Kaupad war eine Stadt, die in jeder anderen Welt ihres Gleichen suchte. Manche sprachen von ihr, als sei sie ein lebendiges Wesen, ein riesiges Ungetüm, welches viel zu schnell wuchs und soviel fraß, dass es die umliegenden Dörfer bald zu verschlingen drohte. Jeden Tag atmete es tausende Händler ein und aus, egal welcher Rasse oder Herkunft. Schließlich war Kaupad nicht an ihren Geschichten interessiert; diese vermochten das Monster nicht fetter zu machen. Sein fortwährender Hunger konnte nur von einem Gut besänftigt werden, und das war Gold.
Das Herz dieser mächtigen Stadt bildete der Marktplatz Litar, wo die einfältigeren Besucher sogar Dinge kaufen konnten, die es nicht gab. Täglich setzten kleine Stände, Läden und auch Hallen den Basar wie einen Flickenteppich neu zusammen sodass keiner genau wusste, wo sich das Ende oder der Anfang befand. So verschiedenartig wie die angebotenen Waren zeigten sich auch ihre Verkäufer: An einer Stelle konnte man dicht gedrängte Holzverschläge sehen, aus deren Halbschatten grimmige Gesichter auftauchten und Vorbeiziehende so glotzäugig anstarrten, dass manch einer aus Beklemmung den dargebotenen Plunder kaufte. Etwas weiter verzauberten Straßenkünstler ihr Publikum mit inszenierten Kämpfen und Musik. Die Huldra tanzte mit solcher Hingabe, dass ein Steinriese mitten auf der Straße stehen blieb, um sie zu betrachten. Ihm vielen die verärgerten Passanten zu seinen Füßen nicht einmal auf, deren Strom er wie ein Fels geteilt hatte. Mit ihrem schönen Frauenkörper konnte eine Huldra sogar die Götter in ihren Bann ziehen und deren Gemahlinnen neidisch machen, wäre es nicht für den Kuhschwanz, welcher gelegentlich unter ihrem Rock hervor lugte.
Sie führte ihre Darbietung neben einem kleinen Geschäft auf, dessen Fenster aus verschieden großen Glasscherben zusammen gesetzt waren und in allen Farben leuchteten. Ein hölzernes Türschild verkündete in geschwungenen Buchstaben "Lina und Lyándar", etwas kleiner stand darunter geschrieben "Elfenbekleidung - Spezialisten für Verstärkung positiver Eigenschaften und zuverlässige Tarnung der Umstände bis in den achten Monat". Das Schild taumelte bedrohlich als die Tür aufschwang, die silbrigen Drähte hielten es jedoch an seinem Platz. Zwei Männer traten heraus, den Mienen nach zu urteilen schienen sie merklich unzufrieden mit sich. "Ich hab' den Kerl hier rein laufen sehen, da bin ich mir sicher!" brummte derjenige, welcher als letztes das Haus verlassen hatte und nun lustlos hinter dem Ersten her trottete. Der Andere, er war der Größere von beiden, knurrte darauf etwas Unverständliches, schien die Konversation jedoch für beendet zu halten. Er kramte in seiner Tasche und besah sich ein Dutzend Papiere, auf dessen oberster Seite das Bild eines jungen Mannes prangte. Er verglich den Steckbrief mit drei oder vier weiteren, dann drückte er dem anderen das Blatt in die Hand und stopfte den Rest wieder zurück. "Wenn du zu blind bist, einen flüchtigen Straftäter von einer schwangeren Fee zu unterscheiden, dann versuch wenigstens herauszufinden ob ihn einer der Verkäufer hier in der Gegend gesehen hat. Aber lass dich von den Zwergen nicht wieder ausnehmen, die machen auch schon für zwei Münzen den Mund auf, wenn du sie nur freundlich daran erinnerst, wer in der höheren Position steht." Wieder grollte er etwas vor sich hin, das diesmal stark nach "Habgierige kleine Biester" klang. Der Kleinere warf noch einen letzten prüfenden Blick durch das Fenster des Ladens, dann schloss er zu seinem Befehlshaber auf. Seine Stimme war nun kleinlaut und zittriger als zuvor. "Er muss hier gewesen sein. Wahrscheinlich hat er sich zwischen den Kleiderstangen versteckt und auf eine Chance gewartet, hinter unserem Rücken zu verschwinden." Er machte eine kurze Pause, fuhr dann aber wegen ausbleibender Reaktion fort. "Wir sind ihm ganz dicht auf den Fersen, diesmal entkommt er uns nicht. Außerdem haben wir das Gör, und ohne sein kleines Haustierchen geht der nirgendwo hin." Mit dem letzten Satz zog er den stechenden Blick des Bulligen auf sich; ein stummes Zeichen der Zustimmung. Als dieser wieder sprach war seine Stimme gefasster, hatte jedoch nichts an Bedrohlichkeit verloren. "Gut, du weißt was du zu tun hast. Sobald du etwas Brauchbares hörst gehst du zum Skaldenhof zurück und erstattest Bericht. Ich schaue mir in der Zwischenzeit das Südviertel genauer an. Ungeziefer gesellt sich gern." Ohne die Antwort des Hageren abzuwarten drehte er sich um und verschwand in der Menge. Unschlüssig schaute der zurück Gebliebene dem Treiben auf der Straße noch eine Weile zu, drehte sich mehrmals um die eigene Achse und entschied schließlich, die Befragung bei den Straßenmusikern zu beginnen.
Weder hatten er noch der stämmige Kerl die Gestalt bemerkt, welche das ganze Geschehen von einer Seitengasse aus beobachtet hatte. Nach wie vor behielt sie den Mann mit dem schwarzen Umhang fest im Blick, welcher dem Geiger gerade den Steckbrief unter die Nase hielt. Als dieser den Kopf schüttelte und auch die anderen Schausteller ein Wiedererkennen verneinten, schlenderte er weiter und bat an einem Stand für handgearbeitetes Messinggeschirr um Auskunft. Erst als sich ausreichend Passanten zwischen ihn und die vermummte Figur geschoben hatte traute sie sich, die Kapuze ein Stück zurück zu schieben. Darunter erschien das weiße Profil einer jungen Frau, deren schöne Züge hinter ihrer kränklichen Erscheinung verblassten. Durch den Porzellan-taint und die schmale Figur hätte man sie leicht mit einem Wesen der strahlenden Welt verwechseln können. Aber Skadi war keine Elfe oder Nymphe, wie die pergamentfarbene Haut unter ihrem viel zu großen Umhang verriet. Die helle Farbe im Gesicht half ihr, sich vor genau solchen Kerlen zu verstecken, deren Gespräch sie soeben Zeugin wurde. Außerdem war es auch für das Abwickeln ihrer Geschäfte von Vorteil, denn kein anderes Wesen wollte in der Öffentlichkeit mit einem Schatten gesehen werden, auch wenn die Beziehung rein geschäftlicher Natur war. Langsam schob sie sich aus der Gasse und folgte der Straße, stets darauf bedacht weder mit dem einen noch dem anderen Kerl die Wege zu kreuzen. Eigentlich hätte Skadi bei ihrem Anblick gleich verschwinden sollen, sie hatte unheimliches Glück gehabt dass die beiden sie nicht entdeckt hatten. Mitgliedern der Elite wäre es sofort aufgefallen, dass die dunkle Gestalt bei ihrem Anblick erstarrte und die Kapuze viel zu hastig ins Gesicht gezogen hatte. Aber Skadi war noch einmal davon gekommen und streifte nun in ihrer Verkleidung über den Markt. Sie hielt an dem ein oder anderen Stand um sich Ketten, magische Hilfsmittel oder Kostbarkeiten anzuschauen und verhielt sich so unauffällig wie möglich. Den mitternachtsblauen Mantel hatte sie vor einigen Jahren von ihrer Mutter bekommen. Er wirkte damals schon abgegriffen und wies ein paar kleinere Löcher auf, aber das Kleidungsstück leistete Skadi seither gute Dienste und mittlerweile hatte sie seinen weichen Stoff lieb gewonnen. Außerdem war er das einzige Geschenk, das sie je bekommen hatte und schon aus diesem Grund ein wertvoller Besitz.
Als sie einen Tisch mit verschiedenartigen Waffen passierte blieb sie unwillkürlich stehen, um die Messer genauer in Augenschein zu nehmen. Hinter dem Verkaufsstand saß eine kleine Frau mit Knollase und roten Haaren, die sie zu zwei langen Zöpfen gebunden hatte. Als sie Skadi bemerkte, legte sie ihre Handarbeit auf dem Schoß ab und lächelte warm. "Man sollte meinen, ein schönes Kind wie du habe mehr Interesse am feinen Schmuck und Geschmeide. Aber glaube mir, in diesen Zeiten tut jeder gut daran, sich zu rüsten. Heutzutage hat keiner mehr Respekt vor der Reinheit einer unschuldigen Maid." Sie seufzte tief, und für einen Moment wurde ihr Blick glasig, als würde sie sich an ein Leben erinnern, das seit vielen Jahren vergangen war.
Skadi nahm vorsichtig einen silbern schimmernden Dolch in die Hände, um ihn genauer zu studieren. Der Griff war aus poliertem Ebenholz gefertigt und mit kunstvollen Gravuren versehen. Er schmiegte sich in ihre Hand wie ein treues Tier, das seinen Besitzer zu schützen versprach. Trotz der schmalen Klinge machte er einen stabilen Eindruck und als hätte die Frau Skadis Gedanken erraten bestätigte sie "Das Material ist eine besondere Mischung und die Spezialität meines Mannes Utar Weißglühn. Seine Schmiedekunst ist weit über die Grenzen von Kaupad bekannt und wird von den größten Zwergenkönigen gepriesen. Dieses Messer gleitet sogar durch Stein als wäre es Wasser und trifft Dank seiner Leichtigkeit jedes Ziel." Mittlerweile hatte sie die Flechtarbeit wieder aufgenommen und erzählte wie eine stolze Großmutter von dem Können ihres Mannes und dem Ruf, der seinen Waffen voraus eilte. Aus Höflichkeit hörte Skadi ihr noch ein wenig zu und bedankte sich für die freundliche Auskunft, lehnte den Kauf aber ab. Sie hatte nicht einmal genug Gold dabei um auch nur den Schmuckstein im Griff des Messers zu bezahlen, aber vielleicht käme sie wieder, wenn sie das Geschäft zu ihren Gunsten abschließen konnte. Ihr blieb noch eine Stunde bis sie am Treffpunkt sein musste, und wenn sie Glück hatte, wäre der Dolch danach noch zu haben.
Langsam flanierte sie in Richtung des Skaldenhofes, dem berühmten Wirtshaus von Litar. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken wenn sie daran dachte, dass sich gerade Jäger dort aufhielten. Wen die Zwei von vorhin wohl suchten? Skadi überlegte kurz, ob einer ihrer Kameraden heute einen Besuch in der stummen Gasse angekündigt hatte. Als ihr keiner einfiel beschloss sie zwar vorsichtig zu sein, aber das eben Gehörte zu vergessen. Sie hatte so schon genug Probleme um die sie sich sorgen musste, da konnte sie nicht auch noch die Schutzpatronin für jeden daher gelaufenen Schatten spielen. Aber wie sollte sie es anstellen, unbemerkt durch das Gasthaus zu gelangen? Um den Marktplatz einmal zu überqueren und von der anderen Seite zu kommen war keine Zeit mehr. Aber auf die Parallelstraße würde sie nur im äußersten Notfall ausweichen, den Beinamen schwarzer Schlund trug sie schließlich nicht umsonst. Lieber stellte sie ihre Schleichkünste auf die Probe, als sich gegen eine Gruppe von Draugen zu stellen, die nichts lieber täten, als ihr das Fleisch von den Knochen zu nagen.
Unweigerlich wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Gutshof und ein Lächeln umspielte ihre Lippen als sie an Peik, den Hauswirt, dachte. Halb Riese halb Dunkelalb gab er ein Bild von einem Hünen ab dass jeder Halunke es sich zweimal überlegte, die Zeche zu prellen. Peik war bestimmt stocksauer, dass die Jäger ihm heute die halbe Kundschaft vergraulten. Für eine kleine Abfindung wäre er sicher bereit, Skadi durch seine Gemäuer zu schmuggeln. Aus irgendeinem Grund mochte er das Mädchen und schlug ihr selten eine Bitte ab, vorausgesetzt sie konnte eine Gegenleistung aufbringen. In diesen Zeiten gab es nichts umsonst.
So grübelte sie noch einige Minuten vor sich hin, bis lautes Gezeter ihre Gedankengänge nur wenige hundert Meter vor dem Skaldenhof abriss. Auf einem Platz hatte sich eine Menschentraube gebildet, in deren Mitte vier Personen miteinander rangen. Sie hatte eine schlechte Vorahnung, ignorierte jedoch die Beklemmung um ihren Brustkorb und näherte sich der Menge. Drei der Personen konnte sie als Jäger ausmachen, auf deren schwarzen Kutten ein rotes Zeichen brannte. Einer schien sich aus der Rangelei raushalten zu wollen und blickte mit verschränkten Armen in Richtung des Gasthofes. Der Größte von ihnen hielt einen zappelnden Jungen, Skadi schätzte ihn auf zwölf oder dreizehn Jahre, fest am Schlafittchen gepackt und brüllte den Dritten an, dessen Gesicht schmerz verzehrt war "Sowas wie du will ein Jäger sein? Lässt sich von dem kleinen Scheusal beißen und ihn obendrein noch entkommen! Du bist eine Schande für unsere Gilde, dir hätte ich statt dem Balg eins überziehen sollen!" Skadi erkannte die kehlige, Zorn erfüllte Stimme des Jägers, der vorhin schon nach den Schatten gesucht hatte. Offensichtlich hatte ihn Wichtigeres davon abgehalten, den südlichen Bezirk zu filzen. Die Enge um ihren Brustkorb zog sich bei seinem Anblick noch fester zu, sodass ihre Atmung zu zittern begann.
Der Angesprochene, ein wimmerndes Häufchen Elend, suchte verzweifelt nach den richtigen Worten um die Situation zu erklären, brachte aber nicht mehr als ein sinnloses Gestammel heraus. Das erzürnte den bulligen Kerl nur noch mehr und mit jedem Satz nahm seine Gesichtsfarbe ein dunkleres Rot an "Jemandem wie dir gehört der nötige Verstand eingeprügelt! Vielleicht sollten wir dich einpaar Tage mit in ihre Zelle sperren, damit sie dich daran erinnern, wieso wir dieses Pack in das Loch zurück werfen, aus dem sie gekrochen sind. Oder entwickelst du plötzlich Mitgefühl für Abschaum und dergleichen?" Die letzten Worte waren nicht mehr als ein gefährliches Zischen, das Gänsehaut über Skadis Arme jagte. Der Kerl sah aus wie eine riesige, verbeulte Schlange; die kräftigen Arme waren um den Hals des Kindes geschlungen und zogen sich auf grauenhaft langsame Weise immer fester zu. Unter dem hilflosen Stottern des Angeklagten versuchte der Junge sich mit allen Mitteln aus dem Klammergriff zu befreien und schnappte verzweifelt nach Luft. Eigentlich sollte Skadi schon längst nicht mehr hier sein, sie hätte den Aufruhr nutzen können um unbemerkt in das Wirtshaus zu gelangen. Doch der gebrochene Blick des Jungen aus einem Gesicht, dass größten Teils von einem Spinnennetz aus schwarzen Linien überzogen war ließ ihre Beine zu Eis erstarren. Verschiedene Gedanken verursachten einen heftigen Sturm in ihrem Inneren und jede Sehne ihres Körpers war zum Zerreißen gespannt. Wie ein Panther lauerten ihre Muskeln, warteten nur auf ein Zeichen, bereit jede Sekunde zu fliehen, oder zu zu schlagen. Das Pochen ihrer Schläfen vernebelte alle Sinne. Noch einmal sog der Junge mit einem rasselnden Geräusch die Luft ein, was Skadis Trommelfell zu zerreißen drohte.