„Warum... hast du das gemacht?", fragte er berauscht und war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Ari lächelte zaghaft und hob die Schultern. „Ich weiß nicht. Aber ich finde, es war irgendwie überfällig."
In ihren Augen stand plötzlich ein Anflug von Panik. Sie musste sich ebenso fragen, wie das gerade passieren konnte. Die Tollkühnheit und Unerschrockenheit, die sie vor Sekunden noch ausstrahlte, waren verflogen. Ihre Augen huschten zur Tür und Tom war klar, dass sie drauf und dran war zu flüchten. Vielleicht hätte er sie gehen lassen sollen, doch er schien an diesem Tag nur stiller Beobachter sein Körpers zu sein, der hastig aufstand, bevor Ari die Tür erreichen konnte. Er griff nach ihrem Handgelenk und zog sie zurück, drückte sie gegen die Wand und presste seinerseits einen hungrigen Kuss auf ihre vor Schreck geöffneten Lippen.
Ihr Schock währte nicht lange und schon erwiderte sie sein Verlangen und vergrub beide Hände in seinem Haar. Ungestüm presste er sich fester gegen ihren zitternden Leib, eine Hand an ihrem Rücken, die andere wanderte zu ihrer Hüfte, hinab zu ihrem Oberschenkel. Er hob ihr Bein an und drückte es gegen sich, während ihre Zungen einander umschlangen. Ohne den Kuss zu unterbrechen hob er sie schließlich ganz hoch und ihre Beine legten sich um sein Becken. Tom trug sie zu dem Krankenbett, setzte sie langsam darauf ab und drückte sie mit dem eigenen Körper auf die Matratze. Er schob sich über sie, zwischen ihre geöffneten Beine und küsste ihren Hals, ihre Kehle, ihr Kinn und endlich wieder ihre Lippen. Aris Augen waren geschlossen, doch sie wölbte ihren Körper seinem entgegen. Sie musste seine physisch manifestierte Erregung deutlich spüren, überlegte er in einem kurzem Moment der Klarheit und wünschte, er könnte es ihr ebenso so deutlich ansehen. Tom nahm ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. Er spürte die Hitze zwischen ihnen und wollte nichts sehnlicher als ihre Haut auf seiner zu fühlen. Seine freie Hand schob ihren Pulli hoch, zog eine zweite Kleidungsschicht aus ihrer Jeans und schlüpfte darunter. Ari erschauderte, doch sie wehrte sich nicht und zeigte auch sonst kein Anzeichen von Widerstreben. Im Kuss teilten sie sich dieselbe Luft zum Atmen und ermutigt ließ Tom seine Hand weiter über die zarte, warme Haut ihres Bauchs streichen. Seine Fingerspitzen erreichten den Bügel ihres BHs, als knallend eine Tür ins Schloss fiel.
Tom und Ari fuhren beide wie unter einem Schlag zusammen und sahen erschrocken zur Tür. Dort stand eine wütende blonde Schwester, die sie entgeistert anfunkelte. Schwester Barbie, erkannte Tom sie, als sich sein Blick langsam klärte, die bereits mehrere Male versucht hatte, mit ihm zu flirten. Doch er hatte ihre Avancen stets ignoriert.
„Hallo? Das hier ist kein verdammtes Stundenhotel! Raus hier! Sofort!", knurrte sie, sichtlich bemüht, die beiden nicht anzuschreien.
Tom erhob sich widerwillig, doch nicht, bevor er Ari noch einmal ansah. Seine eigene Lust und die Enttäuschung, über die Unterbrechung waren ihr deutlich anzusehen. Doch sie schwanden im Angesicht der unangenehm peinlichen Situation. Wütend stand er vom Bett auf und wollte gerade die Hand ausstrecken, um Ari aufzuhelfen. Doch sie schwang bereits hastig die Beine über die Bettkannte. Er erhaschte noch einen kurzen Blick auf Ari, doch sie wich mit inzwischen flammendrotem Kopf seinem Blick aus und eilte bereits zu der kleinen Sitzecke, deren Stühle sie als Kleiderständer genutzt hatten. Sie schnappte sich ihre Jacke und drückte sie gegen ihre Brust, als müsse sie eine Blöße bedecken. Verlegen warf sie Tom einen Blick zu, der beinahe gemächlich sein schwarzes Shirt und seinen Pullover vom Bett nahm, ohne die Sachen jedoch sofort anzuziehen. Er wusste, dass er Barbie damit provozierte, genoss diesen Umstand sogar ein wenig und hoffte, dass sie ihn von nun an in Frieden ließ, wenn sich ihre Wege in Zukunft auf den Fluren des Krankenhauses kreuzten.
„Raus", wiederholte Barbie endlich, die kurz vorm Platzen stand. Tom zog sich endlich das Shirt über den Kopf und folgte Ari, die sich mit einem leisen „Sorry!", an der Schwester vorbei auf den Flur schob. Tom konnte sich plötzlich das Grinsen nicht verkneifen und ging erhobenen Hauptes an der jungen Frau vorbei, die geradeaus an ihm vorbei starrte.
Die Tür fiel leise hinter ihm zu und er sah sich nach Ari um. Sie stand einige Meter entfernt und sah ihn mit großen Augen an. Ihre Augen flackerten für den Bruchteil einer Sekunde zu seinen Lippen und Toms Herz machte einen Sprung. Er fragte sich was er tun sollte. Er wollte sie wieder an sich ziehen, küssen, von hier wegbringen, sie an einem gemütlichen, ungestörten Ort von ihren Klamotten befreien... doch Barbie hatte sie in die Wirklichkeit zurück gezerrt und mit bitterer Härte traf ihn Klarheit, wie man sich nach einer durchzechten Nacht reuevoll an die Schandtaten erinnert, die man im Rausch angestellt hatte. Und das Wissen, dass er Ari keinen Gefallen damit tun würde, diesem Bedürfnis der Lust nachzugeben. Im Gegenteil. Tom hatte nur für einen Moment die Beherrschung verloren. Vermutlich sollte er der blonden Tusse danken, dass sie herein geplatzt war, bevor er in seiner fiebrigen Begierde noch weiter gehen konnte.
Die Sekunden verstrichen, ohne dass einer von beiden ein Wort herausbrachte und schließlich drehte Ari sich um und lief eilig davon. Tom sah ihr nach, einen schmerzhaften Kloß im Hals, doch er konnte nichts anderes tun. Verdammte scheiße. Was ein beschissener Tag.
Niedergeschlagen drehte er sich um und ging langsam in die entgegengesetzte Richtung, immerhin war er hergekommen, um bei seiner Mutter zu sein. Leise und ohne anzuklopfen betrat er den Raum. Seine Mutter rührte sich nicht, doch der Herzmonitor zeigte einen regelmäßigen Sinusrhythmus an. Vermutlich schlief sie nur. Er trat an ihr Bett und berührte leicht ihre Hand.
„Mama?", fragte er leise, doch sie antwortete nicht. Thomas beschloss, sie schlafen zu lassen. Er trat ans Fenster sah nach draußen. Seine Gedanken kehrten zu Ari zurück und er schüttelte den Kopf über sich selbst. Er benahm sich wirklich wie ein Junkie. Im Angesicht seiner Droge absolut machtlos und schwach. Was hatte er nur getan? Wie hatte er sie nur soweit bringen können, dass sie ihn auch von sich aus geküsst hatte. Und dieser süße Krümel, den sie ihm damit hingeworfen hatte, hatte ihn sofort seinen restlichen Verstand und jede Willenskraft verlieren und über das Mädchen herfallen lassen.
Und jetzt lief sie wahrscheinlich völlig verwirrt nach Hause. Verdammt, vielleicht weinte sie sogar, nachdem er sie wortlos auf dem Gang hatte stehen lassen, und in seinen Augen schon die sichtbare Reue über das, was geschehen war gesehen hatte. Vielleicht hatte sie letztlich die Flucht ergriffen, bevor sie sich vollends von ihm verarscht vor kam. Tom schlug sich wütend die Hand vors Gesicht und konnte fassen, dass es so mit ihm durchgehen konnte. Er hatte ihr nie wehtun wollen, vor allem nicht so. Doch andererseits, war diese scheiß Aktion vielleicht auch, was sie beide gebraucht hatten. Um sich voneinander zu lösen. Vielleicht hatte er gerade erfolgreich von sich gestoßen. Vielleicht hatte er sie gerade unwiederbringlich verloren
Er atmete seufzend ein, kämpfte das Brennen in seinem Herz und seinen Augen zurück und konzentrierte sich darauf, sich zu beruhigen. Er hatte es doch so gewollt. War bestimmt besser so. Zumindest für sie. Und das war schließlich das Wichtigste.
Nach einer Weile ließ sich Thomas auf einen der Stühle neben dem kleinen Tisch des Raumes fallen. Darauf verstreut lagen mehrere Papiere, mit handschriftlichen Anmerkungen, die aber nicht nach der Schrift seiner Mutter aussahen. Neugierig nahm er die Blätter in die Hand und runzelte bald die Stirn. Es waren Ausdrucke von Organisationen, die Stipendien anboten, behördliche Infos zum elternunabhängigen Bafög und einige Paragraphen eines Gesetzestexts. Eine Hochschulordnung, wie Tom erkannte. Doch nicht irgendeine Hochschulordnung, sondern von jener Uni, an der er vor etwas mehr als einem Jahr noch eingeschrieben war. Verwundert las er sich alle Blätter nun aufmerksamer durch und stellte bald fest, des es eine Sammlung oder eher eine Anleitung war, wie man sich nach einem Studienabbruch unter bestimmten Voraussetzungen wieder immatrikulieren lassen konnte. Ungläubig klappte ihm der Unterkiefer herab. Es war sogar eine Liste dabei, welche Formulare, die ebenfalls beilagen, und Bescheinigungen, von beispielsweise Ärzten und Behörden nötig waren.
Tom wusste nicht, was er davon halten sollte. Sollte er angepisst oder beeindruckt sein, über die Mühe, die sich ganz sicher nur Ari gemacht haben konnte. Er tigerte durch den Raum und versuchte darauf klarzukommen. Doch die Wut darüber, dass das Mädchen ihn nicht mal gefragt hatte, bevor sie mit ihrer Recherche begann, sondern diesen Plan ausführungsreif hinter seinem Rücken ausgetüftelt hatte, wuchs mit jedem Wort, mit jeder Seite, die er durchsah. Am liebsten würde auf der Stelle ins Oktagon steigen, um irgendjemanden so richtig zu verdreschen. Im selben Moment fiel ihm ein, dass diese Idee angesichts seiner noch immer nicht abgeschlossenen Genesung, gehörig schief gehen konnte und er unter keinen Umständen Ari oder ihre Mutter, die hundertprozentig eingeweiht war, rufen wollte, wenn er sich verletzte. Doch bei seinem Glück, würde er sich verletzten.
„Hey, Schatz", hörte er seine Mutter flüstern, die er vermutlich mit seiner Unruhe geweckt hatte. Auf dem Absatz drehte er sich scharf zu ihr um und wedelte mit den Papieren.
„Was zum Teufel, Mutter?", begann er übergangslos und mittlerweile so in Rage, dass er sich bemühen musste, sie nicht anzubrüllen.
Katrin lächelte ein wenig schuldbewusst. „Sei nicht böse", versuchte sie ihn zu beschwichtigen. „Ich hab Ariel nur gebeten ein bisschen zu recherchieren. Um zu erfahren, ob du nicht ganz einfach dein Studium wieder aufnehmen könntest."
„Nach ein bisschen Recherche sieht das hier aber nicht aus? Es fehlen eigentlich nur noch die für mich vorausgefüllten Formulare mit gefälschter Unterschrift", fuhr er seine Mutter mit erhobener Stimme an.
"Reg dich nicht auf, Hase. Das ist doch nur eine Zusammenstellung von ein paar Infos."
„Ein paar Infos? Mama, ich weiß doch noch nicht mal, ob ich überhaupt zurück will! Und das hier sieht aus, als müsse es nur abgeschickt werden. "
"Du übertreibst, Sohn. Außerdem wollte ich doch nur etwas für dich haben, wenn du dich dafür entscheidest wieder zu studieren, damit du gleich weißt, was der erste Schritt ist, den du gehen musst."
Tom seufzte und schüttelte ungläubig den Kopf. Er war immer noch wütend und fühlte sich bevormundet und wollte ihre vernünftige, abmildernden Argumente, die sich schlicht nach Ausreden anhörten, nicht hören. Trotzdem kam er nicht umhin, die außerordentlich Mühe, die Ari sich ganz offensichtlich für ihn gemacht hatte, zu bemerken. Doch statt sich geschmeichelt zu fühlen und kam es ihm komisch vor und erregte seinen Argwohn. Derart ausführliche und umfassende Infos sammelte man nicht nur, weil man den Wunsch einer sterbenden Frau nicht abschlagen konnte, oder weil es man es für jemanden tat, den man mochte. Da war noch mehr. Ihm fiel wieder ein, wie erschrocken Ari vorhin war, als sie vor der Tür in ihn hinein gelaufen war, als sie das Zimmer gerade verlassen wollte. Das war eindeutig ein schlechtes Gewissen, was er da in ihrem Gesicht gesehen hatte.
„Und du hast Ari gebeten, das alles zusammenzustellen?", hakte nochmal nach.
„Ja, naja, sie hat schon viel mehr gemacht, als sie musste. Ich wollte erstmal nur wissen, ob du überhaupt relativ problemlos zurück könntest."
„Hmm...", machte Tom und nickte, als er seine unausgesprochene These schon fast bestätigt sah. „Und ich wette, sie ist begeistert von der Idee, mich wieder auf die richtige Bahn zubringen."
Seine Mutter sah ihn voller Unverständnis an. Doch er wandte sich zornig um. In Ari hatte seine Mutter genau die Richtige gefunden, um ihren Willen durchzusetzen. Dass dieses Mädchen von Anfang an so übermäßig bereit war, sich medizinische Praktiken für Menschen anzutrainieren, obwohl sie Tiermedizin in Vollzeit studierte und nebenbei arbeitete, nur um ihm nach seinen heftigen Schlägereien immer wieder auf die Beine zu helfen, hätte ihm gleich komisch vorkommen müssen. Warum sollte sie das tun, wo sie ihre Zeit doch mit so viel Wichtigerem oder Spaßigerem verbringen konnte und sollte.
Ihr Helferkomplex muss bei mir doch völlig durch drehen. Wahrscheinlich mag sie mich gar nicht wirklich. Sie bildet es sich nur ein, weil ich so kaputt bin und sie davon besessen ist, mich zu reparieren. Mich wieder immatrikuliert zu sehen und befreit vom Oktagon, wäre sicher ein krönender Abschluss und ihr größter Erfolg.
„Tommy, du sagst das so, als wäre es etwas Schlimmes. Denk nicht schlecht von Ariel. Ich bin mir sicher, sie würde sich wirklich wahnsinnig freuen, wenn du wieder an die Uni gehst. Ich glaube, sie sorgt sich genauso um dich, wie ich. Und sie will genauso, dass es dir gut geht."
„Ja klar...", schnaufte Thomas zynisch. „Mama, ich kann das grade echt nicht. Hör auf mit dem verkackten Unischeiß. Wenn ich zurück will, kümmere ich mich selbst darum. Ich bin keine acht Jahre alt! Ich brauche kein Kindermädchen, okay? Ich bin durchaus selbst in der Lage zu lesen, Formulare und so Scheiß zu finden und auszufüllen. Also hört alle verdammt noch mal auf mich zu behandeln, als wäre ich ein Kleinkind oder irgendwie ein bisschen behindert!"
Verdutzt starrt Katrin ihren Sohn an. So einen Wutausbruch, hatte er lange nicht vor seiner Mutter hingelegt. Beherrscht atmete er ein.
„Ich werde jetzt gehen", sagte er ruhiger und zog sich seinen Pullover und die Jacke an. „Sei nicht sauer auf mich, aber anders versteht ihr Frauen es ja scheinbar alle nicht. Wir sehen uns Morgen." Er trat an ihr Bett und küsste sie sanft auf die Stirn. „Hab dich lieb. Bis dann."
Und mit diesen Worten stürmte er immer noch stinksauer aus dem Krankenhaus. Der Herbstregen klatschte ihm ins Gesicht, doch es tat irgendwie gut und half ihm, langsam runter zukommen. Er steckte sich seine Kopfhörer in die Ohren und drückte, ohne den uralten MP3-Player aus der Tasche zu holen, auf Play. Er hatte das dringende Bedürfnis sich anschreien zu lassen, wenn er schon nicht kämpfen konnte. Die Jungs von While She Sleeps taten ihm den Gefallen.
3 years gone
I'm still searching for the future of the broken young
This isn't living it's surviving without hope
Protect everything that you love and know
We are all victims of our own evolution
We suffer together but we all die alone
Won't you sing this with me?
We've strayed too far to be saved
Suffering showed us what we should've done
We're overdosed, we're overrun
Our pride our triumph
Trophies of violence
Always deceived by a false allegiance
To feed the ones that give in...
(Trophies of Violence – written and performed by While She Sleeps)