserregend herausgestellt hatte, begann sie sein malträtiertes Gesicht mit Mull und Desinfektionsmitteln zu säubern. Sie legte den Kühlakku zurück auf Toms Veilchen und beugte sich über seine Platzwunde. Gesäubert sah sie gar nicht mehr so schlimm aus, wie Ari erst befürchtet hatte. Jod und zwei Strips sollten reichen und sie kam erleichtert ums Nähen herum.
Die kleineren Kratzer säuberte sie und trug eine dünne Schicht antiseptische Bepanthen Salbe auf. Ari schluckte schwer, sah sich nach seiner Mutter um, doch sie war noch in der Küche. Sie zog die Handschuhe aus und hob langsam die rechte Hand. Vorsichtig strich sie ihm über die Wange. Die Haut fühlte sich rau unter den Bartstoppeln an. Wie von selbst wanderten ihre Finger weiter zu seinem leicht geöffneten Mund. Die aufgeplatzte Lippe war angeschwollen und doch wollte Ari sich am liebsten über ihn beugen und sie mit ihren eigenen berühren.
Katrin trat zurück durch die Tür, zwei dampfende Tassen in der Hand und Ari zog schnell die Hand zurück. Sie bückte sich nach der Tasche und kramte darin herum. Sie war sich sicher, auch eine Tube Biofreeze gesehen zu haben. Als sie die Salbe fand, stellte sie fest, dass sie halb leer war, doch es würde noch reichen. Katrin stellte eine Tasse auf dem Tisch ab, die andere behielt sie in der Hand.
Ari sah zu ihr auf und zeigte ihr die Tube.
„Das hier ist Biofreeze, ich lass es Ihnen da. Es wirkt kühlend und schmerzlindernd, nicht nur bei blauen Flecken, auch bei Zerrungen, Prellungen und Ähnlichem", erklärte Ari, während sie Tom vorsichtig damit einschmierte. „Das kann er gern weiter verwenden. Und keine Sorge, er scheint höchstens eine kleine Gehirnerschütterung zu haben. Das wissen Sie spätestens, wenn ihm die nächsten Tage speiübel ist. Er soll sich ausruhen, möglichst liegen bleiben und viel schlafen und trinken, und sein Auge kühlen. Sobald er es öffnen kann, aber die Sicht nur verschwommen ist oder er gar nichts sieht, muss er aber auf jeden Fall zu einem richtigen Arzt!"
„Danke, Ariel, vielen Dank!" Die Frau lächelte bekümmert. „Ich kann dir leider nichts..." Sie stockte. Ari winkte ab. „Ach alles gut!" Sie griff nach dem Kaffee. „Das reicht völlig! Zur Sicherheit schick ich Ihnen aber meine Mama noch mal vorbei. Sie hat heute Nachtschicht, aber das hat sie Ihnen sicher schon selbst gesagt."
Die Frau neigte leicht den Kopf. „Du bist selbst gar keine Krankenschwester, wie Cornelia?"
„Ääähm...", Ari kratzte sich verlegen am Kopf. „Nein, ich studiere Veterinärmedizin und arbeite bei Dr. Tomalik, in der Tierklinik."
Katrin nickte. „Verstehe, deshalb warst du so nervös. Aber das sah sehr gut aus." Sie zwinkerte. „Genau wie bei deiner Mutter."
Ari lächelte geschmeichelt. „Ich geb' mir Mühe, aber ich war froh, dass die Kopfwunde nicht unbedingt genäht werden muss." Sie machte eine Grimasse.
„Huuh...!"
Die beiden Frauen wendeten ihre Köpfe zum Patienten, der sich leicht zu bewegen begann.
„Tommy, Schatz, bleib ganz ruhig!", sagte seine Mutter und griff nach seiner Hand.
Ari zog sich beunruhigt zurück, plötzlich Angst davor, was er sagen würde, wenn er erwachte und sie erkannte. Sie stand auf und sammelte alle Utensilien zusammen.
„Ich geh jetzt lieber und lass Sie allein. Ist, ääh... ja auch schon spät", sagte sie hastig, sich dessen bewusst, dass es eine Ausrede war und genau so klang."
Katrin drehte sich zu ihr um. „Danke noch mal, Ariel. Grüß auch deine Mutter von mir."
Ari nickte, hob sich die Tasche über die Schulter und warf einen letzten Blick auf Tom. Und direkt in sein offenes Auge. Er blinzelte mehrfach, doch er sah sie eindeutig an. Bevor er etwas sagen konnte, ergriff Ari die Flucht.
Zum Glück war Katrin ganz von ihrem Sohn eingenommen und bestand nicht darauf sie zur Tür zu begleiten. Sie zwang sich die Wohnung in einem normalen Tempo zu verlassen, doch die Treppen im Hausflur rannte sie herunter, als verfolge sie ein Massenmörder. Die Haustür fiel ins Schloss und Ari lehnte sich atemlos dagegen, sie drückte die Tasche an ihre Brust und rutschte an der Tür nach unten.
„Fuck...", flüsterte sie. „Das kann doch alles nicht wahr sein."
Sie atmete tief durch, hob den Blick zum Himmel und war fast erleichtert, dass die Lichter der Straßenlaternen die Sterne vor ihr verbargen. Seufzend rappelte sich die junge Frau wieder auf und macht sich auf den Heimweg.
Zuhause angekommen schrieb sie ihrer Mutter, dass alle okay wäre, aber sie sich besser fühlen würde, wenn eine Krankenschwester für Menschen noch mal einen Blick auf den Patienten werfen würde.
Sie brachte die rote Sani-Tasche zurück an ihren Platz und ging ins Bad. Langsam zog sie sich aus und stellte sich im Dunkeln unter die Dusche. Regungslos verharrte das Mädchen mit geschlossenen Augen mehrere Minuten unter dem lauwarmen Wasser. Toms Gesicht erschien in der Dunkelheit und verwandelte sich vor ihren inneren Augen zu einer blutverschmierten Grimasse des Schmerzes. Was ist ihm zugestoßen? Wieso hatte sie Katrin nicht danach gefragt. Vielleicht wusste ihre Mutter es. Es ging sie eigentlich nichts an, doch sie wusste auch, der Gedanke und die Fragen würden ihre keine Ruhe lassen.
Sie schrubbte sich ab und verließ hellwach die Dusche. In ein Handtuch gewickelt warf sie sich auf die Couch, schaltete den Fernseher an und startete Netflix, entschlossen wachzubleiben und auf ihre Mutter zu warten.
Cornelia ließ auf sich warten. Es war bereits 8 Uhr morgens und sie sollte eigentlich inzwischen zu Hause sein. Ari tigerte im Kreis durch die Wohnung. Sie setzte Kaffee auf und begann aufzuräumen, nur um etwas zu tun zu haben.
Als Cornelia endlich von der Nachtschicht kam, stürmte Ari ihr sofort entgegen. Anklagend baute sie sich vor ihrer Mutter auf und stemmte die Fäuste in die Seiten.
„Wo warst du? Wieso hat das so lange gedauert?!"
Perplex blinzelte Cornelia und schob sich um ihre Tochter herum, und zog in aller Seelenruhe Jacke und Schuhe aus.
„Mama!"
Ungeduldig verfolgte sie ihre Mutter, die gähnend in die Küche ging, dem Geruch des Kaffees folgend.
„Ich war bei Katrin und deinem Patienten. Du wolltest doch, dass ich noch mal nach ihm sehe."
Ari riss die Augen auf. „Und? Alles gut mit ihm?"
„Du hast nicht genäht", stellte ihre Mutter fest und sah sie über den Rand ihrer Kaffeetasse streng an. „Du siehst furchtbar aus, Kind. Hast du nicht geschlafen?"
Ari erwiderte den Blick schuldbewusst und knetete nervöse ihre Hände.
Cornelia lächelte. „Beruhig dich, Ariel, du hast alles richtig gemacht – ich hätte auch nicht genäht."
Der Rotschopf stieß erleichtert die Luft aus. „Weißt du, was mit ihm passiert ist?"
Cornelia hob die Schulten. „Er macht wohl irgendeinen Kampfsport."
Ari schluckte. Für einen Kampfsport hat er die Uni geschmissen? Da muss doch mehr dahinter stecken. Sie gähnte ausgiebig.
„Ich geh ins Bett...!"
„Du bist tatsächlich bis jetzt wach geblieben? Hab ein wenig mehr Vertrauen in deine Fähigkeiten, Schatz." Cornelia tätschelte ihr die Wange. „Übrigens, scheinst du Eindruck hinterlassen zu haben."
Ari, hellhörig geworden, sah fragend auf.
„Thomas, so heißt der Junge, hat mich nach deinem Namen gefragt", grinste die ältere Frau.
Ari erbleichte, doch gleich darauf spürte sie die Hitze in ihrem Kopf, als ihre Wangen die Farbe ihrer Haare annahmen. Ihre Mutter lachte.
„Und... ", stammelte Ari. „Hast du ihm meinen Namen verraten?"
„Alles andere wäre unhöflich gewesen, Kind."
„Ja, und? Muss man dir nach der Nachtschicht immer alles aus der Nase ziehen?"
Cornelia grinste verschmitzt. „Ich hab dich als Ariel vorgestellt." Sie machte eine dramatische Pause und Ari wurde übel und schwindelig vor Nervosität. „Und er hat genickt und dann leise 'Ari' gesagt."
Nun sah Cornelia ihre Tochter erwartungsvoll an. Die biss sich auf die Lippe und starrte auf ihre Füße.
„Ihr kennt euch, oder?"
Ari schluckte und kämpfte gegen die Tränen, die sich plötzlich in ihren Augenwinkeln sammeln und ausbrechen wollten.
„Ich bin todmüde", flüsterte sie heiser, drehte sich auf dem Absatz und stürmte in ihr Zimmer.