Ari erwiderte Toms Blick und fragte sich, ob allein ihre Anwesenheit der Grund für seine augenscheinliche Verärgerung war. Wütend taxierte er abwechselnd sie und die beiden Männer, seinen Trainer Peter und seinen Sparringpartner Jannik, bis der Ringrichter seinen Gegner in den Ring rief und damit Toms Aufmerksamkeit zurückgewann. Der andere Kämpfer hatte eine ähnliche Statur wie Tom selbst, groß, mit einem breiten Kreuz und einem fast ebenso finsterem Blick. Die beiden Kontrahenten begrüßten sich mit dem scheinbar üblichen Schlag, beim sich die jeweils rechte Faust kurz an den gepolsterten Knöcheln berührte. Dann gingen sie schnell wieder auf Distanz. Der Gong, der den Beginn der ersten Runde einläutete, erklang und sie begannen einander zu umkreisen. Beide gingen einige Male tänzelnd auf einander zu, täuschten Angriffe an, nur um die Reaktion und Manöver des anderen zu beobachten. Ari bemerkte, dass Tom größtenteils zu Schlägen mit den Fäusten neigte, während sein Gegner eher mit den Beinen versuchte einen Treffer zu landen. Beide wichen geschickt und behände aus, bis Tom aus einer Bewegung heraus den Knöchel seines Gegners erwischte. Erst sah es aus, als wollte er sich zur Seite, vor dem Tritt wegbewegen. Doch stattdessen griff er nach dem Bein und zog seinen überraschten Gegner zu sich heran. Damit brachte er ihn aus dem Gleichgewicht und drückte ihn kaum einen Herzschlag später, mit einem harten Stoß seines Ellenbogens, der zielsicher den Solarplexus traf, gegen das hohe Gitter, das den Kampfplatz säumte. Mit einer dreifachen Schlagkombination, so schnell ausgeführt, das Ari Toms Fäusten kaum mit den Augen folgen konnte, setzte er nach, bevor es Toms Gegner endlich gelang die Arme zum Block zu heben und sich durch eine eigene seitwärts Drehung wieder aus Toms Reichweite heraus zu bringen.
Gespannt beobachtete Ari den Kampf und nahm lächelnd die Rufe Janniks und Peters wahr, die Tom anfeuerten und seine Angriffe kommentierten.
„Gut so, Junge", rief Peter, als Tom das Handgelenk seines Gegners packte, ihn erneut zu sich ran zog und sich selbst mit einer Drehung hinter ihn brachte. Irgendwie schaffte Tom nahezu im selben Augenblick seinem Gegner die Beine unter dem Körper wegtreten und ihm seinen linken Arm fest um den dicken Hals zu legen. Mit der rechten Hand, die noch immer das Handgelenkt fest umfasste, drückte er ihm immer weiter die Luft ab, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Der Hebel saß gut und das einzige was seinem, sich windenden Gegner rettete war der Gong, der das Ende der Runde anzeigte. Der Ringrichter wedelte mit den Armen und Tom ließ sofort los. Keuchend entfernte sich Toms Widersacher, der ihn höchsten drei oder viermal er getroffen hatte. Doch keiner dieser Schläge oder Tritte hatte richtig gesessen und Schaden verursacht. Tom war ziemlich gut weggekommen und zog sich nun selbst auf seine Seite des Rings zurück.
Peter drückte Ari ein Handtuch und eine Trinkflasche mit langem Strohhalm in die Hand und deutete auf die Gittertür, die gerade geöffnet würde. Etwas nervös nahm sie die Sachen entgegen und bewegte sich auf den Eingang zu. Innerlich wappnete sie sich bereits gegen den wütenden Blick, wenn er nicht sogar beschloss, sie ganz und gar zu ignorieren. Als sie schließlich vor ihm stand und ihm die Flasche anbot, starrte er erst die Flasche und dann sie so voller Zorn an, als er würde er ihr das Ding am liebsten aus der Hand schlagen. Dann zog er sich den Mundschutz von den Zähnen und funkelte sie an.
„Was zum Teufel machst du hier?" Sein großkotziger Tonfall triggerte sofort Aris Stolz. Nun selbst richtig angepisst kniff sie die Augen zusammen und warf das Handtuch in seinen Schoß.
„Offensichtlich darauf achten, dass dir im Notfall mal zeitnah geholfen werden kann. Wär ja nicht das erste Mal, dass hier ein gewisser Bedarf besteht!"
„Ich will dich hier nicht haben", knurrte und ignorierte den Seitenhieb, auf all die Male, da er bereits ihre Hilfe bitter nötig hatte.
„Is' mir egal. Ich bin jetzt hier. Komm damit klar."
„Nein, verdammt. Hau ab. Lass mich in Frieden und geh nach Hause."
Sie seufzte und verdrehte die Augen. „Vergiss es. Jetzt trink was oder verdurste an deinem Stolz." Tom riss ihr die Falsche aus der Hand, nahm einen Schluck durch den Halm und drückte sie ihr dann wieder mit feurigem Blick in die Hand. Bevor jedoch zu einer weiteren Wuttirade ausbrechen konnte, ertönte auch schon wieder der Gong. Die kurze Pause zwischen den Runden verging wie im Flug. Ari beeilte sich aus dem Oktagon zu kommen und gesellte sich wieder zu Jannik und Peter, die sie beide mitleidig ansahen.
Während Tom begann seinen Gegner unter einem Hagel von Schlägen zu begraben, die eindeutig ein Produkt seines enormen Zorns waren, verzog Peter das Gesicht und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „War doch klar, dass er nicht begeistert sein würde, dich hier zu sehen." Ari zuckt mit den Schultern. Sollte er halt pissig sein und sich wie ein bockiges Kind verhalten. Sie würde sich an das Versprechen halten, dass sie Toms Mutter und insgeheim auch sich selbst gegeben hatte und auf ihn achten. Sie würde für ihn da sein, falls er sie brauchen sollte, egal ob er wollte oder nicht und ob deswegen toben, abweisend und undankbar wie immer war. Auf keinen Fall würde sie noch einmal eine Situation wie nach seinem letzten Kampf provozieren, die gesundheitlich mehr als kritisch und gefährlich, nur weil sie oder irgendeine andere medizinisch bewanderte Person nicht rechtzeitig vor Ort war.
Obwohl sie natürlich mit Toms Reaktion gerechnet hatte, war Ari trotzdem enttäuscht und niedergeschlagen und beobachtete den Kampf nur noch halbherzig. Zum Glück schien der andere Kämpfer kein wirklicher Gegner für Tom zu sein, denn er kassierte einen heftigen Treffer nach dem anderen und blutete bereits aus mehreren kleinen Wunden. Für eine Sekunde fühlte sie sich nutzlos und fehl am Platz, doch dann erinnerte sie sich daran, das Jannik zuvor erzählt hatte, dass dies, sollte Tom gewinnen, nicht sein einziger Kampf an diesem Abend war. Und selbst wenn er mehrmals siegreich sein würde, irgendwann würde er mit Sicherheit so am Ende oder im schlimmsten Fall wirklich verletzt sein, dass er sich womöglich noch über ihre Anwesenheit freuen würde. Oder sie zumindest nicht verfluchte.
Es krachte leicht, als Tom mit seinem Gegner in der Klammer auf die Matte fiel. Halb sitzend, halb auf seinem Rücken liegend, drückte er den anderen, das blutige Gesicht voran auf den Boden. Toms Arme waren dabei so unter den Ellenbogen verkeilt, und die Hände im Nacken seines Gegners zusammen gefaltet, dass dieser sich kaum noch rühren konnte. Es dauert nur ein paar Sekunden, bis er schwach mit der rechten Hand auf die Matte klopfte und Tom damit zum Sieger des Kampfes erklärte. Die Leute, und allen voran Peter und Jannik, brachen in lautes Jubeln aus. Tom ließ ihn sofort los und stand auf, während sein Gegner etwas länger brauchte, um wieder auf die Beine zu kommen. Zwei Leute seines Teams eilten bereits zu ihm und halfen ihm. Auch Peter bewegte sich zum Eingang des Oktagons, der gerade wieder geöffnet wurde, während der Referee bereits Toms Faust in die Höhe hob und das Johlen erneut anschwoll. Ari schloss sich weder Peter noch den Beifallsbekundungen an. Sie hatte keine Lust das brutale Spektakel zu feiern und Tom wollte sie eh nicht an einer Seite haben. Nachdem die Kampfrichter noch einmal Tom als Sieger des Kampfes ausrief, verließ dieser eilig das Oktagon.
Er rauschte an Peter vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Ari und Jannik standen nicht weit entfernt vom Eingang, als Tom die wenigen Stufen herunter kam und plötzlich zögerte, als er sich ihnen gegenüber sah. Ari vermutete, dass er schnurstracks und ohne Wort zurück in die Kabine wollte, doch allem Anschein nach, musste er dafür an ihr und Jannik vorbei. Jannik beugte sich näher an ihr Ohr. „Lassen wir ihn lieber in Ruhe", raunte er und war im Begriff sie zur Seite zu ziehen, während Tom wahrscheinlich überlegte einen großen Bogen um sie machen. Doch dann hielt er unvermittelt inne und sein Ausdruck verfinsterte sich noch um einige Nuancen mehr. Irgendetwas schien seine Meinung geändert haben, denn er kam überraschenderweise er genau auf sie zu. Ari wappnete sich innerlich bereits gegen die Fortsetzung seiner Zornestirade, doch nicht sie war sein Ziel, sondern Jannik. Er packte ihn grob am Schlafittchen und zog so dicht an sich ran, bis kaum noch eine Handbreit zum schneiden dicker Luft zwischen ihren Nasen war. Völlig überrumpelt wehrte Jannik sich nicht und versteifte sich nur, im Angesicht des unbändigen Zorns seines Kumpels.
„Hast du sie etwa hier her gebracht?", knurrte er ihn an. Jannik, gänzlich überfordert von der Situation, hob nur abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. Doch Tom schien es gar nicht zu bemerken. „Du kleiner Bastard mischt dich in Dinge ein, dich einen Scheiß angehen. Halt dich gefälligst fern von ihr!"
Ari klappte der Mund auf. Sie konnte nicht glauben was sie da hörte. Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein? Erst wollte sie nach Hause schicken, als wäre sie noch nicht alt und groß genug, um abends noch draußen zu sein und jetzt, sprach er ihr auch noch Reife und Befähigung ab, eigene Entscheidungen treffen zu können. Sie boxte Tom wütend gegen den Oberarm „Lass ihn los, die blöder Idiot!", fuhr sie an und versuchte seien Griff um Janniks Kragen zu lockern. Ohne große Mühe schüttelte Tom sie mit einer kraftvollen, schlenkernden Bewegung ab, die Ari ins Trudeln brachte. Etwas erschrocken stolperte sie einen Schritt zurück, als Tom Jannik kraftvoll von sich stieß und Anstalten machte, mit der Faust auszuholen. Sofort griff Ari nach seinem Arm, um ihn aufzuhalten, doch Tom war zu stark und riss sich dieses Mal mit Gewalt los. Dabei erwischte er mit dem Ellenbogen fast ihren Kopf, doch sie konnte gerade noch zurücktaumeln. Tom erstarrte sofort, als ihm bewusst wurde, was beinahe passiert wäre und sah sich einer erbleichten Ari gegenüber, die, selbst starr vor Entsetzen, ihn mit geweiteten Augen ansah. Ari wusste nicht was in ihm vorging, doch ohne ein Wort der Entschuldigung drehte Tom sich um und auf rannte davon.
Ari unterdrückte den Impuls ihm hinterherzulaufen, und wandte sich stattdessen zu Jannik um.
„Alles ok?"
Jannik nickte, immer noch völlig verwirrt. „Was war das gerade?"
„Ich habe keine Ahnung!", sagte Ari, die selbst versuchte zu begreifen, was gerade passiert war.
„Fuck!", kommentierte er und kratzte sich an der Schläfe. „Was hat er damit er gemeint, ich würde mich in irgendwas ein mischen, was mich nichts angeht?"
Ari hob hilflos die Schultern. Sie konnte sich auch keinen Reim darauf machen und wunderte sich über Toms Ausbruch, der sich gezielt gegen Jannik gerichtet hatte. Völlig verstört vom Geschehen und trotzdem erfüllt von dem Bedürfnis Tom nachzulaufen, um zu überprüfen, ob auch er okay war und zu erfahren, was um Himmels Willen gerade in ihn gefahren war, sah sie ihm unglücklich nach.
„Oh Mann, Ari. Du stehst echt total auf ihn, was?"
Ari zuckte mit den Schultern und schenkte Jannik ein schiefes, schwaches Lächeln, als würde sie um Verständnis bitten. „Ich kann einfach nicht anders", seufzte sie.