"Wohin gehen wir?", fragte Suma gestresst. Die vermummte Frau hatte ihn am Arm gepackt und er war ihr durch den Park bis zum Bahnhof, an dem sie gestern zum Meer hätten fahren sollen, gefolgt.
"Wir müssen deine Erinnerungen zusammensetzen!", erklärte sie, ohne ihr Tempo zu verlangsamen.
Die Bahnhofshalle vor den Gleisen war wie erwartet leer. Nichts deutete darauf hin, dass sie auch nur einem Menschen begegnen würden. Der helle Steinboden glänzte und war perfekt sauber, als hätte ihn noch nie jemand betreten. Die Säulen waren frei von Plakaten, kein Fahrplan war zu sehen. Auch ein Ticketschalter oder Ähnliches fehlte. Dieser Ort schien das genaue Gegenteil der Firma zu sein: zu hell, zu warm und zu schön, um wahr zu sein.
"Wer bist du?", fragte Suma weiter, immer noch verwirrt und mittlerweile nicht mehr sicher, ob er ihr trauen sollte. Sie schien genau zu wissen, wo die Reise hingehen sollte, schien gewusst zu haben, dass er in den Park kommen würde. Sie hatte auf ihn gewartet, vielleicht entsprang sie nur seiner Fantasie und war nicht real. Er dachte an die Worte seines Spiegelbilds, ob dieser Ort für ihn real wirken würde. Nein, das tat er nicht, wie auch die Menschen, denen er hier begegnete.
Die Frau hielt endlich an, schaute sich kurz um und beschloss seine Frage einfach zu ignorieren: "Du musst springen. Schnell, dann sind wir sicher, dann können wir reden!"
Suma starrte sie verstört an: "Auf die Gleise?"
Die Frau nickte: "Denk daran, nichts, was du hier siehst, ist real!"
Suma überlegte kurz. Einen Sprung runter auf die Schienen eines Zuges würde er als total verrückt einordnen, aber er zweifelte bereits an allem, also sprang er und fiel. Fiel weiter als gedacht, er schien durch die Schienen zu fallen. Unsanft landete er auf einem alten Holzboden und als er sich umsah, erkannte er das Zimmer wieder. Den Schreibtisch und das Buch, welches am Boden lag.
"Verdammt!" die vermummte Frau sah sich erschrocken um, "Wir kommen zu spät. Sie haben sie gefunden!"
Suma richtete sich auf: "Eva? Sie haben Eva gefunden? Wer sind sie? Und was wollen sie von ihr?"
Die Frau zog nun ihre Kapuze zurück. Langes braunes Haar kam zum Vorschein, sowie klare blaue Augen. Ihre Haut war totenblass, ihr Gesicht schmal und mit beinah elfischen Zügen.
"Erkennst du mich?", frage sie streng, ohne auf seine Fragen einzugehen. Suma starrte sie an. Ein Name war in seinem Kopf, jedoch ohne einen Zusammenhang.
"Newra", sagte er leise.
"Du kennst also schon mal meinen Namen. Das ist mehr, als ich angesichts deines Zustandes erwartet hatte!", sie lächelte, "Es ist also doch noch etwas von deinem Gehirn übrig, gratuliere!"
Suma war verwirrt, denn die Frau schien genau zu wissen, wer er war. Aber sie gab ihm keine Antworten, stellte nur Fragen und gab Anweisungen.
"Du musst mir jetzt zuhören: Ich öffne dir ein Portal und wenn du hindurchgehst, wirst du die Wahrheit über Finn erfahren!", Newra strich mit ihrer Hand über das Fenster neben dem Schreibtisch. Das Licht schien nun nicht mehr durchdringen zu können und warf eigenartige Spiegelungen in den Raum.
"Ich kann dich nicht begleiten", erklärte sie, "Dass musst du alleine schaffen, geh jetzt! Evas Seele ist verdammt, aber es gibt noch Hoffnung!"
Suma starrte verwirrt auf das Fenster. Er schien nichts als Verwirrung zu erfahren in den letzten Tagen. Nichts schien mehr real zu sein, alles mit Wasser unterlegt. Sein Leben schwamm träge auf einen Strom aus Lügen und Illusionen dahin, ohne, dass er darauf einen Einfluss nehmen konnte.
Ein Bild schoss ihm durch den Kopf. Er saß an einer großen Tafel aus dunklem Holz, welche reich mit Speisen gedeckt war. Neben ihm saß eine wunderschöne Blondine, ihr seidig glänzendes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und fiel ihr über den Rücken bis hin zum Becken. Sie lachte und auch die Frau neben ihr, welche ihr sehr ähnlich sah, nur trug sie rötliches Haar, welches ihr bis zu den Schultern reichte, lächelte und erhob ihr Glas. Nun konnte er auch die dritte erkennen: Newra. Alle trugen die schwarzen Mäntel, einheitlich und bereit sich vor unliebsamen Blicken zu verhüllen.
"Meine Jägerinnen!", hörte er sich selbst sagen, woraufhin die drei ihm applaudierten. Die ausgelassene Stimmung wirkte ansteckend auf ihn, spülte ein wenig Verwirrung und nicht zuletzt Unsicherheit fort. Ein junges Mädchen erschien an der Tischkante und lugte zu der großen Schüssel mit Götterspeise. Suma überkam ein eigenartiges Gefühl der Wärme und Fürsorge als er sie ansah, ihr schwarzes Haar war zerzaust und ihre türkisen Augen blitzten voller Leben. Sie hatte einen Kratzer auf der Wange und war barfuß auf dem kalten Steinboden unterwegs. Er stand auf, um über ihre Wange zu streicheln. Sie lächelte selig.
"Träume süß, meine kleine Königin!"
"Ich möchte nicht so genannt werden"
"Aber das ist deine Bestimmung!"
"Das klingt langweilig. Werde du doch König, dann kann ich weiter Spaß haben!"
"Jeder hat seine Bestimmung!"
"Ach, ich weiß! Aber du passt doch auf mich auf, oder?"
"Natürlich, das werde ich immer tun!"
"Bitte geh nicht mehr fort!"
"Du weißt, dass ich muss, meine Liebe. Es geht nicht anders."
"Aber ich vermisse dich, wenn du auf Reisen bist!"
"Ich muss dich nicht vermissen, ich trage dich immer im Herzen!"
"Wie kann man jemanden im Herzen tragen?"
"Dir gehört mein Herz, kleine Schwester, also habe ich dich immer bei mir! Schlaf jetzt!"
"Versprich mir, dass du immer wieder zurückkommen wirst!"
"Natürlich, versprochen!"
"Du beginnst dich bereits zu erinnern!", stellte Newra lächelnd fest.
Suma war zurück, wieder vor dem Fenster, durch welches er wahrscheinlich springen sollte. "Julopatra, Kyra und Newra!", die Namen waren einfach da, sie schienen klar und präsent zu sein, und verbreiteten Freude in Suma. Newra zwinkerte ihm zu: "Die ersten Jäger!"
Suma konnte seinen Gedanken kaum bändigen. Wörter und Bilder schossen durch seinen Geist. Vieles noch unklar und verschwommen, anderes klar und deutlich: "Elensars Wacht, am Rande des schwarzen Throns, verborgen vor aller Augen ..." "... sind wir die Augen der Welt, die Hüter im Verborgenen, die Retter aller Welten und die Vergeltung des weißen Throns!", vervollständigte Newra den Satz. Suma konnte einfach weitermachen: "Die Jäger, die Beschützer der Königin und Wächter der dunklen Artefakte! Wir schwören feierlich Finn zu dienen und geloben ihm unsere Treue! Wir beschützen die Königin des weißen Throns mit unseren Leben. Wir opfern alles für die Königin, vom heutigen Tag bis in alle Ewigkeit!" Suma fühlte sich vollständiger, als je zuvor. Er schien Teil etwas Größeren gewesen zu sein, einer Art geheimer Königsgarde. Darum ging es bei der Jagd. Man jagte nach dem Bösen selbst, um es zu vertreiben und diese weiße Königin zu beschützen.
Aber wie sollte da der Dunkle, welcher ihm mit seinem düsteren Flüstern verkündet hatte, dass er sein Erbe wäre, in diesen Schwur passen. Eine Lüge? Oder eine bittere Wahrheit. War er am Ende nur ein Spion des Dunklen unter dieser Königsgarde? Ein Schläfer, bereit sie zu vernichten, wenn der Tag X gekommen war? Die Saat des Bösen selbst mit der Bestimmung, die weiße Königin zu vernichten, um selbst als der Dunkle den schwarzen Thron zu besteigen? Dann waren da noch die Verstoßenen und diese eigenartigen Dämonen, die er bei der Firma gesehen hatte. Wie passten sie in das Bild? Suma hatte noch zu viele offene Fragen und wenn Finn ihm nur ein paar davon beantworten könnte, wäre das schon hilfreich. Finn hatte ihn in dieser Garde aufgenommen. Er musste also wissen warum. Außerdem wollte er wissen, wer er war. Für so einen wichtigen Posten nahm man niemanden, dem man am Ende vielleicht doch nicht trauen konnte. Entschlossenheit machte sich in ihm breit: "Ich gehe durch das Portal!"
Newra lachte: "Daran habe ich nie gezweifelt! Nur an deinem Verstand, nicht an dir als Person! Und an deinem Verstand hat jeder, der dich kennt, schon einmal gezweifelt, falls dich das beruhigt."
Suma lächelte, das hatte er selbst schließlich auch oft genug getan. Außerdem tat es gut, mit jemandem zu sprechen, der anscheinend genau wusste, wer er war. Dann nickte er ihr zu: "Danke Newra, ich hoffe wir sehen uns wieder!"
Newra winkte ihm zum Abschied: "Mit Sicherheit, viel Glück!"
Suma sprang gegen das Fenster. Wie erwartet stieß er dabei auf keinen Widerstand und fiel einfach. Immer weiter durch tiefste Dunkelheit, aber diesmal fürchtete er sich nicht vor dem, was ihn erwartete. Er hatte schon so vieles gesehen, die Verstoßenen, Dämonen und andere Monster. Ein weiterer Aufenthalt in einer dieser Traumwelten würde ihm nichts mehr anhaben können. Vielleicht verbarg sich hinter diesem Sturz ins Nichts die Antwort auf all seine Fragen. Außerdem musste er Evas Seele retten, auch wenn sie, wie der Dunkle sagte, eine Hexe war. Er spürte, dass das Band, welches die beiden vor seiner Ankunft in der Firma hatten, etwas Besonderes gewesen war. Er war es Eva schuldig die Antworten und ihre gefangene Seele zu finden.
Die Landung war anders als sonst: sanft und direkt auf den Beinen, als wäre er federleicht. Er stand auf einem Plateau, weit über den Wolken und die Sonne strahlte. Er entdeckte einen riesigen weißen Tiger, welcher am Rand des Plateaus die Sonne zu genießen schien und einen goldenen Fuchs, welcher eifrig mit der Pflege seines strahlenden Fells beschäftigt war.
Ihm gegenüber erschien sein Spiegelbild, wieder in den grauen Mantel gehüllt und in denselben schwarzen Stiefeln. Seine türkisenen Augen blitzten und erinnerten Suma an das Mädchen. Sie musste seine Schwester sein. Folglich war Finn der Prinz des weißen Throns und das kleine Mädchen sollte zur weißen Königin werden.
Langsam schloss sich der Kreis für ihn. Möglicherweise war er in irgendeiner Form mit Finn verwandt, woher sonst die Ähnlichkeit? Und warum sonst hätte der genau Suma auswählen sollen, um nach Nirgendwo zu reisen.
"Du hast mich endlich gefunden!", sagte sein Spiegelbild und lächelte ihn an.
Suma sah sich um. Er und sein Doppelgänger standen direkt im Nichts.
"Du bist Finn?", fragte Suma, immer noch gebannt von den beiden Tieren, die so mächtig und doch friedvoll wirkten.
"Ich bin Finn", nickte dieser, "Willkommen am Ort Nirgendwo! Du hast mich endlich gefunden. Nun wird es Zeit zu sterben!"