Tom stand vor dem Bett seiner Mutter, auf dem er ihre Kleider sortiert und zusammengefaltet gestapelt hatte und überlegte, ob er einfach alle Sachen spenden sollte oder ob sich der Verkauf mancher Sachen vielleicht lohnen würde. Er hatte inzwischen bereits die meisten Schränke ausgeräumt und alle Möbel mit dem Handy fotografiert, um sie über die Kleinanzeigen zu verkaufen. Vor kaum zwei Wochen, nach seinem fatalistischen Zusammenstoß mit Ari, hatte er die Wohnung gekündigt. Seit dem hatte er nichts mehr von ihr gehört. An ihrer Stelle, hätte er sich jedenfalls auch nicht gemeldet. Er fragte sich, ob seine Mutter Conny und diese wiederum ihrer Tochter von seinem Ausbruch erzählt hatten. Noch am selben Tag hatte Tom erwogen Ari zur Rede zu stellen, die Idee dann aber doch verworfen. Er war viel zu angepisst und hatte gleichzeitig Angst davor, nicht nur seine Wut, die ihm beinahe heilsam erschien, sondern auch sämtliche anderen Vorsätze, wie die Finger von ihr zu lassen, direkt wieder über Bord zu werfen. Nachdem was geschehen war, traute er sich durchaus zu sofort wieder über sie herzufallen, wenn er ihr in die blauen Augen sah und sie ihm entsprechende Signale sandte, dass es okay wäre.
Insofern war er froh, ihr seitdem nicht noch mal über den Weg gelaufen zu sein. Vermutlich mied Ari aber auch bewusst selber das Krankenhaus oder zumindest das Gebäude, in dem seine Mutter untergebracht war. Auch Conny verhielt sich spürbar zurückhaltend und Essen hatte sie auch keines mehr für ihn dabei, wenn sie sich im Krankenzimmer seiner Mutter begegneten. Er konnte es Ari nicht verübeln. Wenn sie nach der Szene weiterhin für ihn mitgekocht hätte, hatte Thomas ernsthaft an ihrem Verstand gezweifelt. Trotzdem nervte es ihn irgendwie, dass Ari sich nicht mal entschuldigt hatte. Wusste sie vielleicht doch nichts von dem Streit mit seiner Mutter? Am Ende erwartete sie vielleicht sogar selbst irgendeine Reaktion von ihm, und eine Erklärung, warum er sie wortlos und derart mies auf dem Flur hatte davon rennen lassen. Wieso hatte er sie nicht aufgehalten? Du weißt ganz genau wieso!
Zumindest schnitt auch seine Mutter die Themen Uni und Ari nicht mehr an, betrachtete ihn aber ständig mit diesem traurigen, zermürbenden Ausdruck. Wenn er in den letzten 2 Wochen bei ihr gewesen war, hatte er ihr meist einfach nur irgendetwas vorgelesen. Er hatte nichts zu erzählen. Und es schien nur Themen zu geben, über die er nicht nachdenken und schon gar nicht reden wollte. Gegen eines davon konnte er sich jedoch nicht sperren. Seine Mutter bestand darauf ihre Beerdigung mit ihm vorzubereiten.
Tom hatte Kopfschmerzen und rieb sich die Schläfen. Diese Situation war das stressigste was er seit langem erlebt hatte und er sehnte sich nach einem Ventil. Doch es war erst Dienstag und daher noch eine lange Zeit bis Freitag. Bis er endlich wieder kämpfen würde. Und dieses Mal würde er auf sich Acht geben, um jede Verletzung zu vermeiden.
Er sah auf die Uhr und stellte mit Erstaunen fest, dass es schon früher Nachmittag war. Er war an diesem Tag noch nicht bei seiner Mutter gewesen. Mit einem letzten Blick auf die ganzen Sachen, seufzte er, wandte sich ab, um sich umzuziehen und endlich zum Krankenhaus zu gehen.
Am Zimmer seiner Mutter angekommen hielt er inne. Die Tür war nur angelehnt und er hörte die leise Stimmen von Conny, die mit seiner Mutter plauderte. Er wollte gerade den Raum betreten, da fiel Aris Name. Tom blieb auf der Stelle stehen und wurde ungewollt hellhörig.
„... ich freu mich, dass sie seit einigen Tagen wieder mehr raus geht. Sie war in letzter Zeit auffällig niedergeschlagen, aber ich glaube nicht, dass es was mit ihrer Recherche und dem allem für Tom dich zu tun hatte. Es war irgendwie... komisch. Naja, aber heute war sie ziemlich gut drauf und hat erzählt, dass sie sich wohl später mit irgendeinem jungen Mann trifft. Tom wird es wohl nicht sein, oder hat er was erzählt?"
„Oh tatsächlich? Nein... Tom hat nichts gesagt. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob er das tun würde."
„Hm, ich glaube nicht, dass er es ist. Dann wäre sie wahrscheinlich nicht so entspannt gewesen."
„Ich verstehe die zwei nicht..."
„Ich auch nicht. Aber irgendwas muss passiert sein."
„Du meinst außer seinem Wutanfall?"
„Ja, ich glaube schon. Aber sie sagt nichts. Sie wirkt nur direkt sauer, wenn ich seinen Namen erwähne."
„..."
Tom konnte seinen Ohren nicht trauen. Nicht nur, dass sie tatsächlich von dem Streit wusste und sich nicht zumindest reuevoll gezeigt hatte, jetzt trifft sie sich auch noch plötzlich mit einem anderen Kerl. Fassungslos vor Zorn ballte er die Hände zu Fäusten und würde am liebsten auf die Wand einschlagen. Wenn nur schon Freitag wäre...
Er wollte am liebsten wieder gehen, doch das konnte er natürlich machen. Schließlich wusste er nicht wie viel Zeit ihm noch mit seiner Mutter blieb. Trotzdem hatte er das Gefühl zu ersticken. Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Gebäude mit dem dringenden Bedürfnis nach frischer, kalter Luft, in der Hoffnung, Cornelia würde nicht mehr da sein, wenn er wieder hoch zum Zimmer seiner Mutter kam. Draußen starrte er in den grauen Himmel und wünschte sich für eine Sekunde, Ari wäre da, um ihm eine Kippe zu drehen. Sofort schüttelte er wütend den Kopf über sich selbst. Wie ein Junkie auf Entzug.
Er atmete einige Minuten kontrolliert ein und aus, bis er sich wieder beruhigt und gefangen hatte und betrat das Gebäude erneut. An der Tür angekommen klopfte er kurz, nur um direkt einzutreten. Conny war noch da und die beiden Frauen wandten sich fast erschrocken zu ihm um und unterbrachen sofort ihre Unterhaltung. Tom tat als hätte er nichts gehört, nickte Conny höflich zu und ging direkt zu Katrin und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.
„Hey Mama. Wie geht's dir heute?"
Die Frau blinzelte nicht mal, sondern lächelte schwach und betrachte ihren Sohn liebevoll. „Ganz gut", sagte und Tom fragte sich, ob sie die Wahrheit sagte. Sie sah wie immer müde und abgekämpft aus. Doch ihre Augen wirkten an diesem Nachmittag wacher, als an so manchem anderen Tag in letzter Zeit. Nach einer Weile verabschiedete sich Conny und ließ Tom mit seiner Mutter allein.
„Was hast du heute so gemacht, Schatz?"
„Hab einige von deinen Sachen sortiert", antwortete Tom einsilbig.
„Du kannst alles verkaufen oder verschenken. Ich hoffe du glaubst nicht, dass du irgendwelchen sinnlosen Krempel aufheben müsstest," sagte Katrin.
„Ich weiß, aber ich hab auch eine Kiste gemacht, mit unseren ganzen Fotos und einigen Büchern und ein paar anderen Andenken."
„Das ist schön, Schatz."
„Hat du dich schon nach einer anderen Wohnung umgeschaut?"
„Nein... die Kündigungsfrist läuft ja eh noch über zwei Monate. Keine Sorge, Mama, ich kümmere mich um alles. Ich krieg das hin."
„Das weiß ich doch, Spatz."
Sie unterhielten sich noch eine Weile über einige Belanglosigkeiten des Alltags, bis Katrin ihn bat, ihr aus dem Feuilleton vorzulesen. Während dessen schlief sie ein. Tom blieb noch eine Weile, hielt ihre Hand und legte den Kopf auf das dicke Kissen neben Katrins Schulter. Auch er fühlte sich müde und ausgelaugt. Er konnte sich kaum noch an eine Zeit erinnern, in der er sich anders gefühlt hatte.
Als endlich der Tag anbrach, den er sich herbeigesehnt hatte, stand er bereits früh auf und ging wie jeden Morgen, seit dem es seine Rippen wieder zugelassen hatten, laufen. Er rannte über eine Stunde seine übliche Strecke, die ihn durch mehrere Parks führte. Früher wäre er dabei auch an dem Haus vorbei gekommen, in dem Ari wohnt, doch er hatte seine Strecke etwas angepasst, um ihre Straße zu meiden. Nicht zum ersten Mal in den letzten vier Tagen fragte er sich, mit wem sich Ari getroffen hatte und vor allem zu welchem Zweck. Eigentlich hätte diese Nachricht Erleichterung über ihn bringen sollen. Genau das hatte er doch gewollt. Dass sie sich von ihm abwendet, ihn nicht mehr in Versuchung bringt und endlich sich selbst überlässt. Doch stattdessen zufrieden zu sein, fühlte er nichts als Schmerz, Enttäuschung und Wut.
Er besuchte seine Mutter an diesem Freitag bewusst erst am frühen Nachmittag, um ihr keinen Anlass geben, sich zu fragen, was er denn an einem Freitagabend vorhaben konnte, wenn er bereits vormittags bei ihr erschien. Er wollte sie nicht dem Wissen belasten und ließ sie über seine Pläne wieder ins Oktagon zu steigen im Unklaren, obwohl er den Moment kaum noch erwarten konnte. Es hatte sich so viel angesammelt und aufgestaut. Er brauchte den Kampf, besser noch mehrere. Und er fühlte sich fit und mehr als bereit nicht nur einen Kampf an diesem Abend bestreiten zu können. Doch dafür musste er den Ersten gewinnen.
Conny war nicht da und damit glücklicherweise eine Person weniger, die seine Aufregung erkennen und deuten konnte. Seine Mutter war schläfrig und schwach. Tom schaltete den Fernseher ein, sah aber nicht hin. Er saß am Bett seiner Mutter, hielt sanft ihre hagere Hand und versuchte an nichts zu denken. Nach etwa zwei Stunden ging er wieder und fühlte sich elend. Die Tage, an denen seine Mutter kaum mehr in der Lage schien, sich mit ihm zu unterhalten häuften sich zusehends. Träge ging er heim und warte, bis es endlich Zeit war aufzubrechen. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit und so ging er viel früher als er gemusst hätte. Der Kampf fand wie üblich in der alten Sporthalle am Stadtrand statt, die häufig für kleine Konzerte und vor allem MMA- und andere Sportveranstaltungen genutzt wurde.
Die Umkleidekabinen waren voll an diesem Abend. Tom wusste nicht wie viele Teilnehmer da waren, nur, dass über den Abend ein kleines Turnier stattfinden würde. Er sah sich um und erkannte einige bekannte Gesichter. Ehemalige Gegner. Die MMA Szene war hier nicht besonders groß, daher überraschte es ihn nicht, dass offenbar auch viele unbekannte Leute, aus der näheren und weiteren Umgebung für das Turnier zusammengekommen waren.
Tom verbrachte die meiste Zeit in einem Nebenraum der Kabine und wartete mit einigen anderen Kämpfern darauf, dass er an der Reihe war. Um sich für seinen Kampf zu erwärmen, schnappte er sich sein Springseil und sprang eine viertel Stunde mit wechselnden Geschwindigkeiten. Wie einige andere auch, führte er die Erwärmung schließlich mit einigen Runden Schattenboxen fort. Währenddessen lauschte er den gedämpft in den Raum dringenden Kommentaren der Ringrichter, die er in seinen eigenen Kämpfen nie wahrnahm, dem schrillen Ringen des Gongs, der das Ende jeder Runde einläutete und dem Johlen der Menge, die die Kämpfe wie stets begleitete. Endlich kam Peter in den Aufwärmraum, sah sich um und ging schließlich auf Tom zu, nachdem er ihn entdeckt hatte.
"Bis du bereit?"
"Sowas von!"
"Sehr gut, Junge. Du bist der nächste. Das wird ein hartes Stück, aber du hast dich gut gemacht in den letzten Wochen beim Training. Du kannst das packen und nicht nur die erste Runde überstehen." Er klopfte mit seinen von oben auf Toms Fäuste, die bereits in seinen Grabbling Handschuhen steckten und grinste ihn aufmunternd an. Tom hätte keinen Prep-Talk gebraucht. Er fühlte sich fit und war begierig darauf endlich wieder einem starken Gegner gegenüber zustehen.
Draußen johlte die Menge laut auf, dann folgte frenetischer Jubel. Peter nickte und sah ihm gest in die Augen. "Dann los!"
Tom warf das Springseil auf seine Tasche und folgte seinem Trainer nach draußen in die Halle. Es waren deutlich mehr Leute da, als bei den Veranstaltungen, an denen Tom sonst teilnahm. Doch das störte ihn nicht. Im Gegenteil, es schien ihn zu befeuern. Sie bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge zum Oktagon, in dem der Ringrichter gerade die Faust des Sieger in die Höhe streckte, der den letzten Kampf gewonnen hatte. Als sie es erreicht hatten, trat der frisch gekürte Sieger gerade heraus, er grinste Tom an und betrachtete ihn aufmerksam, als überlege, ob Tom das Zeug dazu hatte, ebenfalls zu gewinnen und ihm später gegenüberstehen würde. Peter sprach noch einige Worte mit irgendeinem schwarz gekleideten Mann, der aussah, als gehöre er zum Orga-Team. Endlich rief der Ringrichter seinen Namen aus und das Adrenalin begann in Toms Ohren zu rauschen. Die Tür des Käfigs würde ihm geöffnet und konzentriert erklomm er die wenigen Stufen und betrat endlich wieder den leicht federnden Boden des Kampfplatzes.
Oben angekommen stellte er sich an den Rand, sah sich um und suchte mit den Augen nach seinem Trainer. Doch statt Peter sah zuerst jemand anderes. Ari. Was zur Hölle!
Doch damit nicht genug. Sie unterhielt sich angeregt mit Jannik und Peter. Tom glaubte vor Wut und dem Gefühl von Verrat das Blut in den Adern zu gefrieren. In diesem Moment drehte Ari sich in seine Richtung und ihre Blicke trafen sich. Tom schien gleichzeitig heiß und kalt und zu sein, während Ari ihn ausdruckslos, aber fest in die Augen sah.