„RIIIIIING."
Ari blinzelte benommen. Sie war mit dem Kopf auf der Schreibtischplatte eingedöst. Ihre Wange fühlte sich feucht an.
„RIIIIIING!"
Sie hob langsam den Kopf. Eine kleine Pfütze ihres Speichels schimmerte im gedämpften Licht, wo eben noch ihr Kopf gelegen hatte. „Uurks..." Sie hatte im Schlaf gesabbert und wischte sich mit dem Handrücken über Mund und Wange.
„RIIIIIING!"
Erschrocken wendete sie den Kopf. Das im Flur eskalierende Telefon hatte sie geweckt und verlangte noch immer ihre Aufmerksamkeit. Schwerfällig erhob sie sich, rieb sich die Augen und wankte noch immer schlaftrunken zu dem Störenfried. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: 23:57. Seufzend fragte sie sich, wer die Unverfrorenheit besaß, um diese Uhrzeit anzurufen und hob den altmodischen Hörer vom Gerät.
„Hallo..?" – „Ariel? Es tut mir so leid, dass ich Sie jetzt noch störe? Ich hoffe, Sie haben noch nicht geschlafen?" – „Wer..?" – „Oh, Entschuldigung! Hier ist Katrin, Thomas Mutter? Sie erinnern sich?" – „Oh, ja, sicher. Kein Problem. Alles in Ordnung?" –„Nun ja... nicht so richtig. Es ist wieder wegen Thomas. Ist Ihre Mutter da?" – „Nein, sie hat Nachtschicht. Und bitte, Sie können mich sehr gern duzen! Kann ich vielleicht helfen?" – „Oh, okay, gern. Ach, Ariel, ich weiß nicht. Er ist wieder bei so einem furchtbaren Kampf gewesen und hat sich die Schulter ausgerenkt... und, naja, hat auch sonst einiges abbekommen." – „Verstehe. Meine Mama kommt erst gegen um 7 nach Hause, aber ich kann gerne rüber kommen, wenn Sie wollen. Die Schulter muss möglichst schnell wieder eingerenkt werden." – „Wärst du so lieb?" – „Klar... wenn Tom nichts dagegen hat..." – „Tommy hat sich das selbst eingebrockt und hat gerade nichts zu melden!" – „Hahaha. Na dann. Ähm, haben Sie irgendwelche stärkeren Schmerztabletten?" – „Ja, Ibuprofen 600." – „Geben Sie ihm zwei davon, er wird Höllenschmerzen haben und das Einrenken ist auch nicht unbedingt angenehm." – „Ist gut." – „Okay, bis gleich."
Ari ließ den Hörer auf die Gabel sinken und erinnerte sich an ihr letztes, sehr kurz angebundenes Gespräch mit Tom. Das war inzwischen einige Wochen her, doch er würde sicher dennoch alles andere als begeistert sein, sie über seine Schwelle treten zu sehen. Sie seufzte und griff sich an die Nasenwurzel. Es half alles nichts. Sie hatte versprochen zu helfen und würde jeden weiteren Gedanken oder aufkeimende Emotion unterdrücken müssen.
Ergeben schlurfte sie in ihr Zimmer, schälte sich aus ihren bequemen Kuschelklamotten und tauschte sie gegen Jeans und T-Shirt. Zögernd griff sie einen Pulli und sah zum Fenster. Das Kleidungsstück in der Hand, ging sie raus auf den Balkon zum Temperaturcheck. Die Nacht erwies sich als angenehm lau, doch das Mädchen warf sich den Hoodie trotzdem über die Schulter. Die gut ausgestattete Medi-Tasche ihrer Mutter fand Ari an ihrem Platz, im Schlafzimmerschrank ihrer Mutter. Sie schlüpfte in ihre Vans, warf sich die Tasche über die Schulter und legte den Pullover darauf, löschte das Licht und verließ ihre Wohnung. Ari erwog kurz bei ihrer Nachbarin zwei Etagen tiefer zu klingeln und sie um ihre Simson S51 zu bitten, verwarf den Gedanken aber gleich wieder, als ihr einfiel, wie spät es schon war.
Sie beeilte sich und lief so schnell durch die Straßen, dass sie fast rannte. Trotzdem war sie gehörig außer Atem, als sie an ihrem Ziel ankam, verschwendete aber keine Zeit damit, Luft zu schnappen, sondern drückte sofort die Klingel. Wie erwartet beantwortete Katrin die Gegensprechanlage: „Ariel?" –„Jap."
Der Summer ertönte, Ari drückte die schwere Tür auf und hechtete die Treppen nach oben. Katrin stand in der Tür und nahm ihr zerknirscht lächelnd die Tasche ab.
„Es tut mir so leid...", begann sie mit dünner Stimme, doch Ari winkte keuchend ab. Sie rang einen Moment nach Luft und betrachtete die kleine Frau. Sie erschien ihr dünner als bei ihrem letzten Besuch. Eine ungesunde Blässe und zeugte von Strapazen, nach denen Ari sich nicht zu fragen traute. Und sie sah unglaublich müde aus. Ari beschloss erst einmal ihre Mutter nach Katrin zu fragen, denn sie wollte der Frau nicht zu nahe treten. Auf Zehenspitzen trat sie in den kurzen Flur und warf einen nervösen Blick ins Wohnzimmer.
„Er ist in der Küche", beantwortete Katrin die unausgesprochene Frage, deutete auf die nächste Tür zu ihrer Rechten und ging voraus. Ari folgte mit einem flauen Gefühl in der Magengegend und drängte ihre Unsicherheit zurück in die Schatten. Tom stand mit dem Rücken zu den beiden Frauen am Fenster und starrte stumm nach draußen. Er trug ein dunkelrotes T-Shirt, hatte jedoch nur einen Arm durch die Ärmel gesteckt. Der linke hing unter dem Shirt schlaf herab.
„Tommy, Ariel ist hier. Hör auf dich wie ein Arsch zu verhalten und lass dir helfen!"
Der Befehlston der zarten Frau überraschte Ari und ließ sogar ihren Sohn leicht zusammenzucken. Widerwillig drehte er sich langsam und mit gesenktem Kopf um. Seine ganze linke Gesichtshälfte war rot und geschwollen, doch Ari entdeckte zumindest kein Blut. Tom schwieg und mied ihren Blick. Sie fasste ihren Mut zusammen und ging auf ihn zu.
„Hast du schon die Schmerztabletten genommen?", fragte sie und freute sich, dass sie automatisch in den Behandlungsmodus übergangen war und denselben souveränen Ton anschlug, wie bei allen Patienten, bzw. den Haltern ihrer Patienten.
Doch Toms Mund blieb fest geschlossen. Nach einer Sekunde sprang Katrin ein und antwortete für ihren Sohn. „Ich hab ihm zwei Tabletten gegeben, gleich nachdem wir aufgelegt haben."
Ari schluckte die Kränkung, dass dieser Kerl nun nicht mal mehr mit ihr redete, herunter und verschob ihre Empörung darüber auf später. Stattdessen nickte sie verkrampft und drehte sich zu seiner Mutter um. „Ich werde ihm jetzt das Shirt hochziehen", sagte sie absichtlich an Katrin gerichtet. Im Augenwinkel beobachtete sie Tom, der sich bei ihren Worten versteifte.
„Hinsetzen!", befahl sie dem jungen Mann streng und erntete das kurze Flackern eines ungläubigen Blickes. Es löste eine gewisse Befriedigung in ihr aus. Doch er gehorchte schließlich und ließ sich auf einem Holzstuhl am Küchentisch nieder. Mit ruhigen Händen krempelte sie sein Shirt hoch, versuchte verbissen ihn nicht direkt zu berühren, zog es ihm jedoch nicht ganz aus. Sie betrachte seinen Körper und bemerkte, dass er ziemlich an Muskeln zugelegt hatte. Er war früher schon athletisch gewesen, doch jetzt... Sein Hobby sich verkloppen zu lassen, schien auch Muskelaufbautraining zu beinhalten. Es stand ihm. Trotzdem macht dieser Kampfsport ihn nicht attraktiver. Sein Oberkörper war gezeichnet von frischen und bereits verblassenden Blessuren. Ganz zu schweigen von seinem Gesicht. Sie biss sich auf die Lippe und riss sich von seinem versehrten Anblick los.
„Häng den Arm über die Lehne, so dass die Kante in deiner Achsel ist!"
Tom folgte auch dieser Anweisung ohne Widerspruch, doch sein Gesichtsausdruck spiegelte deutliches Misstrauen wieder. Ari ignorierte ihn. Sie hatte vor einer ganzen Weile mal einem Arzt, während eines Praktikums, bei ihrer Mutter im Krankenhaus, dabei zugesehen, der eine Schulter wieder eingekugelt hatte. Sie rief sich die Erinnerung ins Gedächtnis und spielte sie vor ihrem mentalen Auge ab. Ziehen, gleichzeitig drehen und schnapp.
„Das wird jetzt scheiße wehtun, aber halt trotzdem still." Sie wartete nicht auf irgendeine Form der Zustimmung, griff sich mit der Linken sein Handgelenk und mit der rechten Hand seinen Ellenbogen. Sie winkelte Toms Arm vorsichtig um 90 Grad an. „Ich zähl bis drei..."
„Eins!" Ari zog langsam, aber mit Kraft seinen Arm nach oben. Tom biss die Zähne zusammen und sog scharf die Luft ein. Es knackte dumpf und der Knochen sprang zurück in die Gelenkpfanne. Das Mädchen ließ nicht sofort los und legte ihm den Arm wieder leicht angewinkelt an den Körper. Ihre Augen klebten an ihren Fingern, die seine warme Haut berührten und sie erinnerte sich an das Gefühl seines Armes, der sie umschlungen hielt.
„Halt den Arm in dieser Lage und beweg dich nicht." Sie tastete die Schulter ab und wandte sich zu Katrin um. „Er muss eine Schlinge tragen, mindestens eine Woche. Einfach ein Stück Stoff oder Handtuch zu einem Kreis binden und den Arm rein legen. Danach wär eigentlich Physio gut, um die Schulter zu festigen. Die kann er aber auch allein machen, es gibt ein paar ganz gute Videos auf YouTube. Aber langsam und allmählich intensivieren und auf sportliche Aktivitäten sollte erstmal verzichtet werden, sonst ist die Gefahr einer erneuten Ausrenkung hoch. Bei schlimmen Schmerzen kann er Ibus nehmen, aber sparsam. Es gibt auch ein paar homöopathische Sachen die gut gehen, zum Beispiel die Schulter mit Cayenne-Pfeffer und Olivenöl einreiben oder Baldrian oder Rosmarin- oder besser noch Lavendelblütenöl und heiße Umschläge."
Katrin quittierte jedes Wort mit einem dankbaren Nicken und eilte aus dem Raum, als Ari geendet hatte. Das Licht der Deckenlampe ließ ihre Haut bleich und wächsern glänzen, doch Ari verkniff sich die Frage nach ihrer Gesundheit. Sie würde ihrer Mutter jedoch in einen genauen Bericht erstatten, dass sie sich Sorgen um ihre Freundin machte. Katrin kam mit einem weißen Tuch zurück und band es zusammen. Ari machte der Frau Platz, damit sie es ihrem Sohn umlegen konnte.
Mit einer Ruhe und Selbstbewusstsein, die das Mädchen sich selbst kaum zugetraut hätte, griff sie schließlich nach Toms Kinn und hob seinen Kopf an. Überrumpelt ließ er es geschehen und sah ihr einen Herzschlag lang in die Augen. Seine dunklen Augen waren blutunterlaufen, das linke halb zugeschwollen. Ari brach zuerst den Blickkontakt und begutachtete ausdruckslos die Schwellungen.
„Ich rieche kein Menthol! Das Biofreeze ist nicht zum Angucken da", bemerkte sie kalt und ließ Toms Kiefer los.
„Ähm", meldet sich da wieder Katrin kleinlaut zu Wort, und schenkte ihrem sturen Sohn einen bösen Blick, „ich fürchte das Gel ist aufgebraucht."
„Oh", machte Ari nur. „Ich hab leider kein neues dabei. Aber altmodische Kühlung tut's auch."
Sie warf noch einen letzten Blick auf den Mann und fragte sich, warum das Leben so scheiße zu ihr war. Er sah wieder an ihr vorbei aus dem Fenster, offensichtlich wieder entschlossen sie keines Blickes und Wortes zu würdigen. Missmutig wendete sich die Studentin ab. Der Kerl übertrieb es gewaltig, aber sie war es leid ihm hinterher zu rennen. Sein Pech! Ari blinzelte, klärte ihre Gedanken und verließ den Raum. Katrin brachte sie zur Tür und reichte ihr die schwere Sani-Tasche. Ari lächelte höflich und bedankte sich mit einem stummen Nicken. Die Frau öffnete ihr die Tür, sie trat hindurch, drehte sich dann aber noch mal zu der blassen Gestalt um.
„Katrin, wenn seine Schmerzen nicht deutlich nachlassen, melden Sie sich bitten. Es sah nicht so aus und fühlte sich nicht so an, als wären Nerven oder Knochen an der Schulter verletzt, doch falls es sich nicht bessert und er weiterhin starke Schmerzen hat, müssen Sie es mich oder meine Mama sofort wissen lassen!"
„Ist gut und vielen Dank, Ariel. Und... bitte entschuldige Toms kindisches Verhalten. Ich weiß nicht was er hat."
„Ist schon gut, er kann mich einfach nicht leiden, schätze ich. Dann gute Nacht."
„Gute Nacht, komm gut nach Hause."
Ari lächelte schwach und machte sich auf den Heimweg. Nachdem sie durch die Haustür getreten war, stellte sie die Tasche ab und zog sich ihren Hoodie über. Es fröstelte sie, doch sie war sich nicht sicher, ob es an der kühleren Nachtluft oder Toms eisiger Stimmung lag. Wenn er nicht mehr mit ihr zusammen sein wollte, wieso sagt er es ihr nicht einfach, statt dieses alberne Theater aufzuführen. Sie war ein großes Mädchen und würde damit umgehen können. Wenn er weiter diesen sogenannten Sport ausüben wollte, aber nicht zum Arzt wollte, musste er sich damit abfinden, dass seine Mutter nach ihr oder ihrer Mutter rief. Er könnte sogar so tun, als wäre nie etwas zwischen ihnen gewesen. Auch damit würde sie klar kommen. Alles war besser als diese undankbare und beleidigende Art von Ignoranz. Sie verstand den Mann einfach nicht. Waren alle Kerle so bescheuert?