Ari starrte blind in violett-rote Wolken, die sie an das näher rückende Ende des Tages erinnerten. Eine Hand in die tiefe Tasche ihres Kittels vergraben, die andere, eine glimmende Selbstgedrehte zwischen Zeige- und Mittelfinger, vollzog immer wieder mechanisch die Bewegung zu ihren Lippen und zurück, in eine träge, herabhängende Position.
Die vergangenen Tage waren unbemerkt zu Wochen geworden. Sie hatte seit fast zwei Monaten jeden Tag in der Praxis gearbeitet und an den Wochenenden in der Tierklinik ausgeholfen. Das Verstreichen der Zeit erschien ihr trotz wechselnder Lichtverhältnisse von Tag zu Nacht kaum wahrnehmbar, bis zu diesem Moment, in dem sie darüber nachdachte.
Jeden Tag war sie mit der Sonne aufgestanden, mit dem Rad zur Arbeit gefahren und am späten Nachmittag verabschiedete sich, und beeilte sich nach Hause zu kommen. Dr. Tomalik, ihre Chefin in der Praxis, hatte nach den ersten beiden durchgearbeiteten Wochen gefragt, ob alles in Ordnung mit ihr sei, da sie bereits weit über die Vereinbarung ihres Arbeitsvertrages hinaus arbeitete. Ari entgegnete, dass sie gern in der Praxis war und half – und das meinte sie auch. Sie äußerte die Hoffnung, jede Gelegenheit nutzen zu dürfen, ihr angelesenes Wissen anzuwenden und durch praktische Erfahrungen auszubauen, anstatt nur Bücher zu wälzen. Mit der indirekten Bitte rannte sie bei der renommierten Tierärztin offene Türen ein. Dr. Tomalik bezog Ari von da an insbesondere in außergewöhnliche und schwierige Fälle mit ein, prüfte sie im Stellen von Diagnosen und ließ sie gelegentlich sogar bei OPs assistieren.
Jeden Abend sank Ari todmüde ins Bett, so ausgelaugt, dass sie zum Grübeln und sehnsuchtsvollen Nachdenken nicht mehr fähig war.
Nach über acht Wochen, in denen sie nicht an Thomas gedacht hatte, fiel es ihr heute zum ersten Mal auf. Warum, konnte sie sich nicht erklären. Vielleicht die Jahreszeit...
Auch er hatte sich nicht noch einmal gemeldet. Wer weiß, ob er es je wieder tun würde. Sie wusste nicht recht, wie sie sich bei dem Gedanken daran fühlen sollte. Körperlich und geistig ausgebrannt, wie sie im Moment war, fühlte sie scheinbar nichts, als eine schwere Taubheit und das Verlangen nach Schlaf.
Womöglich hatte sie es aber mit der vielen Arbeit auch nur ein wenig übertrieben. Sie wischte sich über die Augen, nahm einen letzten tiefen Zug und drückte ihre Zigarette in den überquellenden Aschenbecher, der auf der Fensterbank zu ihrer Rechten stand. Die Tage wurden merklich kürzer und sie würde Dr. Tomalik bald bitten müssen, eher gehen zu dürfen. Vor Einbruch der Dämmerung.
Keine zwei Wochen mehr und die Semesterferien würden vorbei sein. Dann würde sie ebenfalls nur noch eingeschränkt für die Praxis zur Verfügung stehen. Doch bis dahin war noch etwas Zeit. Mehr Zeit zu heilen und die brauchte sie, auch wenn sie die Grenzen ihrer emotionalen Wunden nicht mehr richtig abzustecken wusste. Sie überließ sich nur zu gern dem grauen Dunst, der immer dann ihre Gedanken und Gefühle zu narkotisieren schien, wenn es gerade keine veterinärmedizinischen oder fachverwandten Fragestellungen zu lösen galt.
Der Tag, sowie auch der nächste und übernächste verstrichen wie die Vorangegangenen. Ari saugte Wissen auf, verfeinerte ihre Fingerfertigkeiten, Routine-Behandlungen gingen ihr in Fleisch und Blut über und die Stunden außerhalb der tierärztlichen Einrichtungen entglitten ihrer Wahrnehmung. Einzig unterbrochen, von den gelegentlichen Unterhaltungen bei Frühstück oder Abendessen – ja nach Schichtdienst – mit ihrer Mutter. Cornelia hatte noch einige Male gefragt, ob alles in Ordnung sei, es jedoch irgendwann aufgegeben. Trotzdem erwähnte sie beiläufig immer wieder Thomas Namen, wenn sie eigentlich über seine Mutter und ihren Krankheitsverlauf sprachen, der sich schleppend, jedoch unaufhaltsam verschlechterte.
Ari hatte inzwischen keine Schwierigkeiten mehr einen völlig neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. Katrin, und natürlich auch ihr Sohn, taten ihr furchtbar leid, doch sie konnte an der Situation nichts ändern und wusste, dass sich keine der beiden Betroffenen von ihrem Mitleid etwas kaufen konnte. Ihre eigene Mutter jedoch brauchte sie, um darüber zu reden, sich ihre eigene Betroffenheit von der Seele zu reden. Katrin war Connys beste und älteste Freundin und sie war ebenso machtlos wie Ari. Jeden Tag musste sie mit ansehen, wie ihre Freundin weiter dahinsiechte, während sie an ihrem Krankenbett war und Thomas bei der Pflege seiner Mutter unterstützte.
Conny hatte ihre Tochter nicht gefragt, ob sie mal mitkommt und Ari war unendlich froh und erleichtert darüber. Sie wusste, sie hätte nicht 'Nein' sagen können, doch je mehr Zeit verging, umso mehr sträubte sich alles in ihr, noch einmal dorthin zu gehen. Vielleicht verschonte Conny sie auch, um sie in ihrem vermeintlichen Liebeskummer nicht mit dem Anblick des Auslösers zu quälen. Wenn das nur alles wäre. Einfacher Liebeskummer erschien Ari inzwischen wie ein banales Luxusproblem.
Obwohl gelegentlich sein Name fiel, berichtete Conny nie über Thomas physischen Zustand. Ari schloss daraus, dass es nicht Erwähnenswertes gab und es ihm, zumindest in diesen Belangen gut ging und es keine Verletzungen zu versorgen galt. Sie war sich sicher, dass ihre Mama es ansonsten irgendwie angesprochen hätte. Denn genau wie ihre Mutter, hätte sie der Zustand eines Patienten, wenn man Thomas denn als solchen bezeichnen konnte, unter allen Umständen weiterhin interessiert. Ganz gleich, ob sie in einem emotionalen Konflikt miteinander standen.
~ ~ ~
„Steh auf!", brüllte die tiefe Stimme seines Trainers.
„9."
„Tommy, mach schon, kämpfe!"
„8."
„Kämpf!", stieg eine zweite Stimme mit ein. Jannik. Verschwommen erkannte Thomas die beiden am Rande des Rings. Rote schlieren erschwertem ihm die Sicht. Sein Kopf dröhnte. Er war sich nicht sicher wo Oben, wo Unten war. Lag er auf dem Rücken? Oder auf dem Bauch? Das einzige was er wahrnahm, war der Schmerz.
„7."
Er versuchte ihn zu lokalisieren, doch es gelang nicht. Irgendetwas schien sich in seine Magengrube zu fressen und gleichzeitig die Muskeln zwischen seinen Schultern zu zerreißen. Das dumpfe Pochen hinter seinen Schläfen wanderte in seine Ohren und wurde im lauter.
„6"
„Thomas, komm schon. Du musst nur noch einmal aufstehen."
„5."
Er konzentrierte sich aufs Luftholen. Seine Lungenflügel wölbten sich seinen Rippen entgegen und verbrannten sich sofort an einem scharfen Schmerz. Er hustete qualvoll, spürte zähen Speichel, der nach Eisen schmeckte und über seine Unterlippe quoll. Er blinzelte gegen die tanzenden bunten Flecken vor seinen Augen an. Seine Pupillen weigerten sich, ihm zuverlässige Informationen zu liefen und seine Augen schlossen sich noch einmal mit flatternden Lidern.
„4."
Vier. Scheiß drauf, Thomas. Scheiß einfach drauf. Noch vier.
Ein schmerzhaftes Ziehen in seinem rechten Bein verriet ihm, wo es sich befand. Er spannte seine Wade an, setzte den Fuß auf den Boden und erinnerte sich, dass sein linkes Bein direkt neben an war. Beide Beine angewinkelt und die Füße auf dem Boden, wusste er endlich, dass er auf dem Rücken lag. Er versuchte es nochmal mit atmen. Seine Lungen blähten sich und da war auch der Schmerz. Doch er schien geringer zu sein.
Ach fuck, was soll's.
„3."
Thomas öffnete die Augen einen Spalt breit, sah die graue Decke über sich und das helle Licht der Scheinwerfer. Zu seiner linken stand ein großer Kerl in einem hellen Shirt, eine Hand in der Luft und drauf und dran den Arm mit Schwung fallen zu lassen. Mühsam wälzte er sich auf die Seite, unterstützt vom sofort einsetzenden Gebrüll von Jannik und Peter, stemmte er die Arme auf den Boden und drückte sich hoch und auf die Knie.
„2."
Strauchelnd und mit weichen Knien erhob er sich langsam und kämpfte um sein Gleichgewicht.
Keine Eins.
Er hob den Blick und erkannte seinen Gegner auf der anderen Seite des Ringes. Er sah fast so aus, wie Thomas sich fühlte. Ein schiefes Grinsen zierte seine blutige und aufgequollene Lippe und Thomas spürte, dass er es erwiderte, als die dünne Haut auf seinen Lippen so sehr spannte, dass er glaubte, sie müsse zerreißen.
Mit dem Läuten der Glocke, schwoll das Grölen der Menge auf seinen neuen Höhepunkt an. Sein Gegen er ließ sich auf einen Hocker in seiner Ecke fallen und wurde sofort vom breiten Rücken eines Mannes verdeckt, der ihm vermutlich Wasser in den Mund spritzte und das Blut aus seinem Gesicht wischte. Thomas dreht sich schwerfällig um und sah in das strahlende Gesicht seines Sparringspartners, der ihm zujubelte und seines Trainers, der zufrieden nickte und ihm einen Plastikbecher mit Strohhalm reichte.
„Nur noch eine Runde," rief er ihm zu. Thomas atmete innerlich auf und nahm einen zaghaften Schluck, um den Geschmack des Blutes aus seiner Mundhöhle zuwaschen. Er hatte in diesem Kampf mal wieder hart einstecken müssen. Sein Gegner war zäh. Und unheimlich stark. Stärker als er. Er hatte keine Ahnung, wie er ihn bezwingen sollte, doch es war auch viel wert, wenn er diesen Kampf nicht mit einem K.O. seinerseits beendete. Er musste sein Gleichgewicht wiederfinden und das schnell.
Fünf Minuten. Dann war es vorbei. So oder so.
Als die Glocke das Signal für die dritte und letzte Runde gab, schien der trötende Ton sämtliche anderen Geräusche mit sich in eine absolute Stille zu reißen, nur unterbrochen vom Rauschen des Blutes in seinen Ohren.