Thomas ging langsam und geistesabwesend durch die hellen Flure des Krankenhauses. Der Weg zum Zimmer seiner Mutter war ihm bereits so vertraut, dass seine Füße ihn wie selbst dorthin trugen. Seit nahezu zwei Wochen war er diesen Weg jeden Tag gegangen. Anfangs hatte ihm Ari mehrmals geschrieben und angeboten, ihn zu fahren. Doch Tom hatte jedes Mal abgelehnt, mit der Entschuldigung, er laufe lieber. Er bräuchte die Bewegung, die kalte Luft und Einsamkeit – um klar zu kommen. Seine Gedanken zu sortieren und sich auf das Unvermeidliche vorzubereiten. Was er ihr nicht sagte, war, dass er nach dieser intimen Szene in der Nacht seines letzten Kampfes und der Umarmung nach der Einlieferung seiner Mutter ins Krankenhaus, außerdem wieder einen gesunden Abstand zwischen sich und das Mädchen bringen wollte. Es gelang ihm jedoch nur bedingt. Zwar lehnte er jedes ihrer Angebote einsilbig und reserviert ab, um zu vermeiden sie zu sehen, doch seinem Kopf ließ sich nicht so einfach verbieten, ständig an sie zu denken und die Erinnerung ,an das Gefühl sie wieder in den Armen zu halten und fest an sich zu drücken, immer und immer wieder abzurufen.
Verärgert über sich selbst, schüttelte Thomas den Kopf, als könnte er sich so von seinen Gedanken befreien. Fast wie ferngesteuert war er inzwischen an seinem Ziel angelangt, seine Hand drückte bereits die Türklinke nach unten. Ohne anzuklopfen trat er ein.
Seine Mutter saß aufrecht, dem großen Fenster zugewandt, auf ihrem Bett. Lächelnd drehte sich die schmal gewordene Frau zu ihm um. Sie war zur Abwechslung vollständig bekleidet, nicht wie sonst in Pyjama und Morgenmantel. Etwas verwundet blieb Tom stehen und betrachtete seine Mutter nun etwas aufmerksamer. Obwohl von ihrem blonden Haar nur noch wenige, dünne Fusseln übrig geblieben waren, wirkte sie weniger blass und insgesamt munterer und kräftiger. Sie zwinkerte ihm zu.
„Schönes Wetter heute, nicht? Wie kalt ist es draußen?", fragte sie ungewohnt enthusiastisch.
„Äääh...", begann Tom irritiert, bevor er begriff, worauf seine Mutter hinauswollte. „Geht so. In der Sonne ist es angenehm. Bist du sicher" – „Ich bin sicher, Sohn, danke", schnitt Katrin im das Wort ab und deutete auf einen schmalen Garderobenschrank am anderen Ende des Raumes. „Bitte hol meine Jacke und die Stiefel!"
Tom nickte, stellte seinen Rucksack ab und kam der Aufforderung zügig nach. Er wusste nicht, wann es seiner Mutter das letzte Mal so gut ging und freute sich, ihr kleines Krankenhauszimmer endlich mal mit ihr zu verlassen. In einem der Fächer lagen noch eine dunkelblaue Fleecemütze und Wollhandschuhe, die Tom vorsichtshalber gleich mitnahm. Behutsam half er anschließend deiner Mutter in Mantel und die Schuhe, dann sah er sie fragend an. Er war sich nicht sicher, ob Katrin sich tatsächlich zutraute zu laufen.
„Die Schwester hat mir bereits einen Rollstuhl gebracht. Er steht hinter dir, neben der Tür", beantwortete Katrin die unausgesprochene Frage und ignorierte nachsichtig seine zweifelnde Miene. Tom drehte sich und entdeckte das einfache Gefährt. Es war ihm überhaupt nicht aufgefallen, als er gekommen war.
„Okay", sagte er beschwingt, ging auf den Stuhl zu und rollte ihn neben das Bett. „Wollen wir vielleicht noch nach einer Decke fragen?"
„Es müsste eine im Schrank liegen."
Tom half seiner Mutter in den Rollstuhl und bemerkte erschrocken, dass sie gefühlt so leicht wie eine Feder war. Er ließ es sich nicht anmerken, um die gute Stimmung nicht zu verderben und schob sie in Richtung Tür. Bevor er sie öffnete, trat er noch einmal an den Schrank, und tatsächlich lagen im obersten Fach mehrere dunkelgraue Decken. Er zog die oberste vom Stapel, breitete sie über den Beinen seiner Mutter aus und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn. Sie nickte dankbar und lächelte zufrieden. Tom grinste zurück und brachte seine Mutter nach draußen in die Sonne. Für Mitte Oktober war vergleichsweise mild, doch zog sich Katrin die Mütze über den Kopf, sobald sie durch die automatischen Türen nach draußen getreten waren. Tom schob seine Mutter eine Weile schweigend durch die Parkanlage. Außer ihnen waren nur wenige andere Menschen unterwegs und so genossen sie die Ruhe und betrachteten die vom Herbst bunt gefärbten Buchen und Ahornbäume, die ihr Kleid noch standhaft trugen. An einer Bank, hinter der eine hohe Hecke wuchs und einen gewissen Windschutz versprach, machten die beiden halt. Tom setzte und seine Mutter streckte eine Hand nach ihm aus. Er ergriff sie sofort, um sie in seiner Hand zu wärmen.
„Wie geht's Ariel?", fragte Katrin ohne Umschweife und sah ihrem Sohn neugierig ins Gesicht.
„Wieso fragst du das nicht Conny?", erwiderte er ausweichend.
„Na weil ich von Conny ganz andere Antworten bekommen würde. Mich interessieren deine Antworten. Trefft ihr euch gelegentlich?"
„Nein", sagte Tom schroff, der dieses Gespräch ganz und gar nicht führen wollte.
„Wieso nicht? Sie ist so ein süßes Mädchen. Und sie mag dich."
Tom presste die Lippen aufeinander und sah in eine andere Richtung.
„Thomas, sie will für dich da sein."
„Ach ja? Hat Conny dir das erzählt?" „Nein, Schatz. Das sieht selbst ein Blinder. Und ich bin deine Mutter. Und sehe das noch wesentlich deutlicher. Nur du scheinbar nicht. Oder magst du sie etwa nicht?"
Tom stöhnte genervt und sah hilfesuchend zum Himmel. Nicht dass er glaubte, von dieser Richtung aus welche erwarten zu können. „Könnten wir BITTE über was Anderes reden?"
„Hab ich einen wunden Punkt getroffen, mein Lieblingskind? Hör auf dich zu isolieren und lass dir helfen. Dieses Mädchen ist gut für dich."
„Aber ich bin nicht gut für sie", fuhr Tom seine Mutter von sich selbst überrascht an. Katrin blinzelte irritiert und öffnete den Mutter, doch Tom kam ihr zu vor. „Nicht, Mama. Bitte. Ich will nicht über sie reden!"
„Na schön. Aber das ist totaler Unsinn. Wieso solltest du nicht gut für sie sein?"
Tom starrte hartnäckig geradeaus und schüttelte den Kopf.
„Also gut", seufzte Katrin schließlich resignierend. „Dann kannst du mir ja vielleicht erzählen, wie es mit der Uni aussieht. Ich hoffe, du planst bald wieder dein Studium aufzunehmen."
Tom drehte sich langsam wieder zu ihr um. Er hatte früher oder später mit so einer Frage gerechnet, jedoch gehofft, dass das Thema eher untergehen und im Verlauf der Krankheit seiner Mutter nicht mehr relevant werden würde. Er biss sich schweigend auf die Lippe. Tom hatte bisher nicht wirklich daran gedacht an die Uni zurückzukehren. Mal abgesehen vom Geld für die Semestergebühren und den Rattenschwanz an Lehrmaterial, dass er bräuchte, konnte er sich auch nicht mehr vorstellen. Außerdem würde es bedeuten, dass seine Mutter tot wäre. Eine Situation, auf die er versuchte sich mental vorzubereiten, doch er wusste, dass er ihr nicht gewappnet sein würde. Wie sollte er dann auch noch zur Uni gehen können?
„Thomas. Ich weiß, es ist schwer für dich, aber du musst an die Zukunft denken. Ich werde nicht mehr lange sein und will wissen und sicher sein, dass du klarkommen wirst. Dass du deine Ausbildung beendest und vor allem, dass du aufhörst zu kämpfen. Tommy, sieh mich an!"
Thomas zog die Nase hoch, atmete tief an und sah seiner Mutter in die Augen. Sie standen voller Tränen.
„Versprich es mir!", verlangte Katrin. Und Tom nickte ergeben, was sollte er auch anderes tun. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Okay. Mach dir keine Sorgen, Mama, ich werde zurechtkommen. Versprochen."
Katrin sah ihn noch einen Augenblick fest an. Er hatte ihr nicht eindeutig versprochen sein Studium zu beenden und das Kämpfen an den Nagel zu hängen und das war ihr auch aufgefallen. Doch sie schwieg und drückte sanft seine Hand.
„Ich bin müde", sagte sie schließlich. „Die frische Luft tut gut, aber sie erschöpft mich auch."
Ohne eine weitere Aufforderung zu brauchen, erhob sich Tom und brachte seine Mutter zurück ins Krankenhaus und in ihr Zimmer. Bereits vom Flur aus sahen sie, dass die Türe offen stand. Als Tom seine Mutter durch den Eingang schob, erkannten sie Conny, die gerade das Bett neu bezog.
„Hey ihr zwei. Na, ist es schön draußen?", fragte sie unbeschwert und stopfte das große Kissen in einen mintgrünen Bezug.
„Ja, die Sonne ist angenehm auf der Haut", antwortete Katrin ihrer Freundin.
„Das glaube ich. Ich komme in letzter Zeit immer nur bei scheiß Wetter hier an und gehe, wenn's schon dunkel ist. Und Tommy, wie geht's dir so?"
„Läuft.", antwortete er einsilbig und schob seine Mutter an Fenster. Conny bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick, als wüsste sie mehr als er. Tom fragte sich, wie offen Conny und ihre Tochter untereinander waren und was Ari ihr erzählt haben könnte. Doch er sagte nichts weiter und unterstützte seine Mutter beim Ablegen von Mantel und Schuhen. Nachdem er ihr die Pantoffeln über die Füße gestülpt hatte viel ihm ein, dass er ja noch eine von Connys Brotbüchsen dabei hatte. Conny hatte unterdessen das Bett fertig und half Katrin aus dem Rollstuhl. Sie setzte sich neben ihre Freunde und schwatzte leise mit ihr über irgendwelche Belanglosigkeiten. Beruhigt, dass Conny das Verhör seiner Mutter nicht fortführte, schlich Tom zu seinem Rucksack und zog die geborgte Dose heraus. Er überprüfte sie noch mal von allen Seiten, dass er sie auch ordentlich ausgewaschen hatte, bevor er sie zurückgab und nickte schließlich zufrieden. Mit der Dose in der Hand ging er zurück zu den beiden Frauen, die ihn beide aufmerksam ansahen.
„Hier", sagte er und beäugte die Freundinnen misstrauisch. Er reichte Cornelia die leere Büchse. „Ich hab dran gedacht. Und danke nochmal. Hat echt gut geschmeckt."
Conny nahm die Dose entgegen. „Sehr gut. Ich hab die nämlich wieder was mitgebracht. Irgendwie kocht Ari in letzter Zeit, als würde sie noch fünf Leute zu Besuch erwarten." Sie schmunzelte, als sie Toms leicht entgleisende Gesichtszüge beobachtete und seine Mutter fing sogar anzulachen.
„Ari hat das immer zubereitet?"
„Ja", lachte Conny. „Überrascht dich das?" „Ja. Ich meine, nein! Alles was sie macht, macht sie gut. Ich dachte nur... sie naja... wüsste nichts davon."
„Es war von Anfang an ihr Vorschlag. Was denn? Magst du jetzt nichts mehr annehmen?", fragte Conny und legte den Kopf auf die Seite.
Toms Mund wurde trocken. „Doch", sagte er kleinlaut.
Er wusste nicht was er denken oder fühlen sollte. Seine Mutter musste recht haben. Ari mochte ihn wirklich. Und sie war verdammt hartnäckig. Und clever. Wahrscheinlich wusste sie, dass er das Essen, das Conny ihm alle paar Tage aufdrängte, niemals von ihr selbst angenommen hätte. Warum sollte jemand so ausdauernd lieb und fürsorglich zu jemand sein, der kontinuierlich abweisend war. Verdammt. Dieses Mädchen machte es einem wirklich schwer.