Noch 54 Minuten
Sie läuft durch die vollen Straßen der Stadt. Alleine. Möglicherweise macht es ihr aus diesem Grund nichts aus.
Möglicherweise versucht sie aus diesem Grund nicht die Menschen zu warnen. Vor dem, was auf sie zukommen wird. Würde es überhaupt etwas ändern, wenn sie es versucht? Vermutlich nicht. Sie würde es nur noch schlimmer machen. Eine Panik auslösen. Sie in Angst und Schrecken versetzen. Sollen sie denn wirklich so ihrem Ende entgegenblicken? In Angst und Panik?
Noch 50 Minuten
Sie wird plötzlich aus ihren Gedanken gerissen, als sie angerempelt wird. Als sie sich umdreht, sieht sie einen großen Mann, der sie erschrocken anblickt. Die schwarze Lockenpracht seinerseits erinnert sie an den Mann, der ihr lächelnd das Ende verkündigt hat. Der sie durch seine grasgrünen Augen intensiv angeblickt hat. Seinen Blick über ihren Körper schweifen ließ. Ihn auf Wanderschaft geschickt hat. Über ihre schlanken Beine, die in ihrer Jeans gut zur Geltung kommen, hin zu ihrem Busen, wo sein Blick etwas länger an dem V-Ausschnitt ihrer weißen Bluse hängen geblieben ist und schließlich zu ihrem Gesicht mit ihren braunen Rehaugen, die von langen braunen Locken betont werden. Sie hat mitangesehen, wie seine Zunge schnell und kurz über seine dünnen Lippen gefahren ist. Wie seine Augen, wie die eines wilden Raubtieres gefunkelt haben, welches kurz davor ist, seine Beute zu erlegen. In diesem Moment wusste sie genau, was er mit ihr in den letzten Momenten vor dem Ende tun wollte. Was er schon immer mit ihr vorgehabt hat.
Doch sie hat es beendet und ist gegangen. Hat auf sein erschrockenes Gesicht noch ein letztes Mal gesehen. Ohne das Gesicht zu verziehen, hat sie sich umgedreht und ist durch die weiße Haustür auf die volle Straße gegangen.
So wie sie es auch jetzt tut, ohne den Mann mit den schwarzen Locken noch eines Blickes zu würdigen.
Noch 48 Minuten
Sie geht weiter die volle Straße entlang und bleibt vor einer grün angestrichenen Holzbank stehen, die zu dem dahinterliegenden Park gehört und setzt sich hin. Beobachtet die Menschen, die an ihr in dem grellen Licht der Straßenlaternen vorbeilaufen. Eltern mit ihren Kindern. Teenager auf dem Weg zur nächsten Party, wo sie sich betrinken können. Menschen die gerade von der Arbeit kommen und sich auf ihr Bett freuen, dass auf sie zuhause wartet. Sie beobachtet all diese Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen hier vorbeilaufen. Sie wirken so hektisch, so laut. So lebendig.
Wie wirkt sie wohl auf diese? Wirkt sie träge, emotionslos? Wirkt sie tot?
Noch 41 Minuten
Sie steht wieder auf. Hat das Bedürfnis, etwas dagegen zu unternehmen. Sie möchte nicht so kurz vor dem Ende einfach nur dasitzen und die Menschen beobachten. Möchte sich keine Gedanken mehr über die Anderen machen. Nur über sich selbst.
Noch 40 Minuten
Sie läuft quer über den kaum beleuchteten Park. So oft ist sie hier langgelaufen. Jeden Abend, sie kennt den Weg. Und doch nimmt sie ihn erst in diesem Moment mit all ihren Sinnen wahr. Spürt den Wind, der ihr die Haare ins Gesicht weht. Riecht den Geruch der herumstehenden Bäume und des Grases. Hört den Sand unter den Absätzen ihrer schwarzen Pumps knirschen. Und sie genießt es.
Dann ist alles vorbei, als sie am Ende angekommen ist und sich vor der Kreuzung befindet, die zum riesigen Glasgebäude führt, den andere als ihr Zuhause bezeichnen würden. Doch für sie ist es das nicht. Ist es nie gewesen. Und trotzdem überquert sie die Kreuzung.
Noch 28 Minuten
Für diesen kurzen Moment, der ihnen noch bleibt – der ihr noch bleibt – möchte sie diesen Ort ihr Zuhause nennen. Möchte sie ihn genießen und zum ersten Mal nach langer Zeit wieder Freude empfinden. Sie möchte sich wieder lebendig fühlen und sich lebendig bewegen. Möchte nicht mehr an die Dinge denken, die ihr Glück vernichtet haben, ihr Lächeln gestohlen haben und sie mit Füßen getreten haben, damit sie nicht wieder hochkommt.
Doch sie wird es tun. Sie wird wieder hochkommen. Für diesen letzten Moment wird sie wieder glücklich sein. Mit diesem Gedanken geht sie durch die Tür.
Noch 24 Minuten
Statt den Fahrstuhl zu nehmen, entscheidet sie sich das letzte Mal für die Treppe und läuft die zehn Stockwerke zu ihrem Apartment nach oben. Sie bleibt vor der roten Tür mit der Nummer 108 stehen und öffnet sie mit dem dazu passenden roten Schlüssel. Sie schreitet durch den Eingang und betritt den Flur.
Noch 16 Minuten
Die Wände sind in einem kalten Weiß angestrichen, sowie auch sämtliche andere Räume.
Sie wirft ihren schwarzen Mantel im Gehen ab und erreicht ihr Schlafzimmer. Sie öffnet den begehbaren Kleiderschrank und zieht den Pappkarton aus der hintersten Ecke hervor.
Als sie das rote Abendkleid hervorholt muss sie unweigerlich an ihn denken. Sie hat es getragen, als sie ihn zum ersten Mal getroffen hat. Er hat einen Smoking getragen, der alles an seiner Gestalt richtig betont hat. Die breiten Schultern, die kräftigen Arme, sowie seinen festen Hintern. An diesem Abend hat alles gestimmt.
Ohne weiter darüber nachzudenken entkleidet sie sich und schlüpft in das rote Kleid, welches sie seit zwei Jahren nicht einmal angesehen hat.
Noch 12 Minuten
Es ist staubig und riechen tut es auch nicht mehr wie damals, doch für diesen Moment interessiert sie das nicht. Alles woran sie denkt ist er. Wie er mit einem Lächeln vor ihr gestanden und sie mit ausgestreckter Hand zum Tanzen aufgefordert hat. Damals hat sie die Hand mit einem Lächeln ergriffen.
Sie verlässt das Schlafzimmer, am Arbeitszimmer vorbei, welches noch immer die höchsten Papierstapel zieren. In ihrem alten Haus hat es genauso ausgesehen. Es ist ein altes Häuschen gewesen und hat dringend eine Renovierung gebraucht. In ihrem Arbeitszimmer sind einige Risse in den Wänden gewesen und es sind Dinge auf seltsamste Art und Weise verschwunden. Daraufhin gab er ihm den Namen Weltuntergang. Und auch wenn es jetzt eine andere Wohnung ist und auch die Wände keine Risse zieren, so hat es doch für sie den Namen behalten.
Hinter dem Weltuntergang geht es dann links weiter. Weiter in den riesigen Wohnraum, den eine riesige Glaswand ziert und sie auf die ganze lichterfrohe Stadt blicken lässt.
Noch 11 Minuten
Sie geht auf den kleinen Glastisch zu, der vor der marineblauen Couch an der rechten Wand steht, auf dem ein leeres Kristallglas neben einer vollen Kristallflasche steht. Sie gießt die goldene Flüssigkeit in das Glas und nippt daran, genießt das Brennen auf ihrer Zunge. Dann zieht sie eine bestimmte CD aus dem Regal daneben heraus und legt sie in die Musikanlage. Sie betätigt sie. Tina Turners Stimme schweift durch den Raum mit I don’t wanna loose you.
Noch 10 Minuten
Sie beginnt ihre Hüften langsam zu bewegen. Vorsichtig lässt sie ihre Füße über den Boden schweben. Die Augen hat sie geschlossen. Sie ist mit ihren Gedanken nur bei dieser Nacht. Als sie die ganze Nacht getanzt haben. Auch dieses Lied ist gespielt worden. Sie erinnert sich, als wäre es erst gestern geschehen. Sie spürt wieder seine Hand an ihrer Hüfte. Wie er sie über die Tanzfläche geführt hat. Sie durch seine meerblauen Augen lächelnd angesehen hat.
Sie bewegt sich, wie sie sich damals bewegt hat, kann seinen Geruch wahrnehmen, den festen Griff, mit dem er ihre rechte Hand festgehalten hat.
Das Lied wechselt. I wanna marry you von Bruce Springsteen erfüllt den Raum und erinnert sie an den Tag ihrer Verlobung. Sie erinnert sich an sein Lächeln, als sie Ja sagte. Und sie erinnert sich an ihr Lächeln. An das Glücksgefühl, dass sie bis tief in ihr Innerstes ausgefüllt und ihr Tränen in die Augen getrieben hat. Es ist dieser Moment, diese Erinnerung, die ihr nach über zwei Jahren wieder ein Lächeln auf die Lippen zaubert, während sie sich immer wieder dreht und die Füße auf und absetzt. Sie wünscht sich, dass dieser Moment für immer anhält. Das sie nie wieder aufhören muss, sich zu bewegen mit der Erinnerung an ihn. An den Mann, den sie liebte und verloren hat. Sie setzt das Glas, welches sie trotz allem noch in der Hand hält an ihre Lippen und nimmt einen kräftigen Schluck.
Noch drei Minuten
Doch das Lied das jetzt spielt ist anders. Sie kann sich in diesem Moment nicht einmal daran erinnern, weshalb es sich auf dieser CD befindet oder in welcher Beziehung es zu ihm steht. Und doch kennt sie es ganz genau. In der Halle des Bergkönigs von Edvard Grieg. Sie hat es oft genug in ihrem Elternhaus gehört.
Nichtsdestotrotz bewegt sie sich weiterhin im Takt der Musik, probiert dabei erneut einen Schluck des Bourbons in ihrem Kristallglas. Langsam spürt sie wie sich ein Schwindelgefühl in ihrem Kopf ausbreitet.
Sechs Schritte nach vorne, Drei wieder zurück, drei nach vorne und Drehung. Und wieder von vorne. Die Augen hat sie immer noch geschlossen. Die Musik beginnt immer schneller zu werden und so auch sie. Immer wieder nippt sie an ihrem Getränk, immer schwindeliger wird ihr. Die Melodie beginnt in einer Geschwindigkeit zu spielen, in der sie nicht mehr mithalten kann und doch versucht sie es. Sie dreht sich nur noch, die goldene Flüssigkeit beginnt über den Rand des Glases zu schwappen, auf ihre Hand und auf den Boden. Ihre braunen Locken werden zu allen Seiten geschüttelt. Die schnelle hektische Melodie treibt ihr Bilder von dem Tag ins Gedächtnis, an dem sie ihn verlor. Das Gesicht des Mannes mit den schwarzen Locken. Wie er das Messer in seiner Hand hielt. Blutbefleckt. Ein Grinsen auf den Lippen. Der röchelnde Atem ihres Liebsten, wie er verzweifelt um sein Leben kämpfte trotz der klaffenden Wunde in seinem Unterbauch. Wie sie mit tränenüberströmtem Gesicht über ihn gehockt hat, seine Hand gehalten hat, ihm gesagt hat, dass alles wieder gut wird. Es war eine Lüge. Sie hat ihren Liebsten in den letzten Sekunden seines Lebens angelogen. Und sein Mörder ist freigekommen. Hat ihre Eltern bedroht. Er ist davongekommen. Und sie wurde eingesperrt. Eingesperrt in eine volle trostlose Welt.
Eine letzte überschnellte Drehung. Das Glas fällt aus ihrer Hand als sie den Höhepunkt des Liedes erreicht. Zersplittert auf dem Boden und sie tritt immer noch auf ihren Absätzen hinein. Hört das Knirschen und kommt ins Wanken. Sie bleibt stehen, den Rücken nach hinten gebogen und beide Arme geschwungen zur Seite gestreckt. Alles dreht sich.
Sie muss lachen, kann nicht aufhören. Es ist so ironisch. Sie wollte glücklich sein. Für diesen Moment. Doch alles was sie vor dem Ende sieht ist das Gesicht des Mannes, den sie erst vor einer Stunde zum Sterben zurückgelassen hat. Mit einer klaffenden Stichwunde im Unterbauch.
Sie öffnet die Augen. Ein letztes Mal. Und sieht wie die Stadt, in der sie ihren Liebsten kennengelernt, geliebt und verloren hat, in Flammen aufgeht. Und sie mit ihr.