Ari und Jannik schwatzten unbefangen miteinander, während sie durch den Luisenpark spazierten. Er fragte sie interessiert nach ihrem Studium und überraschte Ari, als er sich sogar noch an ihr Fach erinnerte. „Wie läuft's an der Uni? Tiermedizin war's, oder?" Ari nickte lächelnd. „Genau. Ja, läuft eigentlich ziemlich gut. Es gibt viel lernen, aber es ist cool." „Welches Semester bist du?" „Im Fünften." „Also ungefähr Bergfest?" Ari lachte und wiegte ihren Kopf. „Wird sich zeigen. Das Physikum, also quasi die Zwischenprüfungen, hab ich in den letzten Semesterferien gemacht. Etwas eher, als wahrscheinlich üblich."
Sie kratzte sich verlegen am Kopf. „Aber bevor ich Thomas quasi wieder getroffen hatte, hatte ich viel Zeit und wenig Anderes als Lernen zu tun." „Was ehrlich?", fragte Jannik und sah sie erstaunt und schmunzelnd von der Seite an. „Keine wilden Studentenfeiern und jedes Wochenende eine andere Homeparty bei Freunden?" „Nein", gab Ari beinahe beschämt zu und zuckte mit den Schultern. „Viele Freunde und Partys und so, hat sich beim Lernen und Arbeiten irgendwie nie so richtig ergeben." „Ist nicht dein Ernst?! So hübsch und süß, wie du bist, willst du mir erzählen, dass nicht haufenweise Leute Schlange gestanden haben, um Zeit mit dir zu verbringen? Würde ich mit dir studieren, wär' ich der Erste in der Reihe!"
Ari errötete bei seinen Worten, könnte sich ein geschmeicheltes Lächeln jedoch nicht verkneifen. Verlegen wich sie seinem strahlenden Grinsen aus und hielt sich ihren Kaffeebecher an die Lippen. Nachdem sie einen großen Schluck getrunken hatte und sich bewusst geworden war, dass, sollte sie den Becher noch länger gegen ihre Lippen drücken, es langsam merkwürdig werden würde. Also wechselte sie das Thema. „Und du? Was machst du so, wenn du nicht gerade trainierst?"
„Ach naja", er macht eine wegwerfende Handbewegung. „Nur eine Ausbildung." „Zu was denn?" „Vermessungstechniker." „So Lage, Länge und Höhe von Gebäuden und Straßen und so?" Er grinste. „Ja, so ungefähr." „Klingt anstrengend", überlegte Ari und erinnerte sich an ein paar Vermesser, die im Sommer bei über 30° die Parallelstraße vermessen hatten. „Da seid ihr bei Wind und Wetter draußen, was? Aber ist sicher auch cool, nicht die ganze Zeit nur drinnen abzuschimmeln."
Jannik lachte und prustete leicht in seinen Kaffee. „Abschimmeln is' in der Ausbildung und später im Beruf auf keinen Fall drin. Und ich habe es mir ja ausgesucht. Ich habe überhaupt kein Bock auf irgendeinen reinen Bürojob, wo ich mal als gefrusteter, fetter Schreibtischtäter ende."
Ari grinste und nickte zustimmend. „Das will ich auch nicht! Wie weit bist du schon?" „Im 2. Jahr. Habe auch gerade meine Zwischenprüfung geschafft." „Gratuliere!" Jannik lächelte breit und Ari bemerkte wieder einmal, dass sie einfach nicht anders konnte, als es zu erwidern.
„Und", nahm Ari nach einigen Momenten, die sie einfach still und zufrieden nebeneinander her gegangen waren, ihr Gespräch so beiläufig wie möglich wieder auf, „kämpfst du auch richtig?"
„Du meinst so wie Thomas?", erwiderte er prompt. Ari nickte, bemüht, sich ihre Neugier und keimende Nervosität nicht anmerken zu lassen. Doch die Frage hatte ihr schon seid ihrer ersten Begegnung auf der Zunge gebrannt. Tom wollte sie sie jedoch nicht stellen. Nicht nur, weil sie unsicher war, ob er ihr überhaupt eine Antwort geben würde, sondern viel mehr, weil Ari nicht die Idee in Toms Kopf pflanzen wollte, dass sie sich mehr und anderweitig für Jannik interessieren könnte. Und nun hatte sie es geschafft, sich trotzdem in genau diese Situation zubringen, nur mit vertauschten Positionen der beiden Männer.
„Nein", sagte er und überraschte Ari mit dieser Antwort. „Ich trainiere den Kampfsport nur des Sports und der Bewegung wegen. Für richtige Wettkämpfe und sowas habe ich, glaube ich, nicht genug Talent. Und um ehrlich zu sein, habe ich auch wenig Motivation, mir ständig Veilchen schlagen und die Rippen prellen zu lassen." Er zwinkerte ihr zu und Ari war klar, dass er damit auf Tom anspielte. „Du meinst, Thomas hat eigentlich auch nicht genug Talent, für das was er tut?", formulierte sie vorsichtig, doch umso neugieriger. „Naja", begann er und kratzte sich grübelnd die kurzen, hellen Bartstoppeln am Kinn. „Eigentlich ist er ziemlich gut..." „Eigentlich?", hakte Ari nach, als er nicht gleich weitersprach. Jannik lächelte gequält. „Er könnte viel besser sein, aber bei diesen Veranstaltungen, deren Nachwirkungen du ja immer zu sehen bekommst, hakt irgendwas bei ihm aus. Ich versteh's nicht. Echt nicht."
Jannik schwieg eine Weile und schien darüber nachzudenken, während Ari sich fragte, ob der Grund für sein „Aushaken", der für sie Offensichtliche war – seine im Sterben liegende Mutter.
„Ich bin ja sein Sparringpartner, wie du weißt", sagte er und Ari nickte aufmerksam ansehend mit dem Kopf. „Deshalb bin ich auch meist mit auf diesen Veranstaltungen. Weißt du, im Training, ist Tom richtig gut. Im Gym kann es keiner mit ihm aufnehmen, wenn er ernst macht. Aber bei diesen Kämpfen... ich weiß nicht woran es liegt, scheint er seine Abwehrtechniken fast völlig zu vergessen. Es wirkt manchmal beinahe so, als wolle er den Schlägen seiner Gegner gar nicht ausweichen.“
Ari runzelte während Janniks Bericht die Stirn. Leider kam ihr seine Theorie gar nicht so abwegig vor. Im Gegenteil.
„Trotzdem hat er die meisten seiner Kämpfe gewonnen. Er ist einer der verbissensten Kämpfer, die ich je gesehen habe. Hat noch nie abgeklopft. Ich glaube fast, er verliert lieber das Bewusstsein oder mehr, als aufzugeben. Aber er kann auch echt krass was einstecken. Wie du ja wohl auch schon mehrfach gesehen hast. Und Tom hat eine derbe Linke. Wenn er ein, höchstens zweimal ordentlich getroffen hat, war das meist das Ende des Kampfes."
Trotz der zum Teil schmeichelnden Beschreibung, hatte Ari nicht das Gefühl, das Jannik seinen Trainingspartner bewunderte. Vielleicht machte er sich genauso Sorgen um ihn, wie sie selbst.
„Das ist nicht gesund", sprach Ari ihre Gedanken aus. Jannik nickte, zuckte aber machtlos mit den Schultern. „Ich stimme dir zu. Aber er ist alt und groß genug, für sich selbst zu entscheiden." „Ja...", seufzte Ari niedergeschlagen.
Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her und nippten beide gedankenversunken an ihren heißen Kaffees. Eine Spannung lag zwischen ihnen, die immer greifbarer zu werden schien. Das Gespräch über Thomas hatte ihrer zuvor unbeschwerten Unterhaltung die Luft genommen und Ari fühlte sich zunehmend unwohler.
„Du und Thomas", fragte Jannik unvermittelt, „seid ihr zusammen?" Die Frage überraschte Ari und sie spürte selbst, wie ihre Wangen warm und ihr Kopf rot wurde. Wie kam er darauf. Und was sollte sie sagen? Die Wahrheit – und Jannik damit eventuell den Weg für ernsthaftere Avancen ebnen? Oder so tun als ob, und riskieren, früher oder später aufzufliegen, spätestens aber, wenn Jannik ihr mit Thomas irgendwo begegnen und sie miteinander erleben würde. Und die emotionale Kälte, mit der Tom sie meist bedachte. Vor allem wenn sie nicht allein waren.
„Nein", entgegnete sie schließlich tonlos und konnte das Bedauern darüber nicht restlos aus ihrer Stimme heraushalten. „Unsere Mütter sind befreundet", erklärte sie, „und wir... naja, dadurch wohl irgendwie auch." „Hm", machte er nur und verriet nicht, was er von ihrer Antwort hielt. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln heraus, als ein Sonnenstrahl sie leicht blendete. Ari blinzelte und sah zum Horizont. Die Sonne neigte sich bereits gefährlich nach der Erde und erinnerte sie daran, dass es Zeit war nach Hause zu gehen.
„Ähm... ich muss jetzt langsam gehen", stammelte sie unsicher und erntete einen betroffenen Blick. Jannik konnte natürlich nicht wissen, dass sie es aus Angst vermied im Dunklen allein nach Hause zu gehen. Er musste annehmen, dass allein der Gesprächsverlauf sie davon trieb.
„Versteh mich nicht falsch", beeilte sie sich hinzuzufügen. „Ich habe mich echt gefreut, mit dir Kaffee zu trinken, und es war voll schön mit dir zu quatschen und spazieren zu gehen. Aber ich muss leider. Diese Prinzessin hat leider nicht bis Mitternacht, sondern nur bis zum Einbruch der Dunkelheit." Sie zwinkerte und grinste verschmitzt, um die Stimmung wieder etwas zu lockern. Und wunderbarer Weise lächelte Jannik sofort wieder und rechte ihr galant den Ellenbogen. „Dürfte ich die Prinzessin dann zu ihrem Drahtesel zurückbegleiten?" Ari grinste, dann ergriff sie seinen Arm, streckte die Nase in die Luft und bemühte sich auf royale Weise zu stolzieren. Sie kamen jedoch nur wenige Schritte weit, bevor beide anfangen mussten laut zu lachen.
„Ihr seid zwar so hübsch wie eine Prinzessin, aber ich fürchte an Eurer Gangart müsst Ihr noch feilen, meine Teure!", schwadronierte Jannik absichtlich gestelzt und lächelte nachsichtig auf sie herab, als wäre er bereits der perfekte Gentleman. Ari, die geflissentlich das Kompliment überhörte, nahm Haltung an und neigte den Kopf. „Verzeiht, mein Herr, ich werde es gleich heute Abend zu Hause üben, um Euch nicht erneut in der Öffentlichkeit in Verlegenheit zu bringen", erwiderte sie geziert. Er nickte vornehm, straffte seinen noch immer angewinkelten rechten Ellenbogen und zog Ari damit wieder näher an sich heran. So liefen sie die kurze Strecke bis zu dem Café, wo ihre angeschlossenen Fahrräder auf sie warteten. „Also dann", sagte Ari und löste sich behutsam von ihm. „Ich habe mich sehr gefreut, dich mal näher kennenzulernen." Sie zog ihren Schlüssel aus ihrer dunkelgrauen Stoffumhängetasche und beugte sie herunter um, das Schloss zu öffnen. „Ich mich auch. Lass uns das gern mal wiederholen." „Ähm, ja, klar."
Jannik holte sein Handy aus der Tasche, wischte und tippe kurz darauf herum und hielt es ihr anschließend hin. „Gibst du mir deine Nummer?" „Klar." Sie nahm das schwarze Smartphone entgegen und gab ihre Telefonnummer in den vorbereiteten Kontakt ein. „Warte, ich klingel dich an, dann hast du meine auch gleich", sagte er, nachdem sie es ihm zurückgegeben hatte. „Okay", entgegnete sie, fischte das iPhone aus ihrer Tasche und wartete, bis es brummte und stumm seinen Anruf verkündete. Sie drückte ihn weg, speicherte Jannik als neuen Kontakt und steckte das Handy zurück in ihre Tasche. „Na dann, bis später und hab noch einen schönen Abend", verabschiedete sie sich und nahm ihr altes Klapprad, dass noch an der Laterne, gegenüber von Janniks Rennrad, lehnte. Er trat neben sie und zog sie wie selbstverständlich in eine freundschaftliche Umarmung. Ari versteifte sich instinktiv etwas, überrascht von dieser recht intimen Art Abschied von einander zunehmen, wo sie sich doch kaum kannten. Als er sich von ihr löste, lächelte er sie jedoch wie immer freundlich und unverfänglich an, als wäre es ihm nicht aufgefallen. „Komm gut heim", sagte er und schnappte sich eigenes Rad. „Du auch", erwiderte sie, schwang sich auf den Sattel und winkte ihm, bevor sie davonfuhr. Sie drehte sich nicht noch einmal um, um zu sehen, ob er ihr nachsah, fragte es sich aber insgeheim. Ari musste zugeben, dass dieser Bursche wirklich nett und charmant war. Er hatte ein überaus einnehmendes Wesen, ganz im Gegensatz zu Tom in letzter Zeit, und sie konnte sich einfach nicht dagegen wehren, Jannik zu mögen.
Auf dem Heimweg kehrten ihre Gedanken dennoch schnell zu Thomas zurück. Sie fragte sich, wie jeden Tag, wie es ihm ging und ob er an diesem Tag bei seiner Mutter gewesen war. Sie verspürte ebenfalls das Bedürfnis Katrin zu besuchen, ohne genau zu wissen wieso und was sie zu der Frau sagen sollte. Gleichzeitig war sie sich aber unsicher, ob ihr Besuch überhaupt angemessen war. Vielleicht war es besser, sie und ihren Sohn in Ruhe zu lassen und Informationen ausschließlich über ihre Mutter zu beziehen.